Die Ergebnisse der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September verbinden sich aus linker Sicht mit frohen Botschaften in Bezug auf die eigenen Wahlergebnisse, aber auch mit ernsthafter Besorgnis mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte der Alternative für Deutschland (AfD).
Die Wahlergebnisse im Überblick
Die SPD blieb mit 21,6 Prozent zwar stärkste Partei, verlor jedoch knapp sieben Prozent ihrer Wähler_innen und erreichte so in Berlin ein neues historisches Tief. Das gilt auch für die CDU, die erstmals mit 17,6 Prozent unter 20 Prozent blieb. Auch die Grünen verloren leicht und landeten mit 15,2 Prozent hinter der LINKEN auf Platz vier. Die LINKE konnte ihr Ergebnis mit 15,6 Prozent im Vergleich zum Ergebnis von 2011 deutlich verbessern – sie liegt im Osten bei 25 Prozent und im Westen bei 10 Prozent. Letzteres ist neu. Der LINKEN ist nunmehr auch in Berlin wie auch zuvor schon in Hamburg und Bremen gelungen, vermehrt frühere Grün-Wähler_innen an sich zu binden. Die Piraten blieben deutlich unter der 5-Prozent-Hürde. Ihre Wähler_innen sind zu einem erheblichen Teil zur LINKEN abgewandert, nachdem die Partei an sich schon zerfallen war und ein Teil der Parteiprominenz sich für die LINKE ausgesprochen hatte. Dafür schafften die Liberalen (FDP) erneut den Einzug in das Abgeordnetenhaus.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jene Partei, die sich als Gegnerin dieser parlamentarischen Demokratie versteht – die Alternative für Deutschland (AfD). Sie gewann zwar nicht in Höhe der ostdeutschen Flächenländer mit über 20 Prozent, konnte aber über 230.000 Wähler_innen an sich binden, von denen knapp 70.000 zuvor Nichtwähler waren. Es gelingt damit vor allem der AfD, Menschen, die sich von politischen Prozessen verabschiedet haben, zumindest bei Wahlen wieder politisch einzubinden. Knapp 40.000 AfD-Wähler_innen kamen von der CDU, 24.000 von der SPD, 16.000 von der LINKEN, 4.000 von den Grünen, 46.000 von anderen Parteien. Die Ergebnisse der AfD bei den Berliner Wahlen haben gezeigt, dass diese Partei auch in der Lage ist, vor allem in den peripheren Regionen der Metropolen, und gerade dort, wo sich soziale Probleme bündeln, nicht nur Fuß zu fassen, sondern wie in Marzahn-Hellersdorf mit 0,1 Prozent vor der LINKEN stärkste Partei zu werden. Sie wird auf Dauer auch in den städtischen Regionen, die von soziostruktureller und kultureller Abwertung betroffen sind, weiter Fuß fassen.
Besonderheiten von Berlin
Um die besondere Rolle Berlins sowie das Ergebnis zu verstehen, ist es hilfreich, einige wahlpolitisch relevante Besonderheiten der Stadt zu kennen. Berlin ist Land und Kommune zugleich und außerdem Sitz der Bundesregierung. Wenn in Berlin gewählt wird, dann werden an diesem Tag sowohl die Abgeordneten des Landesparlaments (des Berliner Abgeordnetenhauses) als auch die Kommunalpolitiker der 12 Bezirke (die Bezirksverordneten) gewählt. Auf kommunaler Ebene gilt seit 2006 das Wahlrecht ab 16 Jahren. Die Zahl der Abgeordnetenhausmandate liegt gesetzlich bei 130, wobei 78 Mandate in Wahlkreisen nach relativer Mehrheit und die restlichen Mandate den Parteien je nach Wahlergebnis über geschlossene Listen der Parteien vergeben werden. Darüber hinaus sind sogenannte Überhangmandate möglich, die bei Differenzen zwischen Repräsentanz durch Direktmandate und den über die Parteilisten abgebildeten Verhältnissen einen Ausgleich schaffen.
Seit 2011 wird Berlin wird von einer großen Koalition regiert, einer Notlösung, weil Koalitionsgespräche zwischen SPD und Grünen scheiterten und die Ergebnisse der Linken 2011 für eine Fortsetzung einer rot-roten Koalition nicht reichten, wobei eine Fortsetzung dieser Koalition in der Partei die LINKE selbst umstritten war.
