Aufstieg und Fall des Wohlfahrtsstaates

Asbjørn Wahl zu Norwegen als „Oberdeck der Titanic“ und zum Wohlfahrtsstaat, der nie von der Arbeiter_innenklasse gefordert worden war – und warum dessen Ära vorbei ist. Außerdem zum „echten“ und zeitgenössischen Kapitalismus und zur Sackgasse, in der die europäische Gewerkschaftsbewegung steckt.

Norwegen wird innerhalb Europas und darüber hinaus als eines der (ökonomisch, sozial usw.) erfolgreichsten Länder angesehen. Als solches wird Norwegen üblicherweise als Modell betrachtet, an dem sich andere Länder orientieren. Die wirkliche Frage wäre allerdings: Stellt Norwegen in diesem Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus und der Krise, die er hervorgerufen hat, tatsächlich eine Ausnahme dar?

Norwegen befindet sich gegenwärtig in einer besseren Position als die meisten anderen Länder dieser Welt. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Erstens ist Norwegen von der Natur begünstigt. Insbesondere sind wir aktuell ein wohlhabendes, Öl produzierendes Land (das aber auch reich an Fischvorkommen und Wasserkraft zur Elektrizitätsgewinnung ist). Das bringt der Regierung einen hohen jährlichen Budgetüberschuss, um den uns die meisten Länder beneiden können. Die Erdöl gewinnenden und verarbeitenden Industriezweige schaffen auch Arbeitsplätze in großer Zahl, was im weltweiten Vergleich die Arbeitslosigkeit auf einem der niedrigsten Levels hält, bei ungefähr oder unter 3%. Diese niedrige Arbeitslosenrate bedeutet, dass die Gewerkschaften am Verhandlungstisch noch immer relativ stark sind.

Zweitens war Norwegen bereits unter den höchst entwickelten Wohlfahrtsstaaten, als erstmals Öl entdeckt wurde (in den 1960er Jahren). Mit anderen Worten: Das Kräftegleichgewicht in der Gesellschaft war so beschaffen, dass es möglich wurde, den Großteil der Einnahmen aus dem Erdöl zu vergesellschaften, was einen Unterschied zu den meisten anderen Öl produzierenden Ländern darstellt, in denen sich große Erdölgesellschaften und/oder lokale Eliten den Großteil der außergewöhnlich hohen Profite aus diesem Wirtschaftszweig aneignen. Daher ist es weder notwendig noch politisch möglich gewesen, dieselbe Art strenger Sparpolitiken in Norwegen anzuwenden wie dies im Rest Europas der Fall war. Der relativ große öffentliche Sektor hat – im Gegensatz zur neoliberalen Mainstream-Theorie – auch zur Stabilisierung der Wirtschaft und zur Verringerung der negativen Auswirkungen der Krise des Jahres 2008 beigetragen, und zusätzliche Einnahmen aus der Ölgewinnung flossen zwischen 2008 und 2009 in die staatliche Industrie, um die Auswirkungen der Krise weiter zu dämpfen.

Andererseits haben wir auch in Norwegen erlebt, wie die Regierungen in den letzten 30 Jahren einen mehr oder weniger stark ausgeprägten neoliberalen Kurs verfolgten – dies trifft sowohl auf rechte als auch so genannte linke Regierungen zu. Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung haben stattgefunden. Das Pensionssystem ist reformiert und somit geschwächt worden, was zu Pensionskürzungen für die meisten Menschen, zu weniger Umverteilung von oben nach unten und zu einer Anhebung des individuellen Risikos geführt hat. Methoden des so genannten Public Management wurden im öffentlichen Bereich eingeführt, sodass z.B. der Spitalsbereich stärker marktorientiert ausgerichtet wurde; Ungleichheit und Kinderarmut haben zugenommen usw. All dies hat in einer moderateren Form als im übrigen Europa stattgefunden, wenngleich die Richtung dieselbe war.

