Nach der Parlamentswahl am 3. März 2018 wird deutlich, dass Italien von zwei Phänomenen geprägt ist: Angst und Armut. Die nördlichen und zentralen Regionen gingen an die Mitte-rechts-Koalition, an deren Spitze jedoch nicht mehr Silvio Berlusconi von der ‚Forza Italia‘ steht, sondern Matteo Salvini von der ‚Lega‘.
Dieser hatte sich bei dieser Wahl nicht mehr ausschließlich auf den Norden konzentriert (und nennt sich nunmehr Lega anstatt Lega Nord) und seine Partei nach dem Vorbild von Le Pens Front National umgebaut.
In den nördlichen Regionen Lombardei und Venetien kam die Mitte-rechts-Koalition auf über 50 Prozent, wovon in den Hochburgen der Lega 33-38 Prozent auf diese entfielen. Im Piemont außerhalb des Turiner Umlandes konnte das Mitte-rechts-Lager nahezu 50 Prozent für sich verbuchen, der Anteil der Lega ist dort jedoch geringer. In den anderen nördlichen Regionen liegt die rechte Mitte fast durchwegs bei über 40 Prozent. In der Emilia, der Toskana und in Umbrien erreichte die Koalition mehr als 35 Prozent; im Latium (mit der Ausnahme Roms) 40 Prozent.
In den südlichen Regionen (einschließlich den Marken) konnte die Fünf-Sterne-Bewegung deutliche Zugewinne verzeichnen. Sie erreichte nahezu 50 Prozent der Stimmen in Sizilien und im Norden Kampaniens, über 40 Prozent in Kalabrien, Basilikata, Apulien, Molise und Sardinien.
In den größeren Städten ergibt sich ein komplexeres Bild: Die Mitte-rechts-Koalition gewann nach dem Mehrheitswahlsystem einige Mandate in Turin, Mailand, Venedig und Palermo. Die Fünf-Sterne-Bewegung war diesbezüglich in Turin, Genua, Palermo, Rom und Neapel erfolgreich. In Turin, Mailand, Bologna, Florenz und Rom konnte die Demokratische Partei Zugewinne verzeichnen.
Die 37-38 Prozent (im Parlament bzw. Senat), die die Mitte-rechts-Koalition erreichte, sind dem durchschlagenden Erfolg der Lega zu verdanken: Musste sie sich bei der Parlamentswahl 2013 und der Europawahl 2014 noch mit 4 bzw. 6 Prozent begnügen, schaffte sie 2018 bemerkenswerte 18 Prozent. Forza Italia hingegen erreichte 2013 noch 22 Prozent, im Jahr 2014 nur mehr 17 Prozent und dieses Jahr magere 14 Prozent. Die 32-33 Prozent (im Parlament bzw. Senat) der Fünf-Sterne-Bewegung sollten mit den 26 Prozent, die sie bei der Parlamentswahl 2013 auf sich vereinigen konnte, und den 21 Prozent von der Europawahl 2014 verglichen werden.
Klarer Wahlverlierer ist Matteo Renzi: Seine Demokratische Partei erreichte nur 19 Prozent der Stimmen. Vor fünf Jahren hatte sie noch 25 Prozent, bei der Europawahl 2014 sogar 41 Prozent erhalten. Seine Koalition schaffte es auf 23 Prozent, einschließlich der 2,6 Prozent der Partei +Europa von Emma Bonino.
Auf der Seite der Linken erreichte Liberi e Uguali nur etwas mehr als 3 Prozent der Stimmen – es gelang also nicht, eine signifikante linke Opposition aufzubauen. Die Wahlbeteiligung lag mit 75 Prozent auf einem ähnlichen Niveau wie vor fünf Jahren, während sie bei den Europawahlen bei nur 57 Prozent gehalten hatte.
Geteilte Unzufriedenheit
Die Mitte-rechts-Koalition und die Fünf-Sterne-Bewegung griffen im Wahlkampf auf ein ähnliches Erfolgsrezept zurück: Sie richteten sich an Protestwähler_innen, bedienten sich einer populistischen und EU-skeptischen Rhetorik und vertraten eine migrationskritische Einstellung. In der Mitte-rechts-Koalition koexistieren darüber hinaus sehr unterschiedliche Interessen: Jene der Mächtigen im Umkreis von Berlusconi sowie die komplexen internen Machtverhältnisse der Koalition bzgl. politischer Hegemonie noch mehr als in Bezug auf die Regierungsbildung. Die Fünf-Sterne-Bewegung versucht sich außerdem von einer Protestbewegung in eine Regierungspartei umzuwandeln, deren genaue Ausgestaltung im Bereich Identität und politische Agenda erst genauer skizziert werden muss.