Angetreten zu den Berliner Wahlen sind über 20 Parteien. Es war jedoch klar, dass nur ein Teil die 5-Prozent-Hürde auf Landesebene sowie die 3-Prozent-Hürde auf Kommunaler Ebene überspringen würde. Bereits im Vorfeld der Wahlen zeigte sich eine Konzentration auf sieben Parteien: Sozialdemokratie (SPD), Konservative (CDU), Grüne, LINKE, Piraten, Liberale (FDP) und Alternative für Deutschland (AfD). Spätestens ab Juli 2016 wurden der CDU nur noch Werte unter 20 Prozent und der SPD unter 25 Prozent zugeschrieben, d.h. eine Fortsetzung dieser Konstellation schien ab dem Sommer 2016 allein rechnerisch nicht mehr möglich und wurde seit damals auch von Seiten des regierenden SPD-Bürgermeisters nicht mehr angestrebt. Er selbst wollte, wie auch die Mehrheit der Berliner_innen, ein Ende der Großen Koalition und sprach sich für ein rot-grünes Bündnis aus, ohne allerdings öffentlich zu machen, dass rot-grün allein rechnerisch nicht reicht, sondern nur mit der LINKEN als rot-rot-grünes Bündnis möglich ist. Hinsichtlich der Koalitionsbildung sind die Berliner_innen gespalten – nur 49 Prozent sehen darin eine gute Lösung, wobei die zurückhaltende Zustimmung auch mit dem neuen Charakter von Dreierkoalitionen begründet werden kann, die für deutsche Verhältnisse auf Landesebene und mehr noch auf Bundesebene eher ungewöhnlich sind.
Die eigentlich spannende Frage im Vorfeld der Wahlen betraf das Abschneiden der AfD nach ihren Höhenflügen bei allen davorliegenden Landtagswahlen – nicht zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern mit 23 Prozent (ähnlich hoch wie zuvor in Sachsen-Anhalt mit 24 Prozent).
Was waren die Themen des Wahlkampfes?
Anders als bei den übrigen Landtagswahlen 2015/2016 dominierten die Landesthemen, wobei gerade die Probleme der Berliner Flüchtlingspolitik von der Bearbeitung auf Bundesebene kaum zu trennen sind. Die Bilder über die desaströsen Zustände vor der Erstaufnahmestelle von Flüchtlingen in Berlin – des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) – wurden zum sichtbaren Symbol der Unfähigkeit und Unwilligkeit der Konservativen, den Satz von Angela Merkel „Wir schaffen das“ strukturell und finanziell zu untersetzen. Das Thema der Registrierung und Unterbringung von Flüchtlingen wurde vom zuständigen Senator der CDU zunächst unterschätzt, dann so bearbeitet, dass Flüchtlingsheime vor allem dort eingerichtet wurden, wo es der eigenen Klientel nicht schadete, bis der Umgang mit den Problemen den gesamten Senat in eine Legitimitätskrise stürzte. Während die Gesellschaft sich offen zeigte, wurde durch die Verwaltung bei der Unterbringung von Flüchtlingen ein restriktiver Kurs gefahren. Weder der SPD-Bürgermeister, noch die SPD-Integrationssenatorin agierten angemessen und verantwortungsvoll. Ohne Unterstützung der Berliner Zivilgesellschaft wäre die Handlungsunfähigkeit und Unwilligkeit des Senats noch stärker auf den Schultern der Flüchtlinge ausgetragen worden, bei gleichzeitiger „Verehrenamtlichung“ staatlicher Aufgaben.
Ein weiteres zentrales Thema von Berlin ist die soziale Polarisierung der Stadt, auch wenn 80 Prozent ihre wirtschaftliche Situation als gut und nur 19 Prozent als schlecht bewerten. Berlin ist die Stadt mit der zweithöchsten Zahl von Sozialhilfe-Bezieher_innen; jedes 5. Kind in Berlin lebt in Armut – der höchste Satz bundesweit. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen stagniert mit 17,4 Prozent im Vergleich zum Bundesdurchschnitt auf hohem Niveau. Zugleich führen die Mietexplosionen vor allem in den Innenstadtbezirken oder den angrenzenden „hippen“ Szene-Bezirken zu Gentrifizierungs- und Segregationsprozessen, die das soziale und kulturelle Auseinanderdriften der Stadt zur Folge haben und abgehängte Regionen zunehmend sichtbar prägen. So ist es kein Zufall, dass gerade einer der Berliner Ostbezirke, dessen Wähler_innen (die heute andere sind als früher) lange Zeit das politische Überleben der Linken retteten, der letztlich von der Berliner Bevölkerung („Wir fahren ins Ghetto“) sozial und kulturell abgewertet oder besser abgeschrieben wurde, von der AfD gewonnen werden konnte. Aber nicht nur in diesem Bezirk schreiten Abwertungsprozesse voran, die zunehmend auch durch den Zuzug von Menschen geprägt werden, die sich die (hippen) Innenstadtbezirke nicht mehr leisten können, die über geringere Finanzmittel verfügen und so zur Konzentration sozial Schwacher in bestimmten Region beitragen. Diese Entwicklung führte in den letzten Jahren zur Herausbildung sozialer Brennpunkt-Regionen, in denen dann 2015 vom CDU-Senator Flüchtlingsheime angesiedelt wurden. Die soziale Kälte oder Ignoranz dieser Entwicklungen auch durch andere Parteien des Landesparlamentes öffnete den Raum für das Anwachsen rechter, fremden- und ausländerfeindlicher Stimmungen, denen von den Linken vor Ort viel zu schwach begegnet werden konnte. Die Linken dort fanden bei ihren Genoss_innen zu wenig Unterstützung, man konzentrierte sich im Wahlkampf auf die gewinnbaren Regionen. Dahinter steht jedoch ein grundsätzliches Problem der Linken, dass unter den Bedingungen einer regional abnehmenden Präsenz von LINKEN vor Ort bestimmte Regionen zum Teil als nicht mehr erreichbar – das trifft dann eher auf große Bundesländer zu – „abgeschrieben“ werden, z.B. in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, mit der Folge politischer Leerstellen, die dann von der AfD besetzt werden.
