Am 7. Februar brannten Regierungsgebäude in ganz Bosnien-Herzegowina. Die Menschen hatten beschlossen, nun endlich ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen, nachdem sie lange geschwiegen hatten. Und als sie es schließlich taten, waren das nicht einfach Worte – es war ein Gebrüll, begleitet von Bränden, Steinen und schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Das eindrucksvollste und symbolstärkste Bild war jenes eines brennenden Regierungsgebäudes in Tuzla, jener Stadt, in der alles begann. Es trug das das Graffiti „Tod dem Nationalismus“. Da der Nationalismus für die politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina immer einen beliebten Zufluchtsort darstellte, mit dem sie ihre politische und wirtschaftliche Unterdrückung rechtfertigen konnten, war das in der Tat eine machtvolle Ansage.
Der Reihe nach traten Premierminister von gleich mehreren Verwaltungsbezirken Bosnien-Herzegowinas von ihren Ämtern zurück. Am Sonntag, 9. Februar, begab sich der kroatische Ministerpräsident Zoran Milanović nach Mostar, einer Stadt in Bosnien-Herzegowina mit einem hohen kroatischen Bevölkerungsanteil, um sich dort mit den kroatischen Führungspersönlichkeiten zu treffen, während der Präsident der Republika Srpska (dem serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina), Milorad Dodik, nach Serbien berufen wurde, um sich mit dem ersten Vizepräsidenten Aleksandar Vučić (dem inoffiziellen serbischen Staatsoberhaupt) zu treffen. Die Gründe dafür waren klar. Beide politischen Eliten, sowohl in Kroatien und als auch in Serbien, haben Angst davor, dass das, was manche als „bosnische Revolution“ bezeichnen, auch auf ihre Länder übergreifen könnte.
Die wirtschaftliche Lage in Bosnien-Herzegowina ist zweifelsohne schrecklich. Das Land war vormals bekannt für seine vielen Fabriken und eine starke Arbeiter_innenklasse – sogar das Landeswappen der ehemaligen sozialistischen Republik Bosnien-Herzegowina (einer Teilrepublik von Jugoslawien) zeigte Fabrikschornsteine. Heutzutage sind viele dieser Fabriken geschlossen, der Rest ist privatisiert und befindet sich im Besitz ausländischer Unternehmen oder einer neu entstandenen Kapitalistenklasse, und obwohl in ihnen zwar einige Arbeiter_innen arbeiten, erhalten sie ihre Löhne nicht ausbezahlt (was für den postjugoslawischen Kapitalismus charakteristisch ist). Die Arbeitslosenrate im Land liegt bei 45%. Die Nachbarländer Kroatien und Serbien sind in keinem ganz so schlechten Zustand, aber auch dort besteht für die Führungseliten genug Grund zur Sorge, da die allgemeine Situation auch dort alles andere als zufriedenstellend ist. Zum Beispiel liegt in Kroatien die Jugendarbeitslosigkeit bei fast 53%, an dritter Stelle in der EU nach Griechenland und Spanien.
Der explosive und mancherorts ziemlich gewaltsame Aufstand in Bosnien-Herzegowina hatte sicherlich seine eigenen, lokal bedingten Gründe – um sich greifende Verarmung, enorme soziale Ungleichheit, einen großen bürokratischen Apparat und die politischen und kapitalistischen Vampire an der Spitze. Dieser Aufstand in Bosnien ist jedoch auch integraler Bestandteil der globalen Aufstandsbewegungen in den letzten Jahren. Nach Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 und den Jahren des anfänglichen Schocks begann 2011 mit dem Arabischen Frühling, den Indignados in Spanien und Occupy Wall Street in den USA eine Welle großer Proteste und Erhebungen. Das letzte Jahr brachte riesige Aufstände in der Türkei und Brasilien. Auch Ex-Jugoslawien wurde von dieser Welle erfasst. Bereits 2011 fanden in Kroatien große „Facebook-Proteste“ statt, die den ganzen Monat März über andauerten. Obwohl sie politisch ziemlich heterogen waren, war dies das erste Mal, dass in einem der postjugoslawischen Länder antikapitalistische Botschaften offen zu vernehmen waren. Diese Proteste waren in vielfacher Hinsicht eine Vorankündigung der Indignados und von OWS, zumindest in der Hinsicht, dass sie – wie diese – einen klaren gemeinsamen „Zeitgeist“ zum Ausdruck brachten. Im März 2012 wurde Slowenien von einem „Volksaufstand“ erfasst, der den öffentlichen Diskurs im Land stark beeinflusste und neue politische Kräfte entstehen ließ, wie etwa die potentiell vielversprechende Initiative für Demokratischen Sozialismus. Jetzt ist die Zeit reif für Bosnien-Herzegowina. Dort reagierte man als letztes, die Antwort fiel aber umso kräftiger aus.
