Der bulgarische Protestwinter

In den letzten beiden Monaten wurde Bulgarien, das passivste Land auf dem traditionell kriegerischen Balkan, von Protesten erschüttert. Seit Anfang Februar sind viele Bewohner/innen in den meisten Großstädten des Landes auf den Straßen, um gegen die Erhöhung der Strom- und Heizkosten zu protestieren. Nach nur wenigen Nächten mit Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden trat die Regierung von Bojko Borissow und seiner Partei GERB zurück.

Es folgte eine Woche, in der der Form halber verhandelt wurde. Präsident Rossen Plewneliew löste das Parlament auf, nachdem er allen dort vertretenen Parteien das Mandat zur Regierungsbildung angeboten hatte, was diese bereits abgelehnt hatten, und bestellte eine Interimsregierung. Die Wahl ist für 12. Mai angesetzt, zu früh, damit sich auch neue Akteur/innen profilieren können. Um dies zu verhindern, bestand die erste Reform der neuen Interimsregierung darin, die bereits jetzt hohen Kosten für Wahlkämpfe ein weiteres Mal zu erhöhen.

Die Proteste begannen mit wirtschaftlichen Forderungen. Ein beträchtlicher Geldbetrag wurde nicht für Strom an sich eingehoben, sondern für Steuern auf seine Verteilung. Die für die Stromversorgung zuständigen Unternehmen – 2005 privatisiert und an große ausländische Unternehmen verkauft –, die mit dem Staat einen Vertrag unterzeichnet hatten, wonach sie entschädigt werden würden, für den Fall, dass sie Verluste schrieben, haben mittels Absprachen die Preise in die Höhe getrieben. Allerdings wird im postsozialistischen Bulgarien jede Rhetorik gegen Sparpolitik und den freien Markt entweder als „kommunistisch“ (d.h. als böse) verurteilt oder von der neoliberalen Sozialistischen Partei völlig sinnentleert verwendet. Daher war es nicht überraschend, dass den Protestierenden der entsprechende Wortschatz fehlte, um ihren Protest mit Forderungen nach einem deutlichen strukturellen Wandel zum Ausdruck zu bringen. Widersprüchliche wirtschaftliche Forderungen wurden gestellt: So wandte man sich gegen Monopole, sprach sich aber für eine Verstaatlichung der für die Stromversorgung zuständigen Unternehmen aus. Die Forderung nach einer „gänzlichen Veränderung des Systems“ wurde ohne ein klares politisches Programm für die Zukunft gestellt – weder ein linkes noch ein rechtes.   

Der anfängliche Schwung, der die Proteste auszeichnete, ist inzwischen verebbt und hat einer Reihe äußerst alarmierender Phänomene Platz gemacht. Einige (selbsternannte) Führer des Protests sind bereits im Rampenlicht erschienen und haben sich zerstritten. Die Hälfte von ihnen hat den Wahlkampf um Parlamentssitze aufgenommen, wobei sie sich einer Randpartei bedienen, die kaum Chancen auf parlamentarische Vertretung hat. Dieselben „Gesichter“ der Proteste, die soeben noch erklärt hatten, an Parteipolitik kein Interesse zu haben und für einen Systemwandel zu stehen, haben dieser Tage erklärt, dass das System nur „von innen“ verändert werden könne. Außerdem auszumachen waren Figuren, die sich mit der ultrarechten, antitürkischen und anti-Roma Partei VMRO zusammentaten. Ebenso wie ATAKA, der anderen rechtsextremen Partei, die im nationalen und europäischen Parlament vertreten ist, ist es der VMRO in letzter Zeit gelungen, die Zahl ihrer Anhänger/innen zu verdoppeln. Ihre Vertreter reisen nun mit populistischen Sprüchen durchs Land, in denen sie „Verstaatlichung“, „Umverteilung“ und „Sicherheit“ fordern. Das klingt recht gut, aber Achtung: Die Führer dieser Parteien, die ganz offen für verurteilte Nazi-Hooligans, ethnisch begründete Vertreibungen und rassistische wie chauvinistische Politik eintreten, sehen als Nutznießer/innen von Umverteilung nur „ethnisch reine“ Bulgar/innen. Die kleine Linke verfügt weder über die menschlichen noch die finanziellen Ressourcen, die wachsende Hegemonie der Nationalisten zu brechen. Sie entsteht nur langsam und beinahe unbemerkt in dem politischen Vakuum, das von der Ideologie des freien Marktes und des EU-Beitritts geschaffen wurde, was von Sozialisten und allen anderen Parteien offen begrüßt wird.   