Zu den weiteren Berliner Themen gehörten die Verkehrsprobleme der Berliner S-Bahn, das Termin-Chaos bei den Bürgerämtern, der unregulierte Tourismus in den Innenstadtbezirken sowie der unsensible Umgang mit Events im Stadtgebiet und letztlich die never-ending-story des Berliner Flughafens.
Wie ist das Ergebnis im Einzelnen zu bewerten? Perspektiven für die LINKE
Es gibt die bundesweit einzigartige Situation einer mit etwas über 20 Prozent den „führenden“ Bürgermeister stellenden Partei und drei Verfolger-Parteien zwischen 15 und 20 Prozent. Es gibt die AfD als 15-Prozent-Partei in der Hauptstadt und einer der wichtigsten Metropolen des Landes.
Betrachtet man die Ergebnisse von Sozialdemokrat_innen, LINKEN und Grünen, so gab es zwar in der Vergangenheit bereits rechnerische Mehrheiten, die sich aber zu keinem links-grünen Projekt zusammenbinden ließen. Die Frage ist also: Wenn es zu einer rot-rot-grünen Koalition kommt, was ist das Projekt dieser Koalition? Und: Wie ist die linke Handschrift von sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität erkennbar?
Die wahlentscheidenden Themen bieten hierzu reichlich Anhaltspunkte. Als wichtigste Themen wurden am Wahlabend soziale Gerechtigkeit von ca. 50 Prozent der Wähler_innen genannt, Wirtschaft und Arbeit von ca. 30 Prozent, Schule und Bildung von ca. 25 Prozent und Mieten bzw. Wohnen von ca. knapp 20 Prozent.
Das Problem vor allem für die LINKE in dieser Dreierkonstellation ist die Erschöpfung und Ideenlosigkeit der Sozialdemokrat_innen, die ohne erkennbares Projekt, z.B. dem einer sozialen Stadt, in den Wahlkampf zog. Folglich sanken die Kompetenzwerte der SPD zu sozialer Gerechtigkeit um 8 Prozent. Dennoch verfügt sie über die höchsten Werte zum Thema soziale Gerechtigkeit. Die Grünen agierten als „Catch all-Party“ mit einem Mix vager politischer Aussagen (Hoff, S. 12) und in der Schlussphase mit einem Kampf gegen Rechts. Hoff beschreibt in seiner Analyse, dass die Grünen mit ihrer Kampagne, Programmatik und personellen Aufstellung auch jederzeit offen für andere Regierungskonstellationen waren, und schlussfolgert, dass diese in einer rot-rot-grünen Regierungskonstellation deshalb der schwierigste Partner seien (Hoff, ebenda).
Damit wird vor allem der LINKEN die Aufgabe zufallen, beide Koalitionspartner in ein Projekt zu drängen, Berlin als soziale, demokratische und weltoffene Metropole zu entwickeln und dies durch konkrete Projekte und Maßnahmen zu übersetzen.
Die LINKE ging mit keiner geringen Frage in den Wahlkampf: „Wem gehört die Stadt?“, und setzte stark auf ihre Kernkompetenz – auf soziale Gerechtigkeit. Sie besetzte zentral die Wohnungs- und Mietenfrage und untersetzte sie mit Forderungen für einen neuen sozialen Wohnungsbau mit Wohnungen, die bezahlbar sind, für die Entwicklung und Verteidigung von Instrumenten, die weitere Mietsteigerungen verhindern sollen, für Milieuschutz von Wohnkiezen, um weitere Gentrifizierungsprozesse vor allem in den Innenstadtlagen zu verhindern.
