Ein Open Sapce zu den Fragenen der digitalen Revolution, der Zukunft der Arbeit, der Handelspolitik und Interventionsmöglichkeiten radikaler linker Politik.
transform! europe und das Asia Europe People’s Forum arbeiten bereits seit geraumer Zeit gemeinsam am Thema „Commons“. Beim letzten größeren Treffen in Barcelona im Juni 2018 hat Rachmi Hertani (Global Justice Executive Director in Indonesien und Mitglied im Organisationskommitee des AEPF) vorgeschlagen, diese Kooperation auch in anderen Bereichen auszubauen. Rachmi schlug die digitale Revolution als gemeinsames Projekt vor.
In Europa und Asien stehen die Bevölkerungen gleichermaßen vor den Herausforderungen der digitalen Revolution. In weiten Teilen Europas wird der ursprünglich aus dem Deutschen stammende Begriff „Industrie 4.0“ inzwischen für bestimmte Entwicklungen in der Industrie verwendet. Interessanterweise hat auch der indonesische Staat diesen Begriff übernommen. Derzeit erstellt Indonesien einen eigenen Entwicklungsplan auf Grundlage der digitalen Revolution in Handel und Fertigung. Was bedeutet diese Entwicklung für Arbeiter_innen und die sozio-ökologische Transformation unserer Gesellschaften? Die Zukunft dieser Technologien wird nicht nur vom Klassenkampf in den Nationalstaaten geprägt, der Einfluss internationaler Handelspolitik ist mindestens ebenso wichtig. Verträge wie TTIP und TiSA, aber auch die Verhandlungen in der WTO sind von Bedeutung. Wir wollten über den gesamten Fragenkomplex der digitalen Revolution, der Zukunft der Arbeit, der Handelspolitik und Interventionsmöglichkeiten radikaler linker Politik sprechen.
Am 30. September 2018, beim Open Space des APEF in Gent, Belgien, haben wir uns diesen Fragen zugewendet.
Die folgenden Sprecher_innen haben verschiedene Aspekte dieses Bündels an Herausforderungen und Möglichkeiten diskutiert:
Roland Kulke, Koordinator der transform! Arbeitsgruppe für Produktive Transformation hat sich in seiner Einführung auf die sozialen Konstrukte der vorgeblich materialistisch-technologischen Revolution konzentriert, aber auch den realpolitischen Einfluss auf die zwischenstaatliche Machtpolitik betrachtet und nicht zuletzt möglichen positiven Folgen für „die einfachen Leute“.
Matteo Gaddi von Punto Rosso (Mailand, Italien) gab eine detaillierte Einführung in die Bedeutung der Industrie 4.0. Welche technischen Entwicklungen gibt es im Einzelnen, wie verändern diese Entwicklungen globale Wertschöpfungsketten, wie versuchen Kapitalist_innen, den Körper – und indirekt auch die „Seele“ – der Arbeiter_innen zu kontrollieren?
Nadia Garbellini, ebenfalls von Punto Rosso, hat diese Analyse „politisiert“, als sie die Herausforderungen und Möglichkeiten der transnationalen Zusammenarbeit von Arbeiter_innen entlang der weltweiten Wertschöpfungsketten besprach. Der derzeitige Zustand des Spätkapitalismus findet Ausdruck in der strategischen Situation der Logistikbranche. Punto Rosso forscht derzeit zu der Frage, wie diese strategisch wichtige Branche zum Vorteil der Arbeiter_innen genutzt werden kann.
Olisias Gultom von Indonesia for Global Justice diskutierte kritische Punkte der indonesischen Strategie für die Industrie 4.0. Die schwache industrielle Basis ist eine echte Herausforderung für die indonesische Wirtschaft, weshalb der Plan der Förderung des Binnenhandels zu viel Bedeutung beimisst. Olisias zeigte auf, dass im Ergebnis möglicherweise in einem ersten Schritt kapitalistische Beziehungen tiefer in die „Arterien“ der indonesischen Gesellschaft einziehen, wenn auch nur im Bereich der Distribution, nicht der Produktion, weshalb sie ohne positive produktive Folgen bleiben werden. In einem zweiten Schritt könnte internationales Kapital (GAFA) diese etablierten Beziehungen übernehmen und damit die indonesische Gesellschaft fernsteuern.
