Am 2. Oktober zeigt sich, ob die Brasilianer:innen einen politischen Wechsel unter dem Linken Luiz Inácio «Lula» da Silva von der Arbeiter:innenpartei (PT) durchsetzen oder ob es dem rechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro (Partido Liberal – PL) gelingt, im Amt zu bleiben. Gleichzeitig finden auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene die Wahlen zu Parlament und Regierung statt.
Mario Schenk, RLS: Die Amtszeit Jair Bolsonaros ist geprägt durch die Corona-Krise und begleitet von Bildern des brennenden Amazonas, hungernder Menschen und Massenkundgebungen seiner Anhänger:innen. Was sind die größten Herausforderungen für eine kommende Regierung?
Jorge Pereira Filho: Wenn wir die Wahl gegen Bolsonaro gewonnen haben und Lula unser neuer Präsident wird – wovon ich ausgehe – wird es für Lula schwieriger als bei seiner ersten Amtszeit (2003 bis 2011, Anmerk. Übers.). Denn das heutige Brasilien hat aus drei Gründen wenig mit dem von 2003 gemeinsam.
Erstens hat Bolsonaro das Land ökologisch und sozial zerstört. Die Folgen seiner neoliberalen und autoritären Politik zeigen sich in der Zerstörung des Amazonas‘, der ständigen Bedrohung der Indigenen und der Quilombolas (Nachfahren geflohener Sklav:innen) sowie in der Verarmung der breiten Bevölkerung. Auf die Corona- und Wirtschaftskrisen antwortete er mit dem Abbau von Arbeitnehmer:innenrechten und von Sozialleistungen. Infolgedessen leiden rund 33 Millionen Menschen an Hunger. Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet, wobei zwei Drittel der Arbeitenden informell beschäftigt sind, bzw. in Teilzeit oder Scheinselbstständigkeit arbeiten. Sie verfügen weder über eine Unfall- oder Pflegeversicherung, noch haben sie Anspruch auf Rente und haben quasi keine Rechte.
Die zweite Herausforderung für eine linke Regierung geht von rechten, gewaltbereiten Gruppen aus. Und drittens muss sie den Einfluss des Militärs in Politik und Gesellschaft zurückdrängen. Sowohl die rechtsgerichteten Milizen als auch das Militär konnten ihren Einfluss unter Bolsonaro ausbauen. Noch nie war eine Wahl so entscheidend. Sollte Lula gewinnen, braucht er neue Rezepte für die Regierung Brasiliens. Eine neue linke Regierung wird mit mehr Radikalität für den sozialen Ausgleich und den Wiederaufbau der rechtsstaatlichen Institutionen kämpfen müssen. Lula wird auf mehr Feindseligkeit treffen als 2003.
Nun hat der frühere Gewerkschafter Lula hat den Neoliberalen Geraldo Alckmin zu seinem möglichen Vize ernannt. Inwieweit steht diese Allianz mit konservativen Kräften einer nötigen «Radikalität der Linken» entgegen?
Innerhalb seiner Regierungskoalition wird Lula auf Widerstand stoßen. Inwieweit die Allianz mit konservativen Partnern ihren Zweck erfüllt, wird sich in der Praxis zeigen. Es ist ein sehr breites Bündnis, das sich um Lula gebildet hat, um sich der Gefahr von rechts entgegenzustellen und das zu verteidigen, was vom demokratischen Rechtsstaat übrig ist. Dem Bündnis gehören zehn Parteien an und die drei linken Parteien – die Arbeiter:innenpartei PT, die kommunistische Partei PCdoB und die sozialistische PSOL – sind eine Minderheit. Die anderen rechne ich der politischen Mitte und dem Mitte-Rechts-Spektrum zu. So ein Bündnis zwischen der Linken und dem Zentrum war Ende der 1980er Jahre beim Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie erfolgreich. Wie damals auch hätte die Linke heute allein nicht die Kraft, ihren politischen Gegner abzusetzen. Inwieweit das nun die Arbeit einer zukünftigen Regierung kompromittiert, hängt auch von Lulas Geschick ab.
Dieser Gegner von rechts, Bolsonaro, hat gezeigt, dass er seine Anhänger:innen mobilisieren kann. Jüngst kamen weit über 100.000 Menschen zu seinen Kundgebungen. Was erklärt seine konstant hohe Popularität?
Bolsonaro gelang es, die reaktionären bis konservativen Wähler:innen für sich zu gewinnen. Diese machen ein Drittel der Wähler:innenschaft aus. Es gab dieses Spektrum schon vor Bolsonaro, doch er hat ihre Leidenschaft für die Politik geweckt. Das ermöglicht ihm, diese Wähler:innengruppen fast geschlossen zu mobilisieren. Er ist sehr gut darin, Allianzen mit und zwischen den reaktionären Akteuren der Gesellschaft zu schmieden. Dazu gehören die Mitglieder der evangelikalen Kirchen und konservative Katholik:innen. Er griff ihr erzkonservatives Familienmodell auf und verfügt damit über eine Basis, die mittlerweile 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Unter den Evangelikalen führt er in den Umfragen deutlich vor Lula.