Gleichzeitig haben Armut und Entbehrung für viele bulgarische Familien deutlich zugenommen. Alleine im Jahr 2012 haben 36.000 bulgarische Familien ihre Häuser verloren, weil sie nicht in der Lage waren, ihre Kredite zu bezahlen. In etwas mehr als einem Monat haben sechs Selbstverbrennungen stattgefunden. Eine Lawine weniger brutaler Selbstmorde und Todesfälle aufgrund stressbedingter Gesundheitsprobleme ist zu verzeichnen. Inmitten der anhaltenden Stagnation und ohne einem handlungsfähigen Parlament ist die neue Regierung außerstande, mehr als bloß kosmetische Verbesserungen durchzuführen. Die Zuteilung von 30 Euro an bedürftige Familien – ein Betrag, der die Erhöhung der Stromrechnung eines bescheidenen Haushalts kaum auffangen konnte – ist eine mehr als ungeeignete Maßnahme, die Menschen vor der chronischen Armut zu bewahren. Und während die Bulgar/innen überwiegend vom Einkommen eines im Ausland lebenden Familienmitglieds abhängig sind, lassen die Krise, die in Südosteuropa grassiert, und die Negativkampagnen gegen Bulgaren und Rumänen in den Kernländern der Europäischen Union die Aussichten für die Bewohner/innen der zwei ärmsten Länder der EU äußerst düster erscheinen. David Camerons Forderung nach „härteren“ Maßnahmen kennzeichnet bloß eine weitere Etappe in einer andauernden Kampagne gegen bulgarische und rumänische Bürger/innen, zu der die Erklärung Deutschlands, seine Schengen-Grenzen zu schließen, die holländische Hotline gegen Arbeiter/innen aus den beiden Ländern und die Vertreibungen von Menschen mit Roma-Abstammung aus Frankreich gehören. Die Botschaft ist klar: Die EU ist nicht mehr länger ein reicher Club bzw. ist sie dies nur für die transnationalen Wirtschaftseliten, woran wir gerade durch die zypriotische Bankenkrise erinnert werden. Bulgarien und Rumänien wurden einer ökonomischen und politischen Strukturanpassung unterzogen, nur um eine zweitklassige Bürger/innenschaft zu erhalten: hohe Kosten und kaum Vorteile.    

Für die Zukunft tun sich zwei Szenarien auf, die einander nicht ausschließen: eine Pattsituation im Parlament“ und die zusätzliche Kaffeetasse“. Das nächste Parlament, das die Bulgar/innen wählen, wird höchstwahrscheinlich in einer Pattsituation festgefahren sein: mit zwei oder mehr der gegenwärtigen politischen Akteur/innen in einer instabilen Koalition. Was die Proteste geändert haben ist, dass zum ersten Mal innerhalb eines Jahrzehnts die Macht der konsolidierten politischen Klasse ernsthaft erschüttert wurde. Und wenn diejenigen, die an der Macht sind, ihren politischen Kurs nicht radikal ändern, werden sie im nächsten Winter mit einer neuen Protestwelle konfrontiert sein. „Eine zusätzliche Tasse“ ist ein Ausdruck, den der verstorbene italienische Schriftsteller Tonino Guerra prägte. Dieser Ausdruck bezeichnet eine Praxis der Solidarität, wonach die wohlhabenderen Besucher/innen eines Cafés eine zusätzliche Tasse Kaffee bezahlen, die der Kellner an einen Gast serviert, der sich keine leisten kann. Dieser Ausdruck hat sich im bulgarischen Internet in letzter Zeit wie ein Virus verbreitet. Eine wachsende Zahl an Cafés und Geschäften im Land bietet jetzt dieses Service an, damit Menschen ihren Mitmenschen in Not helfen können. Diese Praxis wird zwar das strukturelle Problem nicht lösen und auch in einem Land nur schwer Wurzeln schlagen, in dem Vereinzelung, Entfremdung und die Auflösung sozialer Werte schon lange die herrschende gesellschaftliche Realität darstellen. Was sie jedoch zum Ausdruck bringt, ist die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit einer Organisierung an der Basis unabhängig vom Staat oder internationalen Geldgebern.

Es ist das erste Mal in der postsozialistischen Geschichte Bulgariens, dass der egoistische Individualismus, der in den Übergangsjahren so vollständig und unkritisch gutgeheißen wurde, als Wert in Frage gestellt wird. Die Bulgar/innen haben jetzt damit begonnen, bestehende Praxen und Arten der Solidarität und Selbstorganisierung zu übernehmen, neue zu entwickeln und sich an alte und vergessene zu erinnern. Ein besseres Regierungssystem und eine Abkehr von der unmenschlichen Wirtschaftspolitik sind noch zu bewerkstelligen. Das gilt auch für ein noch zu entwickelndes Bewusstsein für Autonomie und den ebensolchen Grad politischer Reife: ein dorniger Weg für Bulgarien wie für alle anderen von der Krise gebeutelten Länder.

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