Israel vor den Wahlen: Die Hegemonie des rechten Lagers

von Tsafrir Cohen, Direktor of the Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) Israel Regional Office in Tel Aviv, veröffentlicht (full version) auf der Website der RLS.

Nachdem es lange nach einem sicheren Sieg der rechtesten Regierungskoalition der israelischen Geschichte aussah, scheinen die Wahlen zur 21. Knesset am 9. April nun doch spannend zu werden. Denn vor allem aus zwei Richtungen gerät Premierminister Benjamin Netanjahu derzeit unter Druck: Zum einen hat der oberste Rechtsberater[1] der Regierung Anklage gegen ihn wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue erhoben. Netanjahu soll Vergünstigungen in Form von Schmuck, Zigarren und Champagner im Wert von rund 250.000 Euro angenommen und obendrein unerlaubterweise Einfluss auf zwei Massenmedien genommen haben.

Zum anderen gründete der ehemalige Generalstabschef Benjamin «Benny» Gantz die Liste Kachol Lawan (zu Deutsch: Blau-Weiß; die Farben der israelischen Fahne), die sich erfolgreich als Mitte-rechts-Alternative zu Netanjahus Likud aufgestellt hat. Laut Umfragen kann Blau-Weiß am Wahltag mit über einem Viertel der abgegebenen Stimmen rechnen und damit auf Anhieb als größte Fraktion in die Knesset einziehen. Infolgedessen könnte das rechte Lager seine Mehrheit von 67 der insgesamt 120 Mandate verlieren.

Die Frage nach «Bibis» politischer Zukunft steht damit im Zentrum des Wahlkampfs. Etwa die Hälfte der Bevölkerung steht laut Umfragen weiterhin hinter dem Premierminister. Sie tut die juristischen Verdächtigungen gegen ihn als Bagatelle ab oder denunziert sie gar als mediale oder linke Verschwörung. […]

Die Politik der Alternativlosigkeiten

Allerdings kann die derzeitige Lage Israels auch gänzlich anders eingeschätzt werden. Der israelisch-palästinensische Konflikt schwelt weiter, und Netanjahus Regierungen haben in den vergangenen zehn Jahren keine konkreten Pläne für dessen Lösung vorgelegt.[2] Zudem mögen die Wirtschaftsdaten zwar glänzend erscheinen, tatsächlich aber sind die Kosten der selbst auferlegten Austeritätspolitik und einer Steuerpolitik, die vor allem die Wohlhabenden begünstigen, hoch: Die durchschnittliche Armutsrate fällt in Israel mit 18 Prozent höher aus als in allen anderen Industrieländern. Geringe Staatsausgaben verhindern zudem längst überfällige Investitionen in den Umweltschutz und die Verkehrsinfrastruktur. Zugleich schrumpft die Mittelschicht, der Reichtum konzentriert sich zunehmend bei einigen wenigen im Land.[3] Und auch die israelische Demokratie musste erhebliche Einschnitte hinnehmen: Hart erkämpfte Bürger- und Menschenrechte wurden in den vergangenen Jahren abgebaut; Rechtspopulist*innen, aber auch Regierungsvertreter*innen stellen zunehmend demokratische Strukturen infrage und hetzen gegen Minderheiten.[4]

Dass der gesellschaftliche Widerstand dagegen so gering ausfällt, hängt nicht zuletzt mit dem gesunkenen Einfluss der israelischen Arbeitspartei zusammen. Sie regierte das Land bis 1977 durchgehend. In den vergangenen gut vierzig Jahren wirkte sie jedoch – unterbrochen durch kurze Phasen der Regierungsbeteiligung – vor allem aus der Opposition heraus. Und ihr politisches Gewicht schwindet weiter: Bei der kommenden Wahl darf sie gerade einmal mit fünf bis acht Prozent der Stimmen rechnen.[5] […]

Das rechte Lager konnte auf diese Weise eine knappe strukturelle Mehrheit erringen und in den vergangenen Jahrzehnten zwei große Projekte durchsetzen: Zum einen hat sie die Wirtschaft (neo-)liberal ausgerichtet, ungeachtet etwa der massenhaften Sozialproteste im Jahr 2011. Wie um zu beweisen, dass sie tatsächlich die Interessen der Oberschicht vertritt, trug die Arbeitspartei diese Politik seit Jahrzehnten mit und beeinflusste damit auch die Histadrut, den Dachverband der Gewerkschaften. Folglich gilt die bestehende Wirtschaftsordnung als alternativlos. Zum anderen konnte das rechte Lager die Zahl der jüdischen Siedler*innen im Westjordanland vervielfachen, sodass ein Rückbau zugunsten eines Palästinenserstaats eine kaum zu bewältigende Aufgabe geworden ist. Auch hier konnte es auf die Arbeitspartei aufbauen, deren letzter Premierminister sich nicht zu den geforderten Konzessionen gegenüber den Palästinenser*innen durchringen konnte und nach den gescheiterten Verhandlungen verkündete, es gebe keinen Partner auf der palästinensischen Seite, woraufhin die Friedensbewegung zusammenbrach und sich bis heute nicht erholen konnte. Somit erscheint nicht nur Netanjahus Wirtschaftskurs derzeit alternativlos, sondern auch seine Beschwörung, Israel müsse ewig «mit dem Schwert leben».