Meiner Ansicht nach ist die gegenwärtig günstige Situation, in der Norwegen sich befindet, eine äußerst fragile. Das Land ist tief verstrickt in die europäische und die Weltwirtschaft und daher stark von der neoliberalen Offensive betroffen. Ein weiterer Einbruch der Weltwirtschaft kann die norwegischen Exporte schwer beeinträchtigen. Sollte dies eintreten, wird die Arbeitslosigkeit rapide zunehmen und infolgedessen die Gewerkschaftsbewegung beträchtlich geschwächt werden, eine Gewerkschaftsbewegung, die noch immer tief in die sozialpartnerschaftliche Ideologie eingebettet und deshalb weniger imstande ist, für heftigere Auseinandersetzungen zu mobilisieren, wenn und sobald dies nötig wird. Ich umreiße die norwegische Situation oft folgendermaßen: Ja, es ist richtig, dass das norwegische Wohlfahrtsstaatsmodell sich aktuell auf dem Oberdeck des globalen Schiffs befindet. Es könnte sich aber herausstellen, dass dies das Oberdeck der Titanic ist.    


Vergleichbar mit dieser spezifischen Situation Norwegens heute können wir sagen, dass es besondere historische Bedingungen waren, die den Aufstieg des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg möglich machten.
Kannst du uns etwas zur Entstehung des Wohlfahrtsstaates sagen?

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates ist eng verbunden mit dem Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital, der in Westeuropa auf die 1930er Jahre bzw. auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Somit war der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates auch in Norwegen stark von globalen Machtverhältnissen beeinflusst (einschließlich der Russischen Revolution und dem darauffolgenden Entstehen eines weiteren, mit dem Kapitalismus in Konkurrenz stehenden Wirtschaftssystems in Zentral- und Osteuropa, dessen Folge auch gewesen war, dass die Kapitalisten im Westen um die Unterstützung ihrer eigenen Arbeiter_innenklasse im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion buhlen mussten). Gleichzeitig gab es auch viele nationale Besonderheiten, die den Wohlfahrtsstaaten in den verschiedenen Ländern je unterschiedliche Ausprägungen und Inhalte verliehen – ebenso wie sie auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen beruhten. Während es zwischen den skandinavischen Ländern (Dänemark, Schweden und Norwegen) einerseits viele Gemeinsamkeiten gab, gab es auf der anderen Seite aber auch viele Unterschiede zwischen ihnen.

In Norwegen bestand historisch bedingt niemals eine starke Oberschicht, weder zur Zeit des Feudalismus noch unter dem Kapitalismus. In dem kleinen, dünn besiedelten Land waren es die Kleinbäuer_innen  die eine wichtige, unabhängige und selbstbewusste Gruppe bildeten. In den 1930er Jahren verzeichnen wir ein starkes Anwachsen und Erstarken der Gewerkschafts- und Arbeiter_innenbewegung – basierend auf einem Klassenbündnis zwischen Arbeiter_innen, Kleinbäuer_innen und lokal verankerten Fischer_innen, die ihre eigenen Boote besaßen. Eine der Folgen dieser Entwicklung war, dass der Faschismus in Norwegen niemals richtig Fuß fassen konnte. Eine weitere Auswirkung war, dass der größte Arbeitgeber_innenverband sich mit der Gewerkschaftsbewegung (im Jahr 1935) auf ein Abkommen einigte – die Formalisierung eines reifen Klassenkompromisses. Ungefähr zur gleichen Zeit gewann die Arbeiter_innenpartei genügend Unterstützung, um in Norwegen die erste Regierung zu bilden. Es war auf Grundlage dieses Kompromisses und dieser Machtverhältnisse, dass der Wohlfahrtsstaat in Norwegen entstehen konnte. 

Somit spielten globale und nationalstaatliche Umstände zusammen, um die Voraussetzungen zur Entstehung des Wohlfahrtsstaats zu bilden. Auf globaler Ebene war es die Bedrohung durch den Sozialismus, die die Kapitalist_innen in Westeuropa dazu brachte, sich auf den Klassenkompromiss einzulassen (der ihrer Ansicht nach das kleinere Übel darstellte). Wir sollten auch bedenken, dass der Wohlfahrtsstaat niemals eine Forderung der Arbeiter_innenklasse gewesen ist, zumindest nicht vor seiner Entstehung (es existierte ja nicht einmal der Begriff des ‚Wohlfahrtsstaates’). Wofür die Arbeiter_innenklasse kämpfte, war der Sozialismus. Wie wir wissen, wurde dieses Ziel nicht erreicht. Der Wohlfahrtsstaat wurde dann das Ergebnis der historisch besonderen Entwicklung, die zum historischen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital führte. Das heißt, der Wohlfahrtsstaat selbst beruht auf einem Interessenskompromiss. Dies ist auch der Grund, warum der Wohlfahrtsstaat so viele Facetten hat und so voller Widersprüche steckt. Während er einen enormen sozialen Fortschritt für die meisten einfachen Leute darstellte, ist es vielleicht jetzt auch an der Zeit, eine ziemlich bescheidene Arbeiter_innenbewegung daran zu erinnern, dass der Wohlfahrtsstaat nicht mit der Emanzipation der Arbeiter_innenklasse gleichzusetzen ist und dies auch niemals war.  


