Aufruf: Mit der griechischen Linken für ein demokratisches Europa

Jede/r weiß, dass die Parteien, die in Griechenland seit 1974 an der Macht gewesen sind, in der Kette der Ereignisse, die Griechenland in den letzten drei Jahren so tief in den Abgrund gestürzt haben, eine niederschmetternde Verantwortung tragen. Die rechte Nea Dimokratia und die sozialdemokratische PASOK haben nicht nur die Korruption und die Privilegien fortgesetzt und auf Dauer gestellt, sie haben selbst davon profitiert und dafür gesorgt, dass die Lieferanten und die Gläubiger Griechenlands dadurch in großem Maßstab begünstigt wurden, während die Institutionen der EU einfach wegschauten.
Man könnte sich ja unter diesen Voraussetzungen heute wundern, dass sich die führenden europäischen Kräfte oder auch der IWF, die sich inzwischen zu Vorbildern und Vorkämpfern der Tugend und der Strenge stilisiert haben, inzwischen große Mühe geben, eben diese bankrotten und verächtlichen Parteien wieder an die Macht zu bringen, indem sie vor der „roten Gefahr“ warnen, wie sie angeblich von SYRIZA (dem Parteienbündnis der radikalen Linken) verkörpert wird, und indem die damit drohen, die zum Leben nötige Versorgung abzubrechen, falls die Neuwahlen des 17. Juni die Ablehnung des „Memorandums“ bestätigen, wie sie am 6. Mai schon deutlich geworden war. Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten steht nicht nur in offenem Widerspruch zu den elementarsten Regeln der Demokratie, sie hätte auch dramatische Konsequenzen für unsere gemeinsame Zukunft.
Das allein wäre bereits ein hinreichender Grund für uns als BürgerInnen Europas, uns dem zu verweigern, dass der Wille des griechischen Volkes erstickt wird. Aber es gibt auch Gründe, die noch schwerer wiegen. Seit zwei Jahren arbeiten die führenden Kräfte der Europäischen Union – in enger Abstimmung mit dem IWF – daran, dem griechischen Volk den Besitz seiner Souveränität zu nehmen. Unter dem Vorwand, die öffentlichen Finanzen zu sanieren und die Wirtschaft zu modernisieren, setzen sie eine drakonische Austerität durch, durch die jede wirtschaftliche Aktivität erstickt, die Mehrheit der Bevölkerung zur Verelendung verdammt und das Recht auf Arbeit beseitigt wird. Dieses „Konsolidierungs“-Programm neoliberaler Machart führt unter dem Strich zur Liquidierung des produktiven Apparates und zur Massenerwerbslosigkeit. Um dieses Programm durchzusetzen ist nichts weniger erforderlich gewesen als ein Ausnahmezustand, wie ihn Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat: der Staatshaushalt wird von der Troika diktiert, das griechische Parlament zu einer Notariatskammer reduziert und die Verfassung wird mehrfach umgangen. Der Niedergang des Prinzips der Volkssouveränität geht dabei Hand in Hand mit der Erniedrigung eines ganzen Landes. Nun erreicht dieser Prozess gewiss in Griechenland seine Höhepunkte, aber es geht nicht ausschließlich um Griechenland. Denn die Europäische Union behandelt alle Völker der sie bildenden Nationen als bloße Manövriermasse, wenn es darum geht, eine Austeritätspolitik durchzusetzen, die jeder ökonomischen Rationalität zuwiderläuft, oder auch darum, die Eingriffe des IWF oder der EZB zugunsten des Bankensystems miteinander zu kombinieren bzw. Regierungsbildungen durch nicht-gewählte Technokraten durchzusetzen .
Schon mehrfach haben die GriechInnen uns wissen lassen, dass sie gegen diese Politik sind, die ihr Land zerstört, indem sie es zu retten vorgibt. Durch zahllose Massendemonstrationen, 17 Tage Generalstreik in zwei Jahren, durch Aktionen zivilen Ungehorsams oder auch das Auftreten der Empörten vom Syntagma-Platz haben sie uns zu verstehen gegeben, dass sie sich weigern, das ihnen ohne jede Konsultation auferlegte Geschick zu akzeptieren. Das war eine Stimme der Verzweiflung und der Rebellion – und welche Antwort hat man ihr gegeben? Die Verdopplung der ohnehin schon tödlichen Dosis und die Repression durch die Polizei! Von dem Moment an – in einer Lage des vollständigen Legitimitätsverlusts der Regierenden – erschien die Rückkehr zu den Wahlurnen als das einzig noch verfügbare Mittel, um eine gesellschaftliche Explosion zu vermeiden.
Aber die Sachlage ist inzwischen sehr klar geworden: Die Wahlergebnisse des 6. Mai lassen keinen Zweifel mehr darüber zu, dass die von der Troika durchgesetzte Politik ganz breit abgelehnt wird. Und angesichts der Perspektive eines erwarteten Sieges von SYRIZA bei den Wahlen vom 17. Juni ist jetzt eine richtiggehende Desinformationskampagne losgetreten worden, sowohl im Inneren des Landes, als auch auf der europäischen Ebene. Sie verfolgt das Ziel, SYRIZA aus dem Kreis der vertrauenswürdigen politischen Gesprächspartner auszugrenzen. Alle Mittel werden bemüht, um SYRIZA zu disqualifizieren – was mit der Etikettierung als „extremistisch“ und der Parallelisierung mit den Neo-Nazis von der Goldenen Morgenröte beginnt. Alle Fehler und Mängel werden SYRIZA zugeschrieben: Betrug und Doppelzüngigkeit, Verantwortungslosigkeit und eine infantile Forderungsmentalität. Wenn man dieser hasserfüllten Propaganda Glauben schenken würde, die sich an die rassistische Stigmatisierung des griechischen Volkes anschließt, dann würde SYRIZA die Freiheitsrechte, die Weltwirtschaft und die europäische Integration gefährden. Und die griechischen WählerInnen und unsere führenden Kräfte hätten die gemeinsame Verantwortung, SYRIZA wirksam in den Weg zu treten. Durch die Drohung mit dem Ausschluss aus dem Euro und anderen wirtschaftlichen Erpressungsmanövern wird eine Manipulation des Wahlverhaltens eines Volkes in Gang gesetzt. Durch eine richtiggehende „Schock-Strategie“ bemühen sich die herrschenden Gruppen darum, das Wahlverhalten des griechischen Volkes gemäß ihren eigenen Interessen umzulenken, von denen sie zugleich behaupten, dass sie auch unsere Interessen seien.
Die UnterzeichnerInnen dieses Aufrufs sind nicht mehr dazu bereit, im Angesicht dieses Versuchs, einem europäischen Volk den Besitz seiner Souveränität zu nehmen, weiter zu schweigen. Wir fordern, dass die Stigmatisierungskampagne gegen SYRIZA sofort eingestellt wird und ebenso die Erpressungsversuche mit einem Ausschluss aus der Eurozone. Das griechische Volk muss über sein Schicksal selber entscheiden, unter Zurückweisung jedes Diktats. Es muss sich, unter Zurückweisung der giftigen „Medizinen“, welche ihm seine angeblichen „Retter“ verabreichen, ganz frei die Kooperationsbeziehungen mit den anderen Völkern Europas aufnehmen, die zur Überwindung der Krise nötig sind.
Wir treten unsererseits dafür ein, dass es an der Zeit ist, dass Europa das Signal wahrnimmt, das es am 6. Mai von Athen empfangen hat. Es ist an der Zeit, eine Politik hinter sich zu lassen, die – bloß um die Banken zu retten – die Gesellschaft ruiniert und die Völker unter Vormundschaft stellt. Es ist dringlich geworden, dem selbstmörderischen Abgleiten einer gesamten politischen und ökonomischen Konstruktion Einhalt zu gebieten, durch das die Regierung den Experten übertragen und die Allmacht der Finanzoperateure institutionalisiert wurde. Ein Europa ist nötig, das das Werk seiner BürgerInnen selber ist und das im Dienst ihrer Interessen steht.
Dieses neue Europa, wie wir es uns – genau wie die demokratischen Kräfte, wie sie gegenwärtig in Griechenland entstehen – so dringlich wünschen und für das wir bereit sind zu kämpfen, wird ein Europa aller seiner Völker sein. In jedem Land stehen sich heute zwei Arten von Europa gegenüber, die politische und moralische Antithesen verkörpern: Ein Europa der Enteignung menschlicher Wesen zugunsten des Profits der Bankeigentümer und ein Europa, das für das Recht aller auf ein Leben eintritt, das diesen Namen verdient, und das sich kollektiv auch die Mittel dafür verschafft. Mit den WählerInnen, den Mitgliedern und der Führung von SYRIZA wollen wir keineswegs, dass Europa verschwindet, sondern dass es neu gegründet wird. Der Ultraliberalismus ist dafür verantwortlich, dass die Nationalismen zunehmen und die extreme Rechte Zulauf hat. Die wahren RetterInnen der europäischen Idee sind alle diejenigen, die dafür eintreten, dass sich Europa öffnet und die BürgerInnen sich beteiligen können, die ein Europa vertreten, in dem die Volkssouveränität nicht abgeschafft, sondern ausgeweitet und für die Teilnahme geöffnet wird. 
Ja, ganz klar: In Athen geht es jetzt um die Zukunft der Demokratie in Europa und um Europa selber. Aufgrund einer ganz erstaunlichen Ironie der Geschichte stehen heute die verarmten und stigmatisierten GriechInnen in der ersten Reihe unseres Kampfes für eine gemeinsame Zukunft. 
Hören wir auf sie, unterstützen wir sie und verteidigen wir sie!