Der Siegeszug des Ethnonationalismus

Um die Mehrheit seines Lagers zu sichern, instrumentalisiert Netanjahu obendrein reale und imaginierte äußere und innere Feinde Israels. Zu diesen zählten zunächst die Palästinenser*innen und der Iran sowie der Unterzeichner der Oslo-Verträge, Jitzchak Rabin, sowie das Friedenslager insgesamt und «die Linke» im Allgemeinen. In den vergangenen Jahren gerieten zunehmend auch Geflüchtete, die Medien und unabhängige Gerichte in Netanjahus Visier.

Die Feindbildung beförderte einen Rechtsruck des gesamten politischen Spektrums. Der Likud ist heute von seiner alten Garde gesäubert, die sich zwar stramm rechts positionierte, zugleich aber den Rechtsstaat achtete. Zudem stellen sich im April gleich drei rechtsradikale Listen zur Wahl. Darunter befindet sich die Liste Union der Rechten Parteien, mit der Netanjahu jüngst ein Wahlbündnis einging und zu der auch die offen rassistische Partei Jüdische Stärke gehört – eine Nachfolgepartei der als Terrororganisation in Israel und den USA verbotenen Kach-Bewegung, die vom Aufbau eines dritten Tempels träumt und einen «jüdischen Kapitalismus» fördern möchte. Eine weitere Partei, die Neue Rechte unter Führung des Bildungsministers Naftali Bennett und der Justizministerin Ajelet Shaked, schickt eine Publizistin des internationalen Hetzmediums Breitbard News ins Rennen. Zusammen können diese Parteien mit mehr als zehn Prozent der Sitze rechnen.[6] 

Der Auftritt der Generäle

Zugleich aber beobachtet ein wachsender Teil der israelischen Bevölkerung die Korruptionsvorwürfen gegen Netanjahu und den beschleunigten Abbau der Demokratie mit Unbehagen. Im Vorfeld der Wahl haben sich daher drei Parteien zur Liste Blau-Weiß zusammengeschlossen, an deren Spitzen charismatische Persönlichkeiten stehen, die Netanjahu gemeinsam die Stirn bieten wollen. Zu ihnen gehören der TV-Moderator Jair Lapid und gleich drei ehemalige Generalstabschefs der israelischen Armee: Benny Gantz, der der Liste vorsteht, Mosche «Bogie» Jaalon und Gabi Aschkenasi.

Ihr gemeinsames Wahlprogramm wurde erkennbar mit heißer Nadel gestrickt: Darin findet sich kein Wort zur Zweistaatenlösung, stattdessen aber die Zusage, sich nicht aus dem Jordantal und Ostjerusalem zurückzuziehen, was de facto eine Absage an einen lebensfähigen Palästinenserstaat darstellt. Auch die gegenwärtige Wirtschaftspolitik wird nicht grundsätzlich infrage gestellt. Stattdessen sollen die Korruption bekämpft und der Rechtsstaat sowie die Meinungsfreiheit gestärkt werden.

Jüngsten Umfragen zufolge könnte das blau-weiße Bündnis Netanjahus Likud in der Knesset mit 35 zu 29 Sitzen überrunden. Insbesondere Gantz, aber auch die anderen beiden ehemaligen Generalstabschefs genießen enorme Popularität in Israel, wo die Ernennungszeremonie der oberen Militärs auf allen Fernsehkanälen live übertragen wird. Und in der Vergangenheit waren es ebenfalls ehemalige Generalstabschefs wie Jitzchak Rabin und Ehud Barak von der Arbeitspartei, die gegen den Likud und seine Kandidaten Wahlen gewannen.

Die Linke im Schatten

Derweil führt die israelische Linke weiterhin ein Nischendasein. «Links» ist landesweit als Schimpfwort eingeführt, so etwa auf Schulhöfen, wo der Begriff in etwa so gebraucht wird wie das neudeutsche «Opfer». Die Meretz-Partei, die nach wie vor für einen historischen Kompromiss mit den Palästinenser*innen, soziale Gerechtigkeit und eine progressive Geschlechter-, Verkehrs- und Umweltpolitik steht, muss um den Wiedereinzug in die Knesset bangen. Sie ist zu einer Partei des schwindenden europäisch-stämmigen Bildungsbürgertums geworden. Die Kandidatenliste von Meretz stellt einen Kompromiss dar zwischen der Pflege angestammter linksliberaler Wählerschichten, etwa in den Kibbuzim oder im wohlhabenden Norden Tel Avivs, und dem Bestreben, breitere Schichten anzusprechen. Aus diesem Grund finden sich auf den vorderen Listenplätzen auch zwei Palästinenser sowie eine aus Äthiopien stammende Aktivistin.