Nach Beginn des Aufstandes meinten alle Analysten, dass dieser unvermeidbar gewesen sei und sie überzeugt davon gewesen wären, dass sich Derartiges früher oder später ereignen werde. Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Denn obwohl die Situation in Bosnien-Herzegowina in der Tat und schon seit langem katastrophal ist, hatten die meisten Analysten bis zuletzt behauptet, dass eine solche Erhebung völlig unmöglich sei, da die Bevölkerung angeblich passiv, unbeweglich und darüber hinaus durch Nationalismus gespalten sei. Aber wie so oft gab es einen unvorhersehbaren Funken, von dem aus sich das Feuer sehr schnell ausbreitete.
Der Aufstand begann in Tuzla, einer Stadt in Nordwesten des Landes mit einer starken linksgerichteten und Arbeitertradition. „Eine andere Stadt“, wie oft behauptet wird, da sich dort der Nationalismus niemals richtig festsetzen konnte, im Unterschied zum Rest des Landes. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es ausgerechnet diese Stadt war, die sich im Zentrum der Auseinandersetzungen befand. Dort haben Arbeiter aus einigen privatisierten Fabriken (wie etwa Dita, Polihem und Konjuh) schon eine Zeitlang aus mehreren Gründen friedlich protestiert. Am 5. Februar stießen jedoch die Jugend der Stadt, die Arbeitslosen und andere Menschen zu ihnen, wobei sich die Mehrzahl der gewaltsamen Auseinandersetzungen und Brände am 7. Februar ereignete (die wichtigsten Auseinandersetzungen fanden in Tuzla, Sarajewo, Zenica, Mostar und Bihać, den größten Städten des Landes, statt).
Die Proteste waren spontan und hatten soziale Forderungen zur Grundlage. Viele der Protestierenden brachten vor, dass sie einfach nichts mehr zu essen haben, seit langem arbeitslos sind, und sie äußerten ihre tiefe Verachtung für die kriminellen Eliten in Politik und Wirtschaft. Wenngleich der Aufstand sich hauptsächlich in jenen Teilen Bosniens zutrug, die von muslimischen Bosniern bewohnt werden (was die kroatischen und serbischen Nationalisten immer sehr schnell als Negativargument zur Hand haben), hatte er eine eindeutig soziale und keineswegs nationale Ausrichtung, abgesehen von einigen Provokationen, Sabotageakten und wirren Einzelpersonen. In ihrer Zusammensetzung sind die Proteste durchaus heterogen, wie dies oft der Fall ist – so haben sich z. B. große Scharen an Fußball-Fans den Reihen der militanten Gruppen unter den Aufständischen angeschlossen. Bis jetzt finden die Proteste hauptsächlich in jenen Teilen des Landes statt, die vorwiegend von Bosniern bewohnt sind, es gibt aber auch hier zahlreiche Ausnahmen. In Mostar, der Stadt im Südwesten des Landes, waren sowohl Kroaten als auch Bosnier an der In-Brand-Setzung des Hauptquartiers der beiden größten nationalistischen Parteien auf kroatischer und bosnischer Seite (HDZ und SDA) beteiligt. Angehörige der kroatischen Volksgruppe protestierten in Livno und Orašje, während Angehörige der serbischen Volksgruppe eine Reihe kleinerer Proteste und Versammlungen in Prijedor, Banja Luka, Bijeljina und Zvornik organisierten.
Obwohl die Proteste klar sozial motiviert sind, stellt die von den politischen Eliten zu ihrem Vorteil genutzte (und im Falle der Kroaten in Bosnien-Herzegowina nicht unbegründete) nationale Frage noch immer ein großes Problem dar. Viele Kroaten und Serben in Bosnien-Herzegowina sind noch immer misstrauisch. Sie befürchten, dass die Proteste eine andere politische Wendung nehmen könnten, und berufen sich zum Beispiel auf die islamistische Entwicklung der ägyptischen Revolution (obwohl ein solches Szenario in Bosnien-Herzegowina äußerst unwahrscheinlich ist). Diese Angst wird insbesondere von den politischen Eliten und den Medien geschürt, die Proteste in den kroatischen und serbischen Landesteilen von Bosnien-Herzegowina zu verhindern versuchen. Dabei erfreute sich eine Vielzahl an Verschwörungstheorien großer Beliebtheit. Etwa behaupten bosnische Nationalisten und Politiker, dass das Ganze eine Verschwörung gegen die Bosnier sei, kroatische Nationalisten und Politiker behaupten wiederum, dass alles nur eine Verschwörung gegen die Kroaten sei, und serbische Nationalisten und Politiker behaupten ihrerseits, dass es sich um eine Verschwörung gegen die Serben handle. Sehr bezeichnend ist auch, dass kroatische und serbische Intellektuelle und Medien stillschweigend zusammenarbeiten und so verzweifelt zu beweisen versuchen, dass es sich bei den Ereignissen nur um einen „Bosnischen Frühling“ handelt.