Hier klicken um die Onlinepetition zu unterzeichnen

ErstunterzeichnerInnen:
Etienne BALIBAR, PhilosophVicky SKOUMBI, Chefredakteurin der Zeitschrift aletheia (Athen)Michel VAKALOULIS, Philosoph und Soziologe
  
Der Aufruf ist bereits von mehr als 120 Persönlichkeiten unterzeichnet worden, darunter:
Giorgio AGAMBEN, Tariq ALI, Elmar ALTVATER, Daniel ALVARO, Alain BADIOU, Jean-Christophe BAILLY, Fethi BENSLAMA, Fernanda BERNARDO, Jacques BIDET, Claude CALAME, Thomas COUTROT, Albano CORDEIRO, Yannick COURTEL, Costas DOUZINAS, Roland ERNE, Roberto ESPOSITO, Nancy FRASER, Elisabeth GAUTHIER, François GEZE,  Max GRATADOUR, Jean-Pierre KAHANE, Jean-Marc LEVY-LEBLOND, Michael LOEWY, Philippe MANGEOT, Philippe MARLIERE, Ariane MNOUCHKINE, Warren MONTAG, Jean-Luc NANCY, Toni NEGRI, Bertrand OGILVIE, Ernest PIGNON-ERNEST, Mathieu POTTE-BONNEVILLE, Jacques RANCIERE, Judith REVEL, Rossana ROSSANDA, Bernard STIEGLER, Michel SURYA, Bruno TACKELS, André TOSEL, Gilberte TSAÏ, Eleni VARIKAS, Dimitris VERGETIS, Jérôme VIDAL, Heinz WISMANN und Frieder Otto WOLF.

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