Zudem zählt er auf die Unterstützung des Kapitals. Ein wesentlicher Teil der Unternehmer:innen und des Agrarbusiness‘ überweisen hohe Spenden, stellen Lautsprecherwagen, Flyer, Busse, Flüge oder Hotelübernachtungen bereit. Diese Akteure greifen an Bolsonaros Seite aktiv in den Wahlkampf ein. Im Gegenzug hat er Arbeitnehmer:innenrechte abgebaut. Außerdem nutzt Bolsonaro exzessiv den Behördenapparat für Wahlkampfzwecke.
Dennoch hat Bolsonaro ein Problem: Er kann seine Anhänger:innen zwar mobilisieren, aber sie nicht vermehren. Vielmehr wächst die Ablehnung gegen ihn, je mehr er und seine Anhänger:innenschaft sich radikalisieren. Das liegt an seinem anti-demokratischen Programm und seiner verletzenden Rhetorik. Das stößt viele ab.
Die Ablehnung gegenüber Bolsonaro wächst, doch bei der letzten Wahl im Jahr 2018 holte er mehr Stimmen als zuvor prognostiziert und gewann. Wie realistisch ist es, dass er auch diesmal gewinnt?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Die Ablehnung gegen ihn beträgt 53 Prozent. Mehr als die Hälfte der Brasilianer:innen würde ihn auf keinen Fall wählen. Er muss diese Zahl verringern, die sich vor allem auf die ärmeren Schichten, die Schwarze Bevölkerung und Frauen konzentriert – also jene, die am meisten unter seiner Regierung gelitten, ihre Rechte verloren haben oder diskriminiert wurden. Er muss Vertrauen zurückgewinnen, wofür die verbleibende Zeit aber kaum reicht. Erschwerend kommt für ihn hinzu, dass man nun – anders als im Jahr 2018 – weiß, was von ihm zu erwarten ist. Jüngste Umfragen zeigen, dass sich viele Konservative von ihm abgewendet haben und nun Lula wählen.
Bolsonaros Chance sind die Nicht-Wähler:innen. Denn die Bereitschaft seiner Anhänger:innen wählen zu gehen, ist höher als die der Wähler:innen der Mitte. Bei der letzten Wahl enthielt sich ein Drittel der Bevölkerung. Die Umfragen könnten täuschen und eine hohe Zahl an Nicht-Wähler:innen könnte ihm auch diesmal zum Erfolg verhelfen. Seinen Sieg halte ich dennoch für unwahrscheinlich.
Die PT und ihre Partner betonen, es sei wichtig, dass Lula im ersten Wahlgang gewinnt. Warum, wenn es doch die Stichwahl gibt? Wie erklärt sich das durch das Wahlsystem?
Die Wahl zum oder zur Präsident:in ist direkt und es sind zwei Wahlgänge möglich. Ein:e Kandidat:in benötigt mindestens 50 Prozent der abgegebenen Stimmen oder er:sie holt bereits im ersten Wahlgang mehr Stimmen als alle anderen Kandidat:innen zusammen, nämlich dann, wenn sich viele Wähler:innen enthalten. Diese Wahl ist sehr polarisiert. Laut der letzten Umfrage kommt Bolsonaro auf 33 Prozent und Lula auf 45 Prozent der Stimmen. Hingegen erhalten die restlichen zehn Kandidat:innen jeweils nur ein bis sechs Prozent. Die Wahl könnte im ersten Durchgang zugunsten Lulas entschieden werden.
Dies wäre einmalig in der Geschichte des Landes. Noch nie hat ein:e Herausforderer:in eine:n Amtsinhaber:in im ersten Durchgang besiegt. Ein Sieg Lulas würde konservativen und reaktionären Kreisen des Landes Brasiliens die deutliche Botschaft vermitteln, dass die Bevölkerung einen Wechsel wünscht. Ferner bietet ein Sieg im ersten Wahlgang unserem linken Programm einen stärkeren Rückhalt in zukünftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sowie in der Koalition.
Bolsonaro unterstellt, das Wahlsystem sei anfällig für Betrug und droht, eine Wahlniederlage nicht anzuerkennen. Gleichzeitig spielt er mit der Drohkulisse eines bewaffneten Aufstandes. Wie realistisch ist es, dass Bolsonaro diese Drohungen wahrmacht?
Wir dürfen nicht in Alarmismus verfallen. Bolsonaro will die Wahl an den Urnen gewinnen. Dafür greift er auch auf unlautere Mittel zurück, beispielsweise, indem er sein Amt und den Behördenapparat für den Wahlkampf einsetzt oder Lügen verbreitet. Auf sein Drängen hin wird das Militär das Wahlergebnis durch eigene Stichproben kontrollieren. Die Macht will er aber auf demokratischem Weg behalten. Sollte er einen Anlass finden, das Wahlergebnis in Frage zu stellen, bräuchte es sehr viel politische Überzeugungskraft und genügend Personen, die seine Putsch-Pläne mittragen. Das halte ich derzeit für unrealistisch.