Aber nicht alle lassen sich von dieser nationalistischen Propaganda beeindrucken. Eine Gewerkschaft aus Drvar zum Beispiel (deren Mitglieder überwiegend der serbischen Minderheit angehören) hat die zumeist kroatischen Protestierenden in Livno unterstützt. Auch hat die Veteranenorganisation im serbischen Landesteil ihren Präsidenten Milorad Dodik offen aufgefordert, sich endlich der sozialen Probleme, der Ungerechtigkeit, der mit den Privatisierungen verbundenen kriminellen Handlungen usw. anzunehmen. Andererseits wurden in Bijeljina (im serbischen Teil von Bosnien und Herzegowina) die Protestierenden, die den Aufstand unterstützten, mit einem Gegenprotest durch serbische Nationalisten konfrontiert. Dasselbe ereignete sich während einer Solidaritätskundgebung in Belgrad (zur selben Zeit, als die Polizeigewerkschaft in Serbien erklärte, dass, sollten die Proteste die serbische Grenze überschreiten, sie gegen die Protestierenden vorgehen würde). In Kroatien organisieren andererseits sowohl linke als auch rechte Aktivisten Proteste im Geiste der in Bosnien-Herzegowina stattfindenden Ereignisse.
Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist momentan sehr angespannt. Einige linksgerichtete Intellektuelle und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterstützen die Proteste, aber die meisten Medien und die gesamte politische Kaste stehen ihnen geschlossen ablehnend gegenüber. Jede Menge nationalistischer Behauptungen, Verschwörungstheorien, gefälschter Manifeste, unwahrer Erklärungen, erfundener Berichte und Geschichten sind im Umlauf. Die Eliten und dem Regime nahe stehende Intellektuelle versuchen so gut sie können, den Status quo aufrechtzuerhalten. Dennoch ist offensichtlich, dass in liberalen, konservativen und nationalistischen Kreisen viel Verwirrung herrscht. Ihre Analyseinstrumente und Erklärungsmuster sind nicht dafür geschaffen, mit dieser Art von Entwicklung umzugehen, da sie die Arbeiterklasse, die Arbeitslosen und die Armen nicht wirklich als aktive politische Subjekte wahrnehmen können. Zusammengehalten wird das alles durch den Kleister kleinbürgerlichen Moralisierens über brennende Gebäude, „Hooligans“, „unnötige“ Gewalt und so weiter. Liberale und Konservative rufen nach „friedlichen und gemäßigten“ Protesten, ungeachtet der Tatsache, dass nichts von alledem sich ereignet hätte, hätte es keine Gewalt gegeben, und ungeachtet der Tatsache, dass die sorgfältige Abstimmung von Politik und Medien nun klar zutage gefördert hat, was bürgerliche Demokratie und „Medienfreiheit“ wirklich bedeuten.
Wie immer haben die Medien ein Aufheben darüber gemacht, dass die Protestierenden angeblich nicht wüssten, was sie täten, und keine klaren Ziele hätten. Dies stimmt aber nicht. Die Forderungen der Protestierenden werden von Tag zu Tag klarer. Zum Beispiel haben die Arbeiter und Protestierenden von Tuzla, die die fortschrittlichsten, politisch einigsten und wortgewandtesten sind, gefordert, dass die Privatisierungen der Werke Dita, Polihem, Gumara und Konjuh rückgängig gemacht werden; weitere Punkte ihres Forderungskatalogs: Gesundheitsschutz für die Arbeitenden, ein Vorgehen gegen Wirtschaftskriminalität, Enteignung von illegal erworbenem Reichtum, Verstaatlichung von Fabriken und Arbeiterkontrolle, gerechtere Löhne, Abbau der Privilegien der politischen Elite usw. Es ist allerdings noch schwer zu sagen, was aus all dem entstehen wird und was davon nur Rhetorik ist.
