Über linkes Schweigen und die außenpolitische Motivation für den historischen Revisionismus in der Resolution des Europäischen Parlaments. Ein Kommentar von Luciana Castellina.
An jenem Freitagabend wartete ich gerade bei einer von der Articolo-1-Partei organisierten Veranstaltung auf Tsipras, als mir ein Genosse im Internet einen Auszug aus der „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ zeigte. Ich muss zugeben, dass ich zunächst abwinkte: „Siehst du denn nicht, dass das Fake News sind?“ Was mich zu der Frage führte: „Aber wer verbreitet solche Fake News?“
In Wirklichkeit war der Text so haarsträubend, dass er meines Erachtens aus der Feder der neofaschistischen Casa Pound hätte stammen können.
Erst am nächsten Tag wurde mir klar, dass etwas eingetreten war, was ich niemals für möglich gehalten hätte: dass nur 66 MdEPs von 748 gegen diese Entschließung gestimmt hatten, die außerordentlich beschämend ist. Nicht nur, weil sie eine abscheuliche Verzerrung der Geschichte darstellt, sondern auch – angesichts dieser haarsträubenden Fehlinterpretation historischer Fakten – weil sie das Prestige der parlamentarischen Institution infrage stellt, die sie verabschiedet hat: eine Institution, der übrigens bis vor wenigen Jahren auch Altiero Spinelli als unabhängiger, wenn auch gewählter Vertreter in der Liste der Kommunistischen Partei Italiens angehört hatte.
Bemerkenswert ist der entscheidende und wichtige „historische Beitrag“ von Parlamentspräsident Sassoli: „Aber da waren bewaffnete Panzer in Prag!“ Ganz zu schweigen von der Rufschädigung für eine Gruppe von MdEPs, die sich aus ehemaligen kommunistischen und sozialistischen AktivistInnen zusammensetzt, die diese Erinnerung in sich trugen.
Doch zu meiner Überraschung kam es noch schlimmer. Um einen Kommentar zu dieser Angelegenheit gebeten, ließ der französische Philosoph Étienne Balibar aus New York (wo er seit einiger Zeit lehrt) verlauten:
„Ich weiß von dieser Geschichte nichts. Die Presse hier berichtet dazu nichts und auch nicht die französische Presse, die ich nach wie vor verfolge.“
Ich fragte in Paris nach und rief unseren alten Chefkorrespondenten in Frankreich an, Alexandre Bilous. Er war entgeistert; von dieser Resolution hatte er noch nie etwas gehört. Kurze Zeit später rief er mich zurück: Keine Zeitung, wirklich keine, nicht einmal l’Humanité[1], hatte von dieser europäischen Abstimmung berichtet. Nur eine ausgezeichnete Website, Mediapart, erwähnte sie in einem Brief, den Charles Heinberg, ein Schweizer Geschichtsdozent aus Genf, geschickt hatte. Dem Himmel sei Dank! Dann grübelte ich über die Tatsache, dass in der letzten Europawahl gar keine Abgeordneten der PCF und nicht einmal der PSF gewählt wurden.
(Und dennoch: Selbst wenn sie nicht im Parlament sind, haben die Menschen denn nicht gemerkt, welche schwerwiegenden Auswirkungen diese Entschließung auf unsere gemeinsame Erinnerung hat, wurde sie doch von den schlimmsten rechten Gruppen Europas verfasst? Und wie rechtfertigte Raphaël Glucksmann, Sohn des bekannten französischen Intellektuellen der Nouvelle Philosophie, André Glucksmann, und heute Anführer einer ungenau definierten Neugruppierung sozialistischen Ursprungs, seine Zustimmung?)
Stille auch in der deutschen Presse, die normalerweise für Fragen, die das historische Gedächtnis betreffen, sensibel ist – sowohl in den linken als auch in den rechten Medien.
Weniger überrascht mich die Zustimmung der Grünen, deren traditioneller Antikommunismus schon oft zu politischen Mehrdeutigkeiten geführt hat.