Dennoch scheint sich Bolsonaro für den Fall einer Wahlniederlage einen Plan B vorzubehalten, bei dem bewaffnete Gruppen eine entscheidende Rolle spielen. Rechte Milizen und Bürgerwehren könnten nach einem von ihm erhobenen Vorwurf des Wahlbetrugs versuchen, durch spontane Gewaltakte und dezentrale Unruhen die öffentliche Ordnung so weit zu destabilisieren, dass der Eindruck eines Machtvakuums entstünde. Bolsonaro als amtierender Präsident könnte die Militärs um Hilfe bitten und deren Intervention rechtfertigten. Zusammen mit den Streitkräften würde er die Amtsgeschäfte bis auf Weiteres fortführen.
Derzeit ist ein solches Szenario zwar pure Spekulation, dennoch schürt er eine aggressive Stimmung und versucht die Gewaltbereitschaft seiner radikalsten Anhänger:innen zu erhöhen. Er stachelt zu Gewalttaten an, indem er in seinen Reden verspricht, die Linke auszulöschen oder den Kommunismus zu eliminieren. Der Wahlkampf ist bereits von extremer politischer Gewalt geprägt. Sympathisant:innen Bolsonaros erschossen jüngst zwei Mitglieder der Arbeiter:innenpartei; es kam zu Angriffen auf linke Demonstrationen. 67,5 Prozent der Brasilianer:innen fürchten politische Gewalt im Zuge der Wahlen.
Der Zunahme von Gewalt ging voraus, dass Bolsonaro die Regelungen zum Waffenbesitz gelockert und die Bevölkerung aufgerufen hat, sich zu bewaffnen. Täglich gründet sich ein neuer Schießclub, in dem sich manche Anhänger:innen auf den «Tag X» vorbereiten. Die Zahl der importierten Schusswaffen hat sich vervierfacht. Eine Million Bürger:innen besitzen Schätzungen zufolge Waffen und es gibt keine effektive staatliche Kontrolle mehr. Sein Sohn, der Abgeordnete Eduardo Bolsonaro, rief alle Waffenbesitzer:innen auf, sich Bolsonaro anzuschließen. Wer eine Waffe besitze oder einem Schützenverein angehöre, solle sich zu einem «Freiwilligen Bolsonaros» machen. Diese Zeitbombe benutzt Bolsonaro, um eine Bedrohung heraufzubeschwören, die er dann mithilfe der Militärs unter Kontrolle bringen will. Aber für solch einen Bruch mit dem demokratischen System sehe ich derzeit wenig Basis.
Ein deutlicher Sieg Lulas im ersten Wahlgang kann helfen, die von Bolsonaro geschürten Gerüchte eines Wahlbetrugs einzudämmen und ihn davon abhalten, die Wahlen anzufechten. Sollte Bolsonaro Zweifel am Wahlsystem erheben, würde er zudem die Wahl vieler anderer Politiker:innen wie Gouverneur:innen, Senator:innen etc. infrage stellen. Damit würde er schwer durchkommen.
Das Militär hat angekündigt während der Wahl Stichproben zu nehmen und bei Ungereimtheiten das Ergebnis zu beanstanden. Ist dies eine Putsch-Drohung oder der Versuch Zweifel an der Wahl auszuräumen?
Das Militär hat derzeit zu viel Einfluss bei der Mitgestaltung der Geschicke des Landes. Es braucht keinen Putsch, um sie an der Macht zu beteiligen. Den Streitkräften ist es gelungen, seit dem parlamentarischen Putsch gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 eine prägende Rolle in der Politik des Landes und nun auch bei den Wahlen einzunehmen. Das Oberste Wahlgericht (STE) beugte sich dem Druck und gestattete den Streitkräften, per Stichproben eine eigene Kontrollzählung der Stimmen durchzuführen, um sie mit dem offiziellen Wahlergebnis zu vergleichen. Damit könnten sie die Wahl mitentscheiden.
Zudem verfolgen sie eine eigene politische Agenda, stehen mehreren Ministerien vor oder erarbeiten in Thinktanks Strategiepapiere für die Außen- und Innenpolitik. Das heißt, unsere Demokratie ist nicht vollwertig, wir leben bereits in einem Regime, das von den Interessen der Militärs abhängig ist. Jede zukünftige Regierung wird die Militärs «erziehen» und auf eine untergeordnete Rolle zurückzudrängen müssen.
Einen Militärputsch im herkömmlichen Sinn, wie es ihn 1964 gab, halte ich für ausgeschlossen. Die nationalen und internationalen Kräfteverhältnisse lassen das nicht mehr zu. Eine so breite Bewegung von konservativen bis reaktionären Teilen der Bevölkerung, die 1964 den Militärputsch mittrugen, gibt es heute nicht mehr. Noch weniger würden die Brasilianer:innen einen Putsch Bolsonaros gutheißen und eine Beteiligung der Armee rechtfertigen. Die Militärs sind sich dessen sehr bewusst. Selbst innerhalb der Streitkräfte teilt nur ein Teil die Kritik Bolsonaros am elektronischen Wahlsystem.
Ursprünglich veröffentlicht auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung.