Arbeitsmärkte und Beschäftigung: Die Krise der Europäischen Union

Die heutige Situation weist viele Paradoxa auf. Während die neoliberalen „Washington Consensus“-Politiken, die vor dreißig Jahren den Entwicklungsländern aufgebürdet wurden, alle versagt haben, werden jetzt dieselben Politiken in Westeuropa eingeführt. Die sie seit den 1990er Jahren begleitenden „Politiken zur Verringerung der Armut“ haben gleichermaßen versagt, sodass die Ungleichheit überall zu- statt abgenommen hat. Das erklärt, warum viele UN-Organisationen jetzt – wieder einmal – nicht nur universelle soziale Absicherung, sondern diese sogar im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Transformation fordern. Im Juni 2012 wird die ILO wahrscheinlich eine Empfehlung zugunsten einer „sozialen Grundabsicherung“ annehmen, die in Zusammenhang mit ihrer Kampagne zum Voll-Versicherungsschutz steht. Gleichzeitig werden in der Europäischen Union Sozialstaaten abgebaut, so als gäbe es aus den negativen Erfahrungen in der „Dritten Welt“ nichts zu lernen. 
Diese neoliberalen Politiken mit ihren Privatisierungen, Deregulierungen und der Zersetzung des Arbeitsrechts schaffen ständig Armut, während eine ernsthafte Armutsbekämpfung genau mit der Einbremsung der Verarmungsprozesse beginnen sollte, insbesondere mit der bestmöglichen Armutsprävention, die wiederum in sozialer Sicherheit besteht.
Heute liegt die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union bei 10%, wobei sie mit 25% in Spanien am höchsten ist, gefolgt von Griechenland mit über 20% und Portugal mit 15%. Die Jugendarbeitslosigkeit in  der Europäischen Union liegt bei durchschnittlich 21% und steigt weiter, wobei sie 50% in Spanien, 45% in Griechenland und 35% in Portugal  ausmacht. Sogar in der wohlhabenden Stadt Brüssel liegt sie bei 45%.
Junge Menschen arbeiten auch besonders oft zu niedrigen Löhnen und machen eine überdurchschnittlich hohe Zahl der „Working poor“ der Welt aus. Überall gilt: Sie sind die letzten, die eingestellt und die ersten, die wieder gekündigt werden.  
Dennoch, so Philippe Pochet (Leiter des European Trade Union Institute), konzentrieren sich die sozialen Diskurse in der EU noch immer auf Armut und Kinderarmut und ignorieren gänzlich den Aspekt der Ungleichheit(en). Heute muss man sich OECD-Untersuchungen ansehen, um weiteres Datenmaterial zu Ungleichheiten zu finden. Und die OECD gibt sogar zu, dass sie in der Vergangenheit einige Fehler gemacht hat. Allerdings hört die EU diese Botschaft offenbar nicht.
Das ETUI hat soeben eine Studie zur Aushöhlung des Arbeitsrechts in der Europäischen Union veröffentlicht. Diese zeigt, dass das nichts mit der Schuldenproblematik zu tun hat. Es handelt sich um einen massiven Angriff auf kollektivvertragliche Rechte und die Institutionen, die in der Vergangenheit mehr Gleichheit schaffen konnten. Höchstwahrscheinlich hat das mit dem „Fenster der Gelegenheit“ zu tun, das sich in den Augen der Regierungen aufgetan hat, und mit der Abwertung des Sozialen, die sie im Rahmen der Europäischen Währungsunion praktizieren.
Durch die neoliberale Kommission, der eine Art „Autismus” vorgeworfen werden kann, hat sich die Lage noch verschärft. Früher verfügten große Länder über zwei Kommissare, von denen einer in der Regel ein Sozialdemokrat war. Dieses Gleichgewicht ist Geschichte, und seit auch die meisten Regierungen rechtsgerichtet sind, ist die Idee der europäischen Integration mehr und mehr gefährdet.   
Die europäische Krise muss vor dem Hintergrund sich verändernder internationaler Beziehungen und veränderter kapitalistischer Produktions- und Akkumulationsweisen gesehen werden, betont Walter Baier (Koordinator von transform! europe). Das produktionsorientierte Zivilisationsmodell befindet sich ebenfalls in der Krise. Das sind tiefe strukturelle Probleme, die, sollten sie nicht bald gelöst werden, schon in naher Zukunft sehr ernste Folgen zeitigen werden.
Was auf dem Spiel steht, sind der Wohlfahrtsstaat selbst und die europäische Integration. Die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die die Neoliberalen anstreben, können niemals umgesetzt werden, wenn die Gewerkschaften stark sind, aber auch nicht im Rahmen des bestehenden Gesellschaftsmodells. Es handelt sich also um ein von langer Hand geplantes Projekt, und ist weniger irrational als es scheint.
Dieser Logik, die auch zu einem Anwachsen des Nationalismus führt, müssen wir eine andere Logik entgegensetzen. Was es braucht, ist ein breites Bündnis von linken Kräften, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, Menschen aus dem Kulturbereich, ExpertInnen und politische VertreterInnen. Wir müssen eine andere Erzählung erfinden, da wir nicht mehr in die Geschichte zurückkehren können. Aber unsere Positionen sollten dabei klar und unmissverständlich sein.
Céline Moreau (Jugendorganisation des FGTB / Fédération Générale du Travail de Belgique) betont die spezifischen Probleme junger Menschen. Das große Problem ist nicht die fehlende Übereinstimmung zwischen Fertigkeiten und Anforderungen, sondern der Mangel an einer ausreichenden Anzahl guter Arbeitsplätze.  Darüber hinaus kommen die Arbeitgeber in Belgien ihrer Ausbildungsverpflichtung nicht nach. Es ist paradox, dass einerseits ältere Menschen dazu verpflichtet werden, länger zu arbeiten, während jungen Menschen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt bleibt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist heute ein strukturelles Problem; junge Menschen sollten bessere Möglichkeiten vorfinden als bloß eine Lehre absolvieren zu können; mehr Arbeitsplätze sollen geschaffen werden. 
Was Griechenland betrifft, weist Panayota Maniou (Europäisches Parlament) darauf hin, wie tragisch die Lage ist. Es ist kein Zufall, dass die Länder im Süden als erste die Attacke zu spüren bekamen, weil ihre Sozialstaaten am schwächsten ausgeprägt sind. Die Mindestlöhne sind um 22% gesunken, die Löhne für junge Menschen sogar um 32%. Viele Menschen verlassen jetzt das Land, was zu einem „Brain Drain“, zur Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, führt. Es ist äußerst dringlich klarzumachen, dass es eines kollektiven Kampfes bedarf, und zwar um Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze und soziale Rechte.
Eines der Hauptthemen in dieser Diskussion war der Glaube an mögliche Alternativen und die Frage, ob es sich bei dem, was da gerade implementiert wird, um eine bewusste Strategie handelt. Viele Menschen haben in der Tat den herrschenden Diskurs akzeptiert, wonach Budgetkürzungen notwendig seien, um die Zukunft der Sozialstaaten zu gewährleisten. In Deutschland besteht eine Divergenz innerhalb der Eliten, ob man den Euro und die europäische Integration noch retten soll. Aber der Punkt ist ja, dass die neoliberale Ausrichtung der Politik heute keine Besonderheit der Europäischen Union und ihrer Institutionen ist, sondern auch von allen Regierungen geteilt wird. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Gewichtsverschiebung, die verantwortlich ist, sondern die Ideologie selbst. 

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