Mit der Unabhängigkeitserklärung Estlands 1991 setzte die politische Elite des Landes alles daran, die russische Minderheit aus der Regierung auszuschließen, was eine massive Beschneidung ihrer Bürger_innenrechte zur Folge hatte. Die estnische Linke braucht in ihrem Kampf um Gleichberechtigung dringend die Unterstützung der Europäischen Linken.
Die nationalistischen Parteien, die 1991 in Estland an die Macht kamen, verabschiedeten ein Gesetz, das Russ_innen und Angehörigen anderer nationaler Minderheiten (nicht jedoch Est_innen) das bedingungslose Recht auf die estnische Staatsbürgerschaft aberkannte. Nicht-Est_innen machen heute etwa 32% der Gesamtbevölkerung Estlands aus (etwa 420.000 Menschen; die meisten davon sind russischer Abstammung). Seit Jahrzehnten sind große Teile der russischen Minderheit also nicht in der Lage, Gesetze zu beeinflussen oder ihre rechtlichen und politischen Interessen zu verteidigen; sie wurden in dieser Periode einer nie dagewesenen Anzahl von Bürger_innenrechten beraubt.
Die russische Sprache verlor ihren Status als Amtssprache, obwohl es sich dabei um die Muttersprache von mehr als einem Drittel der Bevölkerung handelt. Die „Erhaltung der estnischen Nation“ (auch zum Nachteil in Estland lebenden Minderheiten) wurde in der Verfassung als eines der Hauptziele des Staats festgeschrieben. Dies stellt die rechtliche Grundlage für die sogenannte „ethnische Überlegenheit“ von Est_innen über andere Bevölkerungsgruppen im Land dar.
Zu Beginn der 21. Jahrhunderts wurden politisch tendenziöse Entscheidungen getroffen, die dazu dienten, Estnisch auch in russischen Schulen als Unterrichtssprache einzuführen. Die russische Minderheit nahm diese Maßnahme als Angriff auf ihre verfassungsmäßigen Rechte wahr, da so Eltern ihres Rechts beraubt werden, die Bildungssprache ihrer Kinder zu bestimmen, und vor allem das Grundrecht der Kinder auf die Bewahrung ihrer eigenen nationalen Identität missachtet wird. Zu diesem Thema gab es keinen Dialog mit den Vertreter_innen der russischen Minderheit (was für diese jedoch von großer Bedeutung gewesen wäre). Anträgen zur Erhaltung einiger russischer Sekundarschulen in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen (vier wurden bis dato eingereicht) gab die Regierung bis heute nicht statt.
Da Estland hauptsächlich von rechten und rechtsnationalistischen Parteien regiert wird, ist die russische Minderheit ethnischem Hass und Intoleranz ausgesetzt. Russ_innen wird nicht nur das Recht abspenstig gemacht, an der Regierung des Landes teilzuhaben, sondern sie werden als Ausländer_innen wahrgenommen, die sich den Anordnungen des Staatsapparats schlicht und einfach zu fügen haben. Fast zwei von drei Russ_innen verfügen nicht über die estnische Staatsbürgerschaft und dürfen daher nicht an den Parlamentswahlen teilnehmen. Einige unter ihnen wurden dazu gezwungen, aufgrund der überhöhten Anforderungen für die estnische Staatbürgerschaft die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ein beträchtlicher Anteil der Russ_innen (derzeit etwa 6% von Estlands Gesamtbevölkerung) sind staatenlos.
Es wurde also eine Art Apartheid-Regime im Land eingerichtet, das einen bedeutenden Bevölkerungsanteil aus ethnischen Gründen seiner Bürger_innenrechte beraubt. Auch für Russ_innen, die estnische Staatsangehörige sind, ist es deutlich schwieriger, an gut bezahlte Arbeitsplätze zu kommen; so sind etwa nur 3% der Beamt_innen Russ_innen. Außerdem ist die Arbeitslosenrate unter Russ_innen deutlich höher als unter Est_innen (besonders in Zeiten der Rezession). Die Einrichtung eines ähnlichen Systems kann auch in Lettland beobachtet werden.
Es ist naiv zu glauben, dass Estland diese Probleme in naher Zukunft wird lösen können, wenn dies in den 26 Jahren seit der Unabhängigkeit nicht gelungen ist. Ohne externen Druck seitens der EU und der gesamten internationalen Gemeinschaft gibt es kaum Chancen auf Erfolg.
Unsere Partei (die Vereinigte Linkspartei Estlands) ist in dieser Thematik besonders aktiv. Wir setzen uns für die Wahrung der Bürger_innenrechte, für Gleichheit und Antirassismus in unserem Land ein und hoffen auf die Unterstützung der gesamten linken Bewegung und besonders der Europäischen Linken (der wir auch angehören).