Ein historischer Aufstand hat zu neuen politischen Praxen geführt, die sich für fortschrittliche Kräfte in Europa und dem Nahen Osten als sehr fruchtbar erweisen könnten.
Endlich haben es die Fortschrittlichen geschafft, die Hegemonie zu erschüttern und für kurze Zeit im Zentrum der türkischen Politik zu stehen. Es begann alles mit Bäumen im Gezi Park und den Bauplänen für ein Einkaufszentrum – in kürzester Zeit verwandelte sich das Aufbegehren jedoch in einen Volksaufstand gegen Premierminister Recep Tayyip Erdogans Arroganz, neoliberale Politik, aggressive urbane Erneuerungsprozesse, Einschränkungen der Redefreiheit, Geschlechterungleichheiten, Homophobie und vieles andere mehr.
Die landesweiten Proteste sind mehr als nur ein Aufstand. Sie sind ein Beweis dafür, dass die fortschrittlichen Kräfte dazu in der Lage sind, Bewegungen und Einzelpersonen des gesamten politischen Spektrums zu mobilisieren. Darum sehen wir die Fahnen und hören die Slogans der LGBT-Bewegung, Feminist_innen, Kommunist_innen, Ultranationalist_innen, Kemalist_innen, Islamist_innen, aber finden auch jene Menschen vor, die sich selbst als ‘unpolitisch’ bezeichnen und noch nie politisch engagiert haben. Diese Bewegung und dieser Aufstand sind in der Tat inklusiv.
Es ist auch ein Aufstand gegen festgefahrene Vorurteile. Viele Türk_innen leben in dem Glauben, dass die Jugend unpolitisch sei, die Frauen unterwürfig und politisch unengagiert und die Zivilgesellschaft enthusiatisch, aber erfolglos. Die Barrikaden, die mit Hilfe vieler junger Menschen – darunter eine große Zahl von Frauen und Mädchen – errichtet wurden, erzählen eine andere Geschichte.
Was vielleicht am wichtigsten ist, ist der Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Zwischen historischen Feinden findet in Taksim ein kritischer Dialog statt. Es sind jedoch ganz klar die fortschrittlichen und linken Kräfte aller Positionen und Traditionen, die die Zukunft des Aufstandes bestimmen. Es waren die Progressiven, die die Plattform für den Protest geschaffen haben und maßgeblich an der Schaffung der kommunen-ähnlichen Organisation des Taksim Gezi Park beteiligt waren.
Tatsächlich haben die Demonstrant_innen während der Proteste einen großen Teil der Istanbuler Innenstadt kontrolliert. Viele der zuvor verbotenen Gastgärten sind in die Seitenstraßen der Istiklal Caddesi zurückgekehrt und der historisch bedeutsame Taksim Platz – man erinnere sich an das Massaker im Jahre 1977 – wurde zum Schauplatz der täglichen Demonstrationen. Dies ist auch ein demokratischer Quantensprung für die Arbeiter_innenbewegung, die am 1. Mai 2013 den harten Kampf um den Taksim Platz verloren hatte: Tausende Linke wurden unter Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Polizeigewalt brutal davon abgehalten, den Platz zu erreichen und von ihrem Demonstrationsrecht am Tag der Arbeit Gebrauch zu machen.
Trotzdem war der bedeutendste Schritt für die Schaffung einer neuer Bewegung die Idee hinter der ‘Kommune’. Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung sind frei zugänglich und werden unter allen Protestierenden geteilt. Die demokratische Plattform ist für die Sicherheit und das Saubermachen zuständig und dies funktioniert genauso gut wie die Sozialhilfe, die die Kommune zur Verfügung stellt. Sogar eine Bibliothek wurde eingerichtet. All das passiert dank des inklusiven und weitreichenden Solidaritätsverständnisses, das die Protestierenden dazu veranlasst hat, freiwillig zu diesem Projekt beizutragen. Alle Entscheidungen werden nach offenen Diskussionen getroffen, zu denen jedeR eingeladen ist. Zweifellos handelt es sich hierbei um ein demokratisches Partizipationsprojekt, das es wert ist, genauer untersucht zu werden – nicht zuletzt, weil sich in den ersten Wochen Millionen von Menschen an diesem zum Teil sozialistischen Experiment beteiligt haben. Man wird sich daran als kurzlebige (?) Modell-Gemeinde erinnern, auf die zukünftige politische Initiativen verweisen und von der sie sich inspirieren lassen werden.
Ein wichtiges Thema muss aber noch diskutiert werden. Wir wissen nicht, was aus dieser Plattform wird, wenn sich der Aufstand in andere politische Organisationskanäle umwandeln muss. Was wir allerdings wissen ist, dass die fortschrittlichen Kräfte nicht länger auf politische Alternativen warten, sondern begonnen haben, diese selbst zu schaffen – sehr zur Freude und Inspiration vieler ansonsten unorganisierter Türk_innen.