Beide Kräfte verfolgen im Norden und Süden jedoch unterschiedliche Richtungen. Die Wurzeln der Lega in den nördlichen Regionen sprachen sich für Steuersenkungen, den Erhalt sinkender Einkommen sowie den Schutz lokaler und nationaler Identitäten aus. Der Süden, der von politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen traditionell im Stich gelassen wurde und von einer neuen Emigration, sozialem Verfall und Kriminalität gezeichnet ist, drückte seinen Protest aus, der neuen politischen Willen fordert. Das größte Hindernis, das Matteo Salvini beim Aufbau eines italienischen „Front National“ im Wege steht, besteht im Unvermögen, dieses regionale Gefälle zu überwinden.
Die seit zehn Jahren andauernde wirtschaftliche und soziale Krise stellt den Hintergrund für diese Entwicklungen dar. Das italienische Pro-Kopf-Einkommen liegt heute wieder auf dem Niveau von vor 20 Jahren. Dramatisch ist der Rückgang der Einkommen des ärmsten Viertels der Italiener_innen um etwa 30 Prozent, die im Süden oder den von Verfall geprägten Randregionen in Mittel- und Norditalien leben. Zwanzig Jahre Stagnation und Niedergang führten zu einer immer weiter gesenkten Erwartung was Einkommen, Arbeit und Lebensstandard betrifft. Für viele Italiener_innen wurde Verarmung zur Realität. Der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung spiegelt die im Süden verbreitete Armut wider; ihre Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn kam deshalb gut an. Die Popularität der Lega illustriert im Norden die Angst vor der Verarmung. Nur in den urbanen Zentren – wo die reichsten und am besten ausgebildeten Bürger_innen leben und die Wirtschaft in einem deutlich besseren Zustand ist – ist das Wahlergebnis ein anderes und fiel günstiger für Forza Italia und die Demokratische Partei aus.
Der Faktor Migration
Armut tritt häufig gemeinsam mit Angst auf: Sie schürt soziale und wirtschaftliche Abstiegsängste, die Angst davor, Immigrant_innen als Nachbarn zu haben oder in einen Wettbewerb mit anderen Armen um gering qualifizierte Jobs einzutreten, sowie Angst vor Sozialabbau. Im Wahlkampf instrumentalisierte man besonders die Angst vor Migrant_innen: Ihr Eintreffen in Lampedusa, das Unvermögen, sie zu integrieren, den Mord und die Schießerei in Macerata. Matteo Salvini verwendete migrationskritische Ressentiments als sein wirksamstes politisches Werkzeug. Die Fünf-Sterne-Bewegung drückte dieselbe Feindlichkeit aus: So nannte sie NGOs, die Migrant_innen aus dem Mittelmeer retten, „Wassertaxis“ für illegale Einwanderer_innen und verweigerte ihre Zustimmung zur Verleihung der italienischen Staatsbürgerschaft an Italiener_innen der zweiten Generation mit Migrationshintergrund.
Angst und Armut wurden durch eine Verschraubung zu den Kräften, die die italienische Politik hauptsächlich formen. Angst stellt heute die Ideologie der Lega dar; Armut beschreibt die Umstände, in denen die Fünf-Sterne-Bewegung erfolgreich ist. Die Kategorien „rechts“ und „links“ werden durch eine Politik der Angst und das Wehklagen der Verarmten ersetzt – jener, die ausgeschlossen werden.
Die Tragödie der Linken ist, dass sie sich zwar seit über zweihundert Jahren Gleichheit, soziale Sicherheit und Solidarität auf ihre Fahnen heftet, sich jedoch zunehmend im Schwund kollektiver Identitäten verliert: Sie bedient sich immer seltener politischer Praktiken, mit denen sie tatsächlich Menschen erreicht und wendet sich einer Regierungspolitik zu, die in immer stärkerem Kontrast zu ihren Werten steht. Im Zuge des aktuellen politischen Niedergangs muss betont werden, dass gefährliche Impulse wie Angst und Armut jedoch mit den Werkzeugen der Demokratie ausgedrückt werden: Eine hohe Wahlbeteiligung von 75 Prozent stellte am 4. März die einzige gute Nachricht dar.