Die Wohnungsfrage ist eine Kern- und Lernfrage der LINKEN und muss es auch in den nächsten Jahren bleiben. 2004 hatte sie in der rot-roten Regierung dem Verkauf der größten städtischen Wohnungsbaugesellschaft (GSW) mit über 64.000 Wohnungen zugunsten der Haushaltssanierung nach dem Zusammenbruch der Berliner Landesbanken zugestimmt – der Sündenfall der LINKEN unter rot-rot. Deshalb ist der Umgang mit der Wohnungs- und Mietenfrage der Linken seit 2011 zentral für die Wahrnehmung und Glaubwürdigkeit der Partei. Hier wird sie in einer möglichen Dreierkonstellation rot-rot-grün zeigen müssen, dass sie nicht nur – aber gerade in dieser Frage – dazu gelernt hat und dass ihre linken Forderungen hierzu durchsetzungsfähig sind. D.h. vor allem die Wohnungs- und Mietenfrage wird zum Lackmustest der Linken: Sie muss dieses Thema zentral besetzen und ebenso vor Ort dranbleiben.
Da hierzu die Forderungen der LINKEN grundsätzlich anschlussfähig sind mit wahlprogrammatischen Aussagen von SPD und Grünen, könnte dies eines der zentralen zu entwickelnden Projekte dieser Koalition werden.
Zwei weitere mögliche oder notwendige Projekte sind die Widerherstellung der Arbeitsfähigkeit der Bürgerverwaltungen und Bürgerämter. Die Stadt müsse wieder funktionieren – so die Worte aller drei Spitzenkandidaten von SPD, Grünen und LINKEN –, sie müsse sich wieder den Bürger_innen zuwenden. Mehr noch, der Satz der Wahlkampagne der LINKEN 2016: „Wählt die Linke und die Stadt gehört euch“ muss nunmehr glaubwürdig mit Leben erfüllt werden. Das bedeutet, Entscheidungsprozesse zu öffnen – wie das etwa mit den Bürgerhaushaltssachen ja mal versucht wurde. Es geht letztlich um eine Neubestimmung des Verhältnisses von repräsentativer und direkter Demokratie. Denn nicht zuletzt spielt das staatliche bzw. behördliche Versagen bis hin zu den Verwaltungen, die mit der Integration von Flüchtlingen betraut waren und sind, der politischen Rechten in die Hände.
Deshalb sollte als drittes Projekt das Projekt gesellschaftlicher Integration als Projekt gelebter und gestalteter Solidarität auf die Tagesordnung gesetzt und konkret bearbeitet werden. Berlin hat die Chance, mit einer aktiven Bürgergesellschaft, die zu einem Großteil die Flüchtlingsarbeit seit dem Sommer 2015 übernommen hat, während der Berliner Senat versagte, nunmehr gesellschaftliche Integration zu gestalten. D.h. Maßnahmen gegen die sich fortsetzenden Entsicherungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang erodieren lassen, die Hilfe und Unterstützung für jene bereitstellen, die dieser bedürfen, unabhängig davon, ob sie Flüchtlinge sind oder schon seit Jahren als Sozialhilfebezieher_innen abgeschrieben wurden. Das bedeutet aber auch: Der neue Senat muss bereit sein, in Konflikt mit der Bundesregierung zu treten und sie für seine Positionen politisch zu aktivieren.
Wenn es nun aus linker Sicht auch um eine andere politische Kultur gehen soll, ist es gerade jetzt wichtig, die Kontakte zur Zivilgesellschaft, zu den vielen ehrenamtlich Arbeitenden auszubauen und hierzu die vorhandenen und durch sie unter rot-rot erkämpften Instrumente stärkerer Partizipation bei der Gestaltung von Politik und bei Entscheidungsprozessen zu nutzen. Das aber bedeutet, die eigene Mitgliedschaft zu aktivieren und die unter rot-rot sichtbar gewordene Unfähigkeit der Linken, die Balance zwischen Regierungspersonal und Partei herzustellen, so dass eine Aktivierung von links zur Schaffung auch neuer demokratischer Instrumente möglich wird. Dabei gilt es gerade jene Regionen im Blick zu behalten, die weder hip noch sexy, sondern nur ziemlich arm dran sind.
Anmerkung: Die Wahlauswertung stützt sich zu großen Teilen auf den Wahlnachtbericht von Benjamin Hoff vom 19. September 2016, siehe http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/wahlanalysen/RLS-Berlin-Wahl-9-2016.pdf