Ist es angesichts der gegebenen aktuellen Klassendynamik realistisch, eine Rückkehr zu jenem wohlfahrtsstaatlichen System zu erwarten, das im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts vorherrschend war?

Meine Ansicht ist, dass die Ära des Wohlfahrtsstaates vorbei ist oder zumindest jetzt ihrem Ende zugeht. Was wir insbesondere in den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern Europas sehen, ist die systematische Zerstörung des Wohlfahrtsstaates. Der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates war, wie vorhin erwähnt, das Ergebnis einer historisch sehr spezifischen Entwicklung, die kaum nachgeahmt oder wiederholt werden kann. Demnach wurde der Wohlfahrtsstaat aufgrund umfassender Regulierungen und Beschränkungen möglich, die dem Kapital auferlegt wurden (Kapitalkontrolle, Regulierung der Finanzmärkte, Bankenregulierung, ein rapides Anwachsen von Staatsbesitz in vielen Ländern und – nicht zu vergessen – demokratische Reformen, die den einfachen Menschen mehr politische Einflussnahme ermöglichten). Die Veränderung der Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, die wir seit dem Beginn der neoliberalen Offensive ungefähr im Jahr 1980 erleben, hat zur Beseitigung dieser Regulierungen geführt, sodass die Machtstruktur, auf der der Wohlfahrtsstaat beruhte, bereits verschwunden ist. Wovon wir jetzt Zeug_innen werden ist mehr oder weniger die Erntezeit für die kapitalistischen und rechtsgerichteten politischen Kräfte, in der sie das neue Kräftegleichgewicht ausnutzen, um sich der besten Teile des Wohlfahrtsstaates zu entledigen (wenngleich nicht aller – er war ja Ergebnis eines Kompromisses, weshalb er auch mal hier, mal dort kapitalistische Interessen widerspiegelt). Sich in der gegenwärtigen Situation für eine Wiedererrichtung des Wohlfahrtsstaates einzusetzen, ist daher relativ sinnlos. Natürlich müssen wir verteidigen, was wir mittels des Wohlfahrtsstaates erreicht haben, aber unsere längerfristige Perspektive sind die Verwirklichung unserer Vision von einer anderen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet ist, und die Entwicklung von Strategien, dorthin zu gelangen.   


Aktuell kann sicher konstatiert werden, dass das System sich in eine gänzlich andere Richtung bewegt. Unter dem Vorwand der Krise implementierte Sparmaßnahmen beseitigen die letzten Reste des Wohlfahrtsstaates. Wird die Krise als Vorwand dafür benutzt, die Macht in den Händen der herrschenden Klasse zu konzentrieren?

Ja, das ist sicherlich der Fall. Ich sehe, dass viele Politiker_innen und Gewerkschafter_innen, auch in der Linken, behaupten, dass die Sparpolitik der Troika (aus EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds) ebenso wie jene der meisten Regierungen Europas falsch ist, da sie nicht zur neuerlichen Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt. Sie versuchen daher, die Troika und die Politiker_innen der EU von der Notwendigkeit einer Veränderung ihrer Politik zu überzeugen. Ich halte das für eine schwerwiegende Fehlinterpretation der Lage. Das kurzfristige Ziel der Troika besteht nicht in der Schaffung von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen. Es besteht in Wirklichkeit darin, den Wohlfahrtsstaat abzuschaffen und die Gewerkschaftsbewegung zu besiegen. Zumindest ist es das, was gerade vor sich geht.


Laut herrschender Interpretation der postsozialistischen Wirklichkeit in Serbien befinden wir uns noch immer auf dem Weg zum „echten Kapitalismus” und es wird behauptet, dass die EU-Integration die meisten wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Gesellschaft lösen wird. Was repräsentiert die EU deiner Meinung nach heute?  