Tony Salvador vom Third World Network schlug eine Brücke von den europäischen und indonesischen Beispielen zum internationalen Kampf um die Regulierung des Handels. Die EU bereitet derzeit die nächste WTO-Verhandlungsrunde zum E-Commerce vor. Offenbar will die EU, dass WTO-Mitglieder Unternehmen aus aller Welt Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen geben, selbst solchen, die keine Niederlassung im jeweiligen Land haben. Das wäre das Ende einer politischen Strategie: Derjenigen, mit der weniger entwickelte Länder ihre eigene Wirtschaft durch die öffentliche Beschaffung fördern können. Im Bereich Daten will die EU keine Vorgaben zur regionalen Speicherung, und das, obwohl Daten heute die wertvollste Ressource eines Landes sind.
Streiks und "Workable Work"
In der Diskussion kamen viele konkrete Beispiele zur Sprache, in denen Arbeiter_innen Boden gutmachen konnten, weil sie Lücken in der neuen Digitalwirtschaft zu ihrem Vorteil ausnutzen konnten.
So wurden im Juni und September 2017 in den beiden Volvo-Fabriken in Gent (Volvo PKWs der chinesischen Geely mit 5.000 Arbeiter_innen und Volvos Renault Trucks-Werk mit 3.000 Arbeiter_innen) mehrere Tage lang gestreikt.
Bei diesem Streik ging es nicht um Löhne oder Beschäftigung, sondern um den Arbeitsplatz selbst, den Mangel an Respekt durch das Management und um das, was die belgischen Gewerkschaften „workable work“ nennen und was im Zusammenhang steht mit der „arbeitbaren und flexiblen Arbeit“, die die belgische Regierung in Umsetzung der europäischen Agenda 2020 einführt.
Die Arbeiter_innen haben auf neue Art in die Produktionsprozesse eingegriffen, denn neue Technologien bieten auch neue Möglichkeiten zum Widerstand. Die neuen Möglichkeiten in den Volvo-Werken beruhten auf dem Andon-System, einer japanischen Methode aus dem Visual Management (Bestandteil des Toyota Produktionssystems). Dieses System steigert die Verantwortung jeder/s Arbeiter_in, stärkt aber andererseits auch ihren Einfluss, denn jede_r kann die gesamte Fertigungsstrecke stilllegen, falls es Probleme gibt: fehlender Nachschub an Bauteilen, ein verursachter oder gefundener Defekt, Fehlbetankung oder bestehende Sicherheitsprobleme. Die Arbeit ruht solange, bis eine Lösung gefunden ist.
Dasselbe Muster sieht man in anderen Werkstätten der „workable work“-Bewegung: Den Willen, bei der Arbeit Position zu beziehen und die Verletzlichkeit eines generalisierten Managements auszunutzen. Während eines LIDL-Streiks wurden so Verteilerzentren blockiert. Die Leitung von LIDL war gezwungen, weitere Arbeitskräfte bereitzustellen.
Ebenfalls Erwähnung fand die Tatsache, dass eine der wichtigsten internationalen Debatten, nämlich die um die Commons, ebenfalls stark von der Industrie 4.0 beeinflusst wird. Das wird besonders deutlich, wenn wir die soziopsychologischen Folgen der neuen Führungsmethoden betrachten, die man als „Taylorisierung des Gehirns“ bezeichnen könnte. Derzeit beweisen Streiks in Polen die Notwendigkeit aktiver Mitarbeit, auf dem Mikrolevel zwischenmenschlicher Beziehungen einerseits und auf internationaler Ebene andererseits. Nur transnationale Streiks haben heute in unserer verflochtenen Zeit Aussicht auf Erfolg. Offen bleibt die Frage, wie wir den Kampf um die Industrie 4.0 mit dem angesichts der zunehmenden Klimakrise notwendigen Umbau unserer Volkswirtschaften verbinden. Dies muss weiter diskutiert und analysiert werden.
Die Powerpointpräsentationen der Vortragenden (Englisch) finden Sie auf der rechten Seite als pdf zum Download;