Am 17. und 18. Mai 2012 wurde im Rahmen des Subversiven Forums in Zagreb das erste Balkan-Forum veranstaltet. Dort trafen sich an die vierzig emanzipatorische Gruppierungen und Bewegungen aus der Region, um folgende Themen zu diskutieren: Soziale Gerechtigkeit, Widerstand gegen den Neoliberalismus, wirtschaftliche Beziehungen, Deindustrialisierung und Kämpfe der Arbeitenden sowie die Krise der repräsentativen Demokratie und die Notwendigkeit tiefgreifender Demokratisierung der Gesellschaften des Balkans.
Soziale Gerechtigkeit
Der „postsozialistische” Übergang hin zu einer freien Marktwirtschaft zeichnete sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch die verheerenden Wirkungen neoliberaler Politik aus. Erst kürzlich erfasste angesichts dieses Zustands eine Streikwelle den Balkan. Die ersten Proteste fanden in Rumänien statt, weitere folgten in Kroatien, Slowenien und Montenegro. Allerdings finden diese sozialen Proteste noch isoliert voneinander statt. Es fehlt ein gemeinsames Narrativ. Auf dem Balkan-Forum wurde bekräftigt, dass die jeweiligen sozialen Proteste eine gemeinsame Grundlage haben und dass emanzipatorische Gruppierungen und Linke auf dem ganzen Balkan sich solidarisieren und gemeinsam agieren müssen. Die aktuellen sozialen Kämpfe müssen sich den künstlichen Grenzen innerhalb der Balkanregion verweigern, unabhängig davon, ob es sich um Grenzen zwischen dem „östlichen” und dem „westlichen” Balkan handelt, oder um solche zwischen EU-Mitgliedsstaaten, EU-Kandidaten und unter internationaler Aufsicht stehender UN-(Semi-)Protektorate. Gleichzeitig müssen Themen wie die Einhaltung der Menschenrechte, Antinationalismus und Antifaschismus, der Schutz von Minderheitenrechten und Geschlechtergerechtigkeit integrale Bestandteile einer umfassenden linken Agenda bleiben.
Widerstand
Der Euro-Integrationsprozess wurde von lokalpolitischen Akteur_innen als Vorwand für weitere neoliberale Reformen benutzt und wurde von Brüssel im Namen des Aufbaus der freien Marktwirtschaft unter Ausklammerung staatlicher oder öffentlicher Eingriffe unterstützt.
Der Organisation eines erfolgreichen Widerstandes steht in vielen Ländern des Balkans immer noch ein ausgeprägter Nationalismus im Weg, sowohl konservative und diskriminierende Ideologie als auch als mobilisierende Kraft. Im Alltag beobachten wir einen grassierenden Geschichtsrevisionismus, den Zuwachs faschistischer Gruppierungen und offen rassistisch ausgetragene Diskurse gegen ethnische Minderheiten, vor allem gegen Roma.
Dennoch können wir überall auf dem Balkan eine Protestbewegung von unten ausmachen. Die neuen Widerstandsbewegungen streben eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse an und greifen den herrschenden öffentlichen und medialen Diskurs an. Ausschlaggebend für ihren möglichen Erfolg wird sein, dass diese Bewegungen zusammenarbeiten.
Die "Commons"
Privatisierungen, die Erschließung und der Ausverkauf des öffentlichen Wassersystems, der öffentlichen Einrichtungen, des Gesundheits- und Bildungssystems, der Landwirtschaft, des öffentlichen Raumes und der natürlichen Ressourcen gefährden menschliche Existenzen und die Umwelt. Mit seinen nicht auf Eigentum abzielenden Ressourcen, seiner Verwaltung durch ein Kollektiv und der Schaffung neuer sozialer Organisationsformen eröffnet das Konzept der Commons neue Perspektiven und motiviert neue Formen der Mobilisierung, wodurch auf einen Handlungsraum jenseits der Dichotomie von Staat und Markt verwiesen wird. Ziel ist die (neuerliche) Vergesellschaftung von Diensten und Ressourcen für die und durch die Öffentlichkeit, wobei das Ziel sowohl in sozialer Gerechtigkeit als auch in Nachhaltigkeit besteht.
Arbeiter_innenkämpfe
Eine Folge der Privatisierungen ist die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Das Modell der Zeitarbeit setzt sich auf dem Arbeitsmarkt immer weiter durch. Vor allem Frauen finden sich aufgrund ihrer doppelten Unterdrückung immer wieder in einer schwierigen Lage. Solidarität unter den Gewerkschaften, Organisationen, unabhängigen Akteur_innen, Zeitarbeiter_innen und Erwerbslosen scheint wichtiger als jemals zuvor.
In der Unternehmensbeteiligung der Arbeitenden, in der Selbstverwaltung ihrer Arbeitsplätze (z.B. Jugoremedija in Serbien) oder in dem gegen die Privatisierung gerichteten Druck, der zu Partner_innenschaften zwischen dem Staat (als Hauptanteilseigner) und der Arbeitenden als am Produktions- und Verwaltungsprozess Beteiligten (wie z.B. bei Petrokemija in Kroatien) geführt hat, können wir unterschiedliche erfolgreiche Modelle von Kämpfen der Arbeitenden gegen Deindustriali-sierung und Privatisierungen sehen.
Themen wie Besitzverhältnisse und demokratische Verwaltung liegen wieder auf dem Tisch als wichtige Fragen für unsere Zukunft.
Demokratie
Die Frage nach Demokratie, ihrer Bedeutung und ihren Erscheinungsformen muss ebenfalls überall auf dem Balkan auf der Agenda stehen. Das in den letzten 20 Jahren in den postsozialistischen Balkanstaaten eingeführte Modell der parlamentarischen Demokratie entpuppte sich als korrupte Parteienherrschaft und ungebrochene Herrschaft der politischen und wirtschaftlichen Oligarchien.
Die Erfahrung der aufbegehrenden Student_innen in Kroatien, Serbien, Slowenien und Bosnien ist ein wertvolles Beispiel für Selbstverwaltung und politisches Handeln, anhand dessen wir die Neuknüpfung sozialer Bezüge und das Erstarken von Solidarität sehen können. Verschiedene radikaldemokratische Methoden erzeugen neue politische Subjektivitäten und sind als solche zu unterstützen. Der einschließende Charakter dieser Modelle und die Ablehnung der Herrschaft einfacher Mehrheiten fördern den breiten Einschluss nicht nur von Bürger_innen, sondern auch von Angehörigen von Minderheitengruppen wie z.B. von LGBTs, Roma, Migrant_innen, Volksgruppen usw. Das Balkan-Forum unterstreicht die Tatsache, dass eine der wichtigsten Frontlinien im Kampf um Demokratie die stärker werdende Partizipation in Wirtschaft, Industrie und am Arbeitsplatz ist. Es kann keine echte Demokratie in den Sphären von Politik und Gesellschaft geben, wenn es keine Mitbestimmung am Arbeitsplatz gibt. Anders gesagt: Echte Demokratie ist nicht möglich ohne die Entwicklung von Demokratiemodellen in Wirtschaft und Industrie.
Das Balkan-Forum sieht radikaldemokratische Praxen als alternative und anwendbare Modelle, die als dringend notwendiges Korrektiv und Gegengewicht zum herrschenden Modell der repräsentativen, elektoralen Demokratie, die von einer Legitimitätskrise erfasst ist, dienen können. Zum jetzigen historischen Zeitpunkt sollten die politischen Kräfte der Linken Modelle ins Auge fassen, in denen sich demokratischer Druck von unten und die Unabhängigkeit horizontal organisierter Bewegungen und Akteur_innen mit der Nutzbarmachung bestehender Strukturen des derzeitigen Stellvertreter_innensystems verbinden.
Vom 12. bis zum 18. Mai 2013 wird in Zagreb das Zweite Balkan-Forum stattfinden. Dort sollen konkrete Antworten und Strategien ausgearbeitet werden, um die in diesem Text besprochenen Themen in Angriff zu nehmen.