Das klingt in meinen Ohren wie ein politisches Märchen. Worin besteht denn der „echte Kapitalismus“? Ist es der Kapitalismus des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg (der übrigens heute Geschichte ist) oder ist es der um vieles erbarmungslosere, brutalere und krisengeschüttelte Kapitalismus, den wir heute sich vor uns entfalten sehen (und den Samir Amin als ‚verallgemeinerten Monopolkapitalismus’ bezeichnet hat)? Angesichts dessen, was sich zur Zeit in Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, den Baltischen Staaten, Ungarn, Bulgarien usw. ereignet, zu glauben, dass die EU-Integration für Serbien eine blühende Zukunft bringen werde, erfordert wahrlich eine große Portion an unbegründetem Optimismus.

Selbst wenn die EU bereits 1958 (als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) gegründet wurde und damals noch positivere Ziele hatte, hat die EU von heute ihre Form (Abkommen und Institutionen) und Inhalte während der neoliberalen Ära angenommen, was sich deutlich in ihrer Machtstruktur, ihrer Politik und Gesetzgebung widerspiegelt. Daher handelt sie auf äußerst aggressive Weise im Interesse des Kapitals. Neoliberalismus und Sparpolitik sind in der heutigen EU mehr oder weniger in der Verfassung verankert, der Keynesianismus (d.h., traditionelle sozialdemokratische Politik) ist per Gesetz verboten (was interessanterweise von allen sozialdemokratischen Parteien in der EU mitgetragen wird). Die Tatsache, dass die EU von Anbeginn an unter einem schwerwiegenden Demokratiedefizit litt, hat ihr in dieser Hinsicht einen wichtigen Vorteil verschafft. Des Weiteren hat sich die EU in den letzten paar Jahren schnell zu einem immer autoritäreren überstaatlichen Gebilde entwickelt, das in erster Linie im Interesse des Finanzkapitals agiert – eine Entwicklung, die angesichts der jüngsten europäischen Geschichte nur als äußerst gefährlich angesehen werden kann. 


Heute werden wir Zeug_innen von Massenmobilisierungen und -protesten in der ganzen EU. Dabei spielen die Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Kannst du uns sagen, wie sehr sich im letzten halben Jahrhundert Gewerkschaften und ihre Stärke und Position in der Gesellschaft verändert haben? Wie weit lähmen die von der Troika aufoktroyierten Sparmaßnehmen die Gewerkschaften weiterhin, sodass die Arbeitenden im Kampf um den Schutz ihrer Rechte ohne Waffe dastehen?

Heute ist die Gewerkschaftsbewegung in ganz Europa massiven Angriffen ausgesetzt. Der Europäische Gerichtshof hat das Streikrecht eingeschränkt. In mindestens zehn EU-Mitgliedsstaaten sind Kollektivverträge im öffentlichen Sektor von Regierungen ausgesetzt worden, während gleichzeitig Löhne gekürzt wurden, ohne mit den Gewerkschaften darüber zu verhandeln. Auf nationalstaatlicher Ebene werden in mehreren Ländern Gesetze erlassen, um das Streikrecht zu beschränken und um immer extremere Maßnahmen anwenden zu können, z.B. Polizeieinsätze, um das Streikrecht auszusetzen usw.

Zusätzlich dazu wird kapitalistischen Kräften innerhalb der Gesellschaft immer mehr Macht eingeräumt und werden Richtlinien auf EU-Ebene verabschiedet, die es leichter machen, die enormen Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa auszubeuten und im Westen Lohndumping zu betreiben.

All dies hat zu einer Zunahme der Mobilisierungen und Kämpfe auf Seiten von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in vielen Ländern geführt. Allerdings ist die Gewerkschaftsbewegung in Westeuropa in der neoliberalen Ära sehr geschwächt worden und kämpft heute aus einer sehr defensiven Position heraus. Hohe Arbeitslosigkeit und der Verlust von Gewerkschaftsmitgliedern machen wichtige Teile dieses Gesamteindrucks aus. Bisher ist es nicht gelungen, einen koordinierten gesamteuropäischen Widerstand aufzubauen, obwohl die Aktionen vom November letzten Jahres einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung darstellten – als Gewerkschaften in sechs EU-Ländern (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Zypern und Malta), einen gemeinsamen Generalstreik durchführten, während Gewerkschaften in vielen anderen Ländern zu Demonstrationen aufriefen. 

