Austromarxismus jenseits linker Melancholie

Walter Baier über Austromarxismus bei der internationalen Konferenz „Linke Alternativen im 20. Jahrhundert: Ideendrama und persönliche Geschichten“ in Moskau.

Vor mehr als einem Jahrhundert bezeichneten sich die Sozialdemokrat_innen in Österreich deshalb als „Sozialdemokrat_innen“, weil sie eine neue Gesellschaft verwirklichen wollten: einen „Sozialismus“ mit demokratischen Mitteln. Zur Zeit ihres intellektuellen Zenits begründeten sie eine Schule der marxistischen Theorie, den Austromarxismus. Sein bedeutendster Vertreter, Otto Bauer, übernahm nach dem Ersten Weltkrieg den Parteivorsitz.  

Wenn es um revolutionären Marxismus in Europa geht, werden in der Regel zwei Traditionen angesprochen: eine östliche Tradition, die nach Lenin und Trotzki ausgerichtet ist, und eine westliche, die auf Luxemburg und Gramsci zurückgeht. Doch auch die mitteleuropäische Tradition wäre hier durchaus erwähnenswert, ist sie doch nicht weniger ausgereift oder reichhaltig, wenngleich zu wenig bekannt. Ihre erste historische Manifestation war der Austromarxismus. In einem 1927 verfassten Leitartikel für die Arbeiterzeitung, die Zeitung der Sozialdemokratischen Partei, beschrieb ihn Otto Bauer in einer kurzen Darstellung wie folgt:

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich ‚Austromarxisten‘ als Bezeichnung für eine Gruppe jüngerer, wissenschaftlich tätiger österreichischer Genossen eingebürgert: Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer, Friedrich Adler und einige andere.

Was sie einte, war nicht etwa eine spezifische politische Richtung, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Zudem waren sie von Kant und Mach inspiriert. Andererseits besuchten sie österreichische Hochschulen und mussten sich auch mit der sogenannten Österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandersetzen. Und nicht zuletzt waren sie alle politisch innerhalb der Grenzen des alten, von den Nationalitätenkämpfen erschütterten Österreich sozialisiert und mussten lernen, die marxistische Interpretation der Geschichte auf komplizierte Phänomene anzuwenden, wo eine oberflächliche Anwendung marxistischer Methoden nicht statthaft war. In der Folge bildete sich ein enger intellektueller Kreis.

Freilich gibt es noch viel mehr zu berichten. Bezeichnenderweise machte sich Bauer nicht die Mühe, Frauen wie Käthe Leichter, Marie Jahoda und Helene Bauer – seine eigene Frau! – zu erwähnen, die ebenfalls einen Beitrag zu dieser Schule leisteten!

Als die österreichische Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm, kam sie um eine internationale Ausrichtung nicht umhin. Damit bot sie den Nährboden für eine Gedankenkultur, der viele bedeutende politische Figuren erwuchsen, die später in den neuen Nationalstaaten, die aus dem Kaiserreich hervorgingen, wichtige Rollen spielen sollten, z. B. Ignacy Daszyńsk oder Bohumír Smeral. Der Austromarxismus war ihre gemeinsame Wurzel und lieferte der marxistischen Tradition in Mitteleuropa eine gemeinsame Sprache. Andererseits zählen zu den kulturellen Einflüssen, die ihn inspirierten, mit Sicherheit auch Hans Kelsen, Begründer der Reinen Rechtslehre, sowie Alfred Adler und Sigmund Freud.

Was ein bemerkenswerter Zufall sein mag, aber die intellektuellen Querverbindungen in Wien zur Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert eindrucksvoll illustriert, ist die Tatsache, dass es sich bei der wahren Person, die sich hinter dem symbolischen „Fall Dora“ in Freuds Aufzeichnungen verbirgt, um Ida Bauer, Otto Bauers Schwester, handelt.

In ideologischer Hinsicht distanzierte sich die österreichische Sozialdemokratie ebenso vehement vom Revisionismus, wie sie es später vom Dogmatismus der Dritten Internationale tat.

Damit wurde sie in der sozialistischen Bewegung Europas zur Anführerin des Zentrismus und 1921 zur Gründerin der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien, deren Ziel es war, eine Einigung zwischen der sozialdemokratischen Londoner Internationale und der Kommunistischen Internationale herbeizuführen – freilich vergeblich.

Auch wenn die kleine Kommunistische Partei Österreichs die sozialdemokratische Dominanz über die österreichische Arbeiter_innenbewegung zu keiner Zeit ernsthaft herausfordern konnte, hatte die Idee von Räten/Sowjets und der Sowjetunion in ihrer Basis durchaus ihre Anhänger_innen. Otto Bauer bezog 1920 dazu in einem kleinen Buch mit dem Titel Bolschewismus oder Sozialdemokratie Position.

Trotz all seiner Kritik an der diktatorischen und terroristischen Machtausübung der Bolschewik_innen stellte er den grundsätzlich sozialistischen Charakter ihres Regimes nicht infrage. Ausgehend von einer kritischen Beurteilung der bolschewistischen Revolution kommt er zu einem Punkt, den er für den Sozialismus seiner Zeit als entscheidend erachtet:

„Ist der Bolschewismus die allein mögliche, allein zielführende Methode jeder proletarischen Revolution oder ist er nur die den besonderen russischen Verhältnissen angepaßte, in anderen Ländern daher nicht anwendbare Methode des proletarischen Befreiungskampfes?[1]

Natürlich argumentiert er für Letzteres und kommt wie Antonio Gramsci zu dem Schluss, die Unterschiede zwischen den Staaten des Ostens und des Westens seien derart, dass die Gesellschaftsstruktur und der Staatscharakter im Westen eine Machtübernahme durch einen bewaffneten Aufstand und eine Regierung über eine Mehrheit mittels Gewalt und Terror nicht zulassen würden.