Noch dramatischer sieht es für die Gemeinsame Liste aus, das vielleicht spannendste politische Projekt der vergangenen Legislaturperiode.[7] Sie ist ein Zusammenschluss von vier unterschiedlichen Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel vertreten.[8] Die Liste versammelt sehr unterschiedliche politische Positionen, von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen. Mit 13 Abgeordneten bildete sie bislang die drittgrößte Knesset-Fraktion. Unter ihren Abgeordneten gab es Muslim*innen, Christ*innen, Drus*innen, Beduin*innen sowie einen jüdischen Sozialisten. Vor allem die sozialistische Partei Chadasch sorgte innerhalb des Bündnisses dafür, dass die Gemeinsame Liste für ein Ende der israelischen Besatzung und mehr soziale Gerechtigkeit eintrat.

Allerdings kann die Liste kaum politische Erfolge vorweisen, da sie durchgehend aus dem politischen Geschehen ausgeschlossen wurde. Hinzu gesellten sich personelle Querelen, vor allem der Führungsanspruch des Politikers Ahmad Tibi, was schließlich zu ihrer Spaltung führte. Im April stehen daher vier Parteien in zwei getrennten Listen zur Wahl, die obendrein programmatisch völlig willkürlich zusammengesetzt sind, was ihre Erfolgschancen erheblich mindert.

Aussichten

Somit werden am 9. April wohl der Likud auf der einen und Blau-Weiß auf der anderen Seite das Rennen unter sich ausmachen. Gewinnt das rechtsnationalistische Lager die Wahlen, so wird die jetzige Politik fortgeführt oder intensiviert – zumal Netanjahu wegen der Anklagen gegen ihn und des voraussichtlichen Erstarkens seiner rechtsradikalen Koalitionäre erpressbar sein wird, etwa bezogen auf die Annexion von Teilen der Westbank oder die Vertiefung rechtsnationaler und mitunter messianischer Inhalte im gesamten Bildungssystem. Ob er die kommende Legislaturperiode in Gänze übersteht, hängt indes auch von der Justiz ab. Es ist zumindest zweifelhaft, dass «Bibi» eine Mehrheit für ein Gesetz zusammenbekommt, das amtierenden Premierministern Immunität garantiert.

Verliert das rechte Lager hingegen seine Mehrheit, kommt damit nicht automatisch Blau-Weiß an die Regierung. Denn sie will weder mit dem Likud unter Netanjahu noch mit arabischen Parteien koalieren. Entsprechend schwierig würde sich die Regierungsbildung unter Beteiligung von Parteien aus dem derzeitigen Regierungslager gestalten. Immerhin könnte eine Regierungsbeteiligung von Blau-Weiß den fortschreitenden Abbau der Demokratie aufhalten, die weitere Besiedlung der Westbank verlangsamen und die kriegerische Rhetorik gegen den Iran abschwächen.

Die rechte Hegemonie im Lande bleibt somit aller Voraussicht nach bestehen, und eine neue Friedensinitiative oder die Durchsetzung einer gerechteren Wirtschaftsordnung bleibt die Aufgabe künftiger Generationen.

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Quellen

[1] Ein Erbe des angelsächsischen Systems aus der britischen Mandatszeit. Seine Funktion entspricht in etwa dem Generalbundesanwalt in der Bundesrepublik Deutschland.

[2] Mehr zum Ist-Zustand des israelisch-palästinensischen Konflikts siehe: Cohen, Tsafrir: Lösungsmöglichkeiten aus heutiger Sicht, 31.5.2017.

[3] Zu den Disparitäten der israelischen Wirtschaft siehe Swirski, Shlomo: Nicht wirklich eine Start-up-Nation, 24.9.2016.

[4] Zur Vertiefung siehe den Schwerpunkt «Israelische Demokratie».

[5] Zur Lage der Arbeitspartei siehe auch Manekin, Mikhael: Arbeitspartei auf Abwegen, 20.12.2016.

[6] Die Sperrklausel liegt in Israel bei 3,25 Prozent.

[7] Siehe hierzu Amoury, Hana/Bartal, Yossi/Cohen, Tsafrir: Die «Gemeinsame Liste» und progressive Politik in Israel, RLS-Standpunkte 24/2016.

[8] Diese machen in etwa 20 Prozent aller israelischen Staatsbürger*innen aus. Siehe hierzu auch Espanioly, Nabila: Eine Minderheit, die nicht mehr schweigt, 22.9.2016.

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