Sowohl auf europäischer als auch auf nationalstaatlicher Ebene sind die meisten Gewerkschaftsbünde stark von der Sozialpartnerschaftsideologie beeinflusst, wodurch sie dem sogenannten sozialen Dialog eine unsinnig hohe Priorität einräumen, in einer Situation, in der die Arbeitgeber_innen großteils bereits den Klassenkompromiss aufgegeben haben und in die Offensive gegangen sind, um – Tag und Nacht – das anzugreifen, was sie früher im Namen des Gesellschaftsvertrags akzeptiert hatten. In der gegenwärtigen Situation bedeutet das eine Sackgasse für die Gewerkschaftsbewegung.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat sogar einen neuen ‚Gesellschaftsvertrag’, d.h., einen neuen Klassenkompromiss initiiert und als sein Kampagnenhauptziel benannt. Es scheint, als wollte er die Arbeitgeber_innen und Politiker_innen davon überzeugen, dass ein neuer Klassenkompromiss (vergleichbar jenem der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg) „im allgemeinen Interesse“ läge. Angesichts der heftigen Kämpfe und der Verschiebung des Kräftegleichgewichts, die vor dem letzten Kompromiss dieser Art stattfanden, klingt all dies jedoch äußerst uninformiert, um es freundlich auszudrücken.


Welches wären deine Vorschläge für künftige Organisierung? Ist es noch möglich, die Waage, die jetzt eindeutig auf Seiten des Kapitals ausschlägt, ins Gleichgewicht zurückzubringen? Und: Sollten wir uns am Ende mit diesem Gleichgewicht zufrieden geben oder die Dinge darüber hinaus weitertreiben?

Ich hätte sehr gerne gesagt, dass wir die Antwort haben, aber es gibt keine schnellen Lösungen. Wir befinden uns heute sehr in der Defensive und es braucht Zeit zur Organisation, zur Mobilisierung und zum Aufbau der sozialen Stärke, die nötig ist, um den feindlichen Angriffen von Seiten des Kapitals und der Staaten zu begegnen – und so die Kräfteverhältnisse umzudrehen. Unter den Arbeitenden gilt es eine Menge organisatorischer Arbeit zu tun, die auch die wachsende Gruppe prekarisiert und informell Arbeitender meint, die Jugend usw. Dann müssen wir starke soziale Bündnisse aufbauen, zuallererst in der Gewerkschaftsbewegung selbst – und danach aber auch mit anderen sozialen Bewegungen. Der aktuelle Vorbereitungsprozess des Alternativengipfels (www.altersummit.eu) ist in dieser Hinsicht ein interessantes Projekt auf europäischer Ebene. Wie ich bereits erwähnt habe, wird die Gewerkschaftsbewegung auch mit ihrer sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Ideologie brechen müssen, die in Wirklichkeit heute einen nicht mehr funktionierenden Überrest eines Klassenkompromisses darstellt, der bereits Geschichte ist. Das erfordert jede Menge interner Diskussionen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung selbst.  

Allerdings wird uns die Wirklichkeit selbst in dieser Auseinandersetzung helfend zur Seite stehen, da die massiven Angriffe, die zur Zeit gegen die besten Teile des Wohlfahrtsstaates, gegen Arbeitende, Frauen, die Jugend – und nicht zuletzt gegen die Gewerkschaftsbewegung – geführt werden, bei immer mehr Gruppen in der Gesellschaft Widerstand hervorrufen werden. Wir stehen am Beginn einer neuen Ära sozialer Auseinandersetzungen. Gesellschaftsmodelle können jedoch nicht kopiert werden, weder von früheren historischen Phasen noch von einem Land zum anderen. Gesellschaftsmodelle sind die konkreten Ergebnisse von Kämpfen und Machtverhältnissen innerhalb von Gesellschaften. Daher gibt es kein „Zurück zum Gleichgewicht“, in dem Sinne, dass der Klassenkompromiss und der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit neu errichtet werden könnten. Das ist es, was wir hatten, aber wir haben es nicht mehr, genau weil ein solcher gesellschaftlicher Kompromiss niemals ein stabiles Gleichgewicht dargestellt hat und darstellen kann. Das Hauptproblem war ja, dass die Frage des Eigentums nicht vollständig gelöst wurde. Gesellschaftliches Eigentum an Banken und anderen Einrichtungen des Finanzwesens ebenso wie jenes an den Produktionsmitteln wird daher wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden müssen – ebenso wie Demokratie, wirkliche Demokratie, um frühere Fehler der emanzipatorischen Kämpfe der Arbeiter_innenklasse zu berichtigen.

 

Das Interview wurde geführt von Vladimir Simovic und Darko Vesić (Zentrum für emanzipatorische Politik, CPE, Serbien).

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