In Italien kommentierte, offensichtlich neben der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto (glücklicherweise hat die Resolution kein juristisches Gewicht, da ansonsten, weil es sich um eine kommunistische Tageszeitung handelt, ein Verbot derselben drohen würde), das Mitte-Links-Blatt La Repubblica die Geschehnisse. Ansonsten ist fast nichts zu hören – abgesehen freilich von den Jubelrufen von rechts.
Von einer historischen Analyse des Textes werde ich absehen; darüber haben HistorikerInnen mit mehr Kompetenz geschrieben. Und weitere werden es ganz sicher in Zukunft tun.
Ich möchte hier nur deutlich sagen, dass unsere Reaktion, dass wir alle, die fassungslos und schockiert waren, nicht auf dieser Stufe stehen bleiben können, nein, es auch nicht dürfen. Wir dürfen nicht einfach nur darüber staunen, dass so etwas geschehen konnte, sondern müssen diejenigen an den Pranger stellen, die so etwas ermöglicht haben, und kraftvoll, direkt und überall darauf reagieren. Denn anderenfalls werden wir uns letztlich darüber wundern, dass das Geschehene vielen egal ist – völlig egal.
Wir laufen Gefahr, dass uns die Entdeckung sprachlos macht. Und was dann? Zunächst einmal ist es gut, dass sich die MdEPs Massimiliano Smeriglio und Pierfrancesco Majorino der Disziplin der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament widersetzt und ihre Zustimmung verweigert haben, aber das reicht nicht aus.
Etwas muss getan werden, eine Debatte muss eröffnet werden: mit der Nationalen Vereinigung der PartisanInnen Italiens (ANPI) mit Luca Pastorino und Francesco Laforgia vom linken Parteienbündnis Liberi e Uguali sowie Nicola Fratoianni von der Sinistra Italiana, die in Italien unmittelbar reagiert haben und als Abgeordnete im italienischen Unterhaus hier Initiativen anstoßen können, und vor allem mit all denen, die empört sind. Insbesondere in der sozialdemokratischen Partito Democratico. Erinnerung ist nicht etwas, das wir allein spezialisierten HistorikerInnen überlassen können. Erinnerung ist ein elementarer Bestandteil unserer Gegenwart.
Darüber hinaus beruht die moralische Verkommenheit der initiierten Leugnungsoperation auf der Tatsache, dass ihr unmittelbar die heimliche Motivation zugrunde liegt, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zu verstärken und die in höchstem Maße verantwortungslose europäische Politik „nach dem Mauerfall“ zu verschärfen. Damit wird nicht nur die Gelegenheit verpasst, auf die Gorbatschow vergeblich gedrängt hatte, nämlich endgültig den Weg der europäischen Unabhängigkeit von den beiden Militärblöcken einzuschlagen und Russland in ein gemeinsames Projekt (das gemeinsame europäische Haus) einzubinden. Stattdessen entschied man sich für den Weg, die NATO so weit nach Osten zu erweitern, dass sie ihre Raketen unmittelbar unter der Nase von Moskau stationieren kann. Wenn Putin, dem sich kein Demokrat und keine Demokratin zugeneigt fühlen kann, die Macht in seinem Land konsolidiert hat (und zudem deutlich beliebter werden konnte, als es uns die westlichen Medien glauben machen), liegt das daran, dass er in der Lage war, sich den durch diese Umzingelung geschürten Chauvinismus zunutze zu machen.
Wie soll Moskau denn jetzt reagieren, da die EU erklärt hat, dass die 22 Millionen russischen Frauen und Männer, die, als sie den entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus leisteten, ihr Leben ließen, eigentlich unsere Feinde sind?
Ursprünglich veröffentlicht in Il Manifesto
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Anmerkung
[1] Am 26. September veröffentlichte L’Humanité dazu einen Redaktionskommentar.
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