Für die Linke die vielleicht interessanteste und aufregendste Sache ist die Entstehung eines revolutionären organisatorischen Gremiums, des sogenannten „Plenums“ (oder Vollversammlung) in Tuzla, das im Zentrum des Aufstandes steht (jene Stadt, in der die Regierung vor einigen Tagen ihren Rücktritt eingereicht hat). Die Protestierenden in der Hauptstadt Sarajevo und in der Stadt Zenica versuchen ebenfalls ein Plenum zu organisieren. Es ist im Wesentlichen sehr ähnlich dem der ursprünglichen russischen Sowjets. Den Protestierenden dient es zur kollektiven Entscheidungsfindung und Formulierung ihrer Forderungen auf direkt-demokratischem Wege. Interessant ist, dass die Idee eines Plenums als politische Instanz zur demokratischen Entscheidungsfindung ihren Ursprung in der großen Besetzungswelle der Studierenden in Kroatien 2009 hat, die ihrerseits wiederum auf die Studierendenbewegung in Belgrad 2006 zurückgeht. Daher ist all dies ein gutes Beispiel für die postjugoslawische Zusammenarbeit und wechselseitige Beeinflussung linker Aktivist_innen.
Eine der Forderungen des Plenums von Tuzla, die von den verbliebenen Resten der alten Regierung akzeptiert wurde, war die Bildung einer neuen kantonalen Übergangsregierung, bestehend aus von den Menschen der Region vorgeschlagenen Kandidat_innen, die jedoch Personen ausschloss, die aufgrund früherer Regierungsbeteiligung oder der Mitgliedschaft in alten politischen Parteien kompromittiert waren. Die Angehörigen der neu gewählten Regierung sollen auch weniger Einkommen beziehen und keine Zusatzprivilegien genießen. Am Plenum können alle teilnehmen, diskutieren und abstimmen, ausgenommen Mitglieder der alten Parteien und Regierung (was all dies im Grunde zu einer „Diktatur des Proletariats“ macht, will man diesen klassischen Begriff hier bemühen). Und während diese Art der Entscheidungsfindung höchst empfehlenswert ist, ist sie doch nur eine temporäre Sache, weil sehr problematisch, soll sie die ganze Stadt (oder gar den Kanton) repräsentieren. Beim Treffen des Plenums von Tuzla am 10. Februar waren laut Angaben der Teilnehmer_innen an die 200 Personen anwesend, während die Gesamtbevölkerung von Tuzla 130.000 Menschen umfasst.
Es ist unmöglich vorauszusagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Eines ist jedoch gewiss – Bosnien und Herzegowina (ebenso wie die gesamte Region) werden nach den Ereignissen nicht mehr dieselben sein. Man könnte sagen, dass schon eine Menge (zumindest auf symbolischer Ebene) erreicht worden ist, insbesondere wenn man der Tatsache Beachtung schenkt, dass es in Bosnien-Herzegowina (wie im ehemaligen Jugoslawien insgesamt) keine linke Massen-Bewegung gibt. Die Ideen und der öffentliche Diskurs haben sich bereits verändert. Künftig werden die Eliten sicher mehr Angst vor den Menschen haben, und dies nicht nur in Bosnien-Herzegowina. Man kann nur hoffen, dass all dies der Bildung und dem Anwachsen progressiver Kräfte und Organisationen im Land dienlich sein wird.
Die dramatischen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina haben im ganzen Land und auch in den Nachbarländern für einiges an Aufsehen gesorgt. Im Westen bleiben die Ereignisse weitgehend unbeachtet. Während westliche Medien den Ereignissen in der Ukraine große Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, da die EU und der Westen dort konkrete Interessen haben, wird der sozial ausgerichtete Aufstand in Bosnien-Herzegowina (auch wenn dieser ehrlicherweise ein viel kleineres Land betrifft) – wahrlich nichts, worüber sich die europäischen kapitalistischen/liberalen Eliten freuen würden (insbesondere da das benachbarte Kroatien das jüngste EU-Mitglied ist) – zum Großteil ignoriert.
Bemerkenswert finde ich aber, dass selbst die westeuropäische Linke dem, was in unserer Region geschieht, so wenig Bedeutung beimisst. Das ist zwar nicht überraschend, es ist jedoch keineswegs rühmlich für politische Kräfte, die stolz auf ihren Internationalismus sind. Die Linke, insbesondere die Linke in den entwickelten westlichen Ländern, sollte viel stärker daran arbeiten, ihren eigenen tief sitzenden „Provinzialismus“ zu überwinden. Die Linke, sei es nun die intellektuell-akademische oder die parlamentarische, sollte internationalistisch nicht nur ihrer Theorie nach, sondern auch in ihrer Praxis sein. Was in Bosnien-Herzegowina geschieht, ist auch deshalb interessant und wichtig für die Linke insgesamt.
Einen offenen Brief (vom 12. Februar 2014) zur Unterstützung der Bürger_innen von Bosnien-Herzegowina finden Sie auf der Homepage von CADTM sowie rechts unter „Dokumentation“.