Der 12. Februar 1934 markierte das tragische Ende des austromarxistischen politischen Experiments.

Es ist keinesfalls unfair, Otto Bauers Theorie vor dem Hintergrund ihres praktischen Scheiterns zu beurteilen, sprich der militärischen Niederlage im kurzen Bürger_innenkrieg von 1934. Der prominente Politikwissenschaftler und Historiker Norbert Leser, der dem rechten Flügel der sozialdemokratischen Partei angehörte, schrieb Otto Bauer in einem 1964 veröffentlichten Buch die Mitverantwortung für den konservativen Staatsstreich zu. Er kritisierte, Bauers militante radikale Rhetorik habe im Widerspruch zur tatsächlichen militärischen und gesellschaftlichen Schwäche seiner Partei gestanden, zu der die Wirtschaftskrise erheblich beigetragen hatte.

Eine gewisse Wahrheit lässt sich diesem Vorwurf nicht absprechen, der umgekehrt von linken Kritiker_innen hervorgebracht wird, die argumentieren, Bauer habe sich, um einen Bürger_innenkrieg zu verhindern, angesichts eines immer entschlosseneren Feindes zunehmend zurückgezogen und damit die organisierte Arbeiter_innenklasse demoralisiert und demobilisiert.

Bauer selbst verfasste eine selbstkritische Analyse zur Politik der Partei in zwei außergewöhnlichen Büchern, eines unter der Überschrift „Die Illegale Partei“ und das andere mit dem prophetischen Titel Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus (1936).  

Anders als die Kommunistische Internationale sah Bauer den Faschismus nicht als letzte Zuflucht einer von der Revolution in Bedrängnis geratenen Bourgeoisie.

Die Kapitalistenklasse und der Großgrundbesitz haben die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht deshalb überantwortet, um sich vor einer drohenden proletarischen Revolution zu schützen, sondern zu dem Zweck, um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die politischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern; nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen.[2]

Dieses Buch zeugt von massiver Ernüchterung. Die Formel aus dem berühmten Parteiprogramm von 1926, dem Linzer Programm, das den Weg zum Sozialismus durch Demokratie propagierte und die Verteidigung durch diktatorische Mittel nur als letzten Ausweg sah, schien nun ins Gegenteil verkehrt:

Nur eine revolutionäre Diktatur [kann] die gesellschaftlichen Bedingungen für eine von Klassenherrschaft befreite Demokratie schaffen.

Es mag auch eine Folge seiner Enttäuschung über die bürgerliche Demokratie sein, dass sich Bauer praktisch bedingungslos mit der Sowjetunion assoziierte, und das 1936, dem Jahr, als der erste Schauprozess gegen Kamenew, Sinowjew und andere stattfand.

„Zwischen zwei Weltkriegen“ enthält Otto Bauers politisches Erbe, die Idee einer Wiedergeburt der sozialistischen Bewegung mittels eines Konzepts, das er als „Integraler Sozialismus“ bezeichnete. Dieser sollte die beiden konkurrierenden Arme der Arbeiter_innenbewegung, den Sozialismus und den Kommunismus, miteinander vereinen.

Für Michael Krätke stellt der Austromarxismus „die bis dato elaborierteste Variante eines offenen Marxismus“ dar.

1945 verschwand die austromarxistische Debatte aus dem österreichischen Diskurs. Die Sozialdemokratische Partei, nun als Sozialistische Partei neu erstanden, hatte einen Rechtsruck verzeichnet. Otto Bauer, Max Adler und Rudolf Hilferding waren im Exil verstorben; einige weitere ihrer Intellektuellen jüdischer Herkunft sahen sich, gelinde ausgedrückt, nicht angehalten, nach Österreich zurückzukehren. Während sich die sozialdemokratische Partei im Kalten Krieg mit dem Westen arrangierte, wurde die Kommunistische Partei zur wichtigsten Kraft in der Widerstandsbewegung und bildete nach der Befreiung an der Seite der Sowjetunion einen Teil der Regierung. Auch hier gab es also keinen Platz für einen demokratischen oder einen integralen Sozialismus.

Von den Österreicher_innen heißt es, dass sie voller Vertrauen in die Vergangenheit blicken.

Auch wenn ich keinesfalls zu linker Melancholie neige, möchte ich noch einmal Michael Krätke mit seiner Ansicht zitieren, dass die theoretischen Beiträge der Austromarxist_innen, insbesondere was die Staatstheorie und die Analyse der Formen und Entwicklungstendenzen der politischen Demokratie angeht, „allem voraus und überlegen [sind], was im Marxismus gemeinhin als politische Theorie angeboten wird“.[3] Ob man diese Einschätzung teilen mag oder nicht, Fakt ist, dass sich der Austromarxismus durch die Intensität der gesellschaftlichen und politischen Konfrontationen in Österreich in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen gezwungen sah, die wesentlichen Fragen auf einem Niveau aufzuwerfen, das dem von Lenin, Luxemburg und Gramsci absolut gleichkommt.  Es ist deshalb an der Zeit, ihn entsprechend zu würdigen, zu erforschen und bekanntzumachen.


Referenzen

[1] Otto Bauer: Bolschewismus oder Sozialdemokratie, Wien 1920, S. 4.

[2] Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen, Wien S. 126.

[3] Michael Krätke, Austromarxismus und Kritische Theorie.

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