Vor kurzem wurde der Entwurf eines Parteiprogramms zur Globalisierung vom Board der Rot-Grünen Allianz/Einheitsliste (Dänemark), Mitglied der Partei der Europäischen Linken (EL), an den Anfang Oktober stattfindenden Jahreskongress der Partei übermittelt. Lesen Sie eine Rezension von Walter Baier.
Einzeluntersuchungen zum drohenden Kollaps der natürlichen Umwelt zu den Flüchtlings- und Migrationsbewegungen, zur weltweit ungleichen Verteilung der Lebenschancen, zum Wettrüsten etc. gibt es viele. Rar sind, Versuche, den systemischen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen zu zeigen, und sie als Aspekte einer globalen Krise des Kapitalismus darzustellen. Noch seltener ist, dass aus den Einsichten, Vorschläge für ein wirksames kollektives Handeln entwickelt werden. Genau das versucht das Board der Rot-Grünen Allianz mit der Vorlage eines programmatischen Texts zur Globalisierung A Green Earth With Peace And Room Foor Us All. Um es vorweg zu nehmen, dieser Versuch ist in einem hohen Maß geglückt.
Auf den weltweiten Charakter der, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche im heutigen Kapitalismus gibt es grundsätzlich zwei Antworten, eine kosmopolitische und eine nationalistische. Bejaht man oder lehnt man ab, dass sich die Menschheit zu einer Gemeinschaft entwickelt, die ihre sozialen Verhältnisse und ihre Beziehung zur natürlichen Umwelt gemeinschaftlich und verantwortlich regelt.
Das ist die Debatte um die „Globalisierung“, in die die RGA/EL mit ihrem Entwurf eingreift. Die Pensée Unique des Neoliberalismus setzt Globalisierung mit weltweit deregulierten Waren- und Kapitalmärkten gleich, die ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen durchgesetzt werden. Doch die Behauptung, dass dies eine vernünftige Ordnung sei, in der durch ,unsichtbare Hand‘ steigender Wohlstand für alle oder zumindest für die meisten Menschen erreicht werde, wird von der Wirklichkeit täglich widerlegt.
Selbst in den privilegierten Zonen des Kapitalismus verbreitet sich die Einsicht, vielfach noch als dumpfe Vorahnung, dass die Verhältnisse sich in absehbarer Zeit ändern müssen. Auf die davon ausgehende Verunsicherung antworten nationalistische, neofaschistische und fundamentalistische Bewegungen, indem sie dem neoliberalen Individualismus einen durch Religion oder Nation definierten Kollektivismus entgegensetzen und Schutz versprechen. Im Getöse des Zusammenpralls von Neoliberalen und Rechtsradikalen gerät ihre gemeinsame gesellschaftstheoretische Basis aus dem Blick: Beide betrachten die Globalisierung abstrakt, als Heilbringerin die einen, als Verursacherin der Übel die anderen; jedenfalls aber losgelöst von den Eigentums- und Machtverhältnissen, die ihren Inhalt bestimmen. Beide Behauptungen sind irrational und dienen der Aufrechterhaltung kapitalistischer Herrschaft.
Einen Ausweg, aus diesem Dilemma zu zeigen, kann nicht durch populistische Vereinfachung auf einen Gegensatz zwischen „Eliten“ und „Volk“ gelingen, sondern erfordert analytische Arbeit. Dazu trägt der programmatische Text bei, indem er den repressiven und ausbeuterischen Charakter des kapitalistischen Systems zum Ausgangspunkt nimmt.
Die faschistische Gefahr und das Scheitern des Wirtschaftsliberalismus
Heute ist beinahe vergessen, dass das Scheitern des Wirtschaftsliberalismus die Welt schon einmal in eine Katastrophe gestürzt hat. Den Weg dorthin beschreibt Karl Polanyis 1944 erschienenes Buch „The Great Transformation“. Die kapitalistische Marktwirtschaft, schreibt er, beruhe auf einer zerstörerischen Fiktion, dass nämlich „Arbeit, Boden [= die Umwelt, angem. w.b] und Geld Waren seien, die zum Zwecke des Kaufs und Verkaufs auf Märkten existierten."[1] Doch diese „Fiktion ignorierte die Tatsache, dass die Auslieferung des Schicksals der Erde und der Menschen an den Markt mit deren Vernichtung gleichbedeutend wäre.”[2]
Karl Paul Polanyi (1886 – 1964) war ein ungarisch-österreichischer Sozialhistoriker, Ökonom und Sozialphilosph. Er wurde berühmt durch seine Opposition zur neoklassischen Ökonomie und speziell für sein 1944 erschienenes Buch Die große Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, in dem er argumentierte, dass die Entstehung der Marktwirtschaften in Europa keineswegs unausweichlich, sondern historisch bedingt war. Charakteristisch für Polanyi ist ein kulturwissenschaftlicher Zugang zur Ökonomie. Er zeigte, dass Wirtschaftssysteme immer in Gesellschaften und Kulturen eingebettet sind. Diese Sicht stand im Gegensatz zum Mainstream der Wirtschaftswissenschafter_innen seiner Zeit, wurde aber in der Anthropologie, der Wirtschaftsgeschichte, der Soziologie und der Politikwissenschaft aufgegriffen.
Polanyi beobachtet im kapitalistischen Zeitalter eine Doppelbewegung: einerseits erweitere sich ständig der Markt, und andererseits reagiere die Gesellschaft auf diese zerstörerische Tendenz durch Gegenbewegungen. Die Arbeiterbewegung, die die Marktdominanz durch Sozialisierung überwinden wollte, war die bedeutendste unter den Gegenbewegungen und prägte das 19. Jahrhundert. In den 1920er-Jahre kam der Faschismus auf. Auch er beanspruchte die Massen zu vertreten, auch er war „in einer Marktgesellschaft verwurzelt, die nicht funktionieren wollte."[3]
„In Wirklichkeit wurde die vom Faschismus gespielte Rolle von einem Faktor bestimmt: dem Zustand des Marktsystems … Nach 1930 befand sich die Marktwirtschaft in einer allgemeinen Krise, und der Faschismus wurde innerhalb weniger Jahre zu einer Weltmacht.”[4]
Mit dem Faschismus bildete sich die Antithese einer rationalen Kritik des Kapitalismus und der Demokratie.
„Den faschistischen Ausweg aus der Sackgasse, in die der liberale Kapitalismus geraten war, könnte man als eine Reform der Marktwirtschaft bezeichnen, erreicht um den Preis der Auslöschung aller demokratischen Institutionen.”[5]
Im Unterschied zum Mainstream der heutigen, liberalen Politikwissenschaft beweist Polanyi, dass die Machtergreifung faschistischer Bewegungen in erster Linie aus einem Bedürfnis der herrschenden Klasse entstand.
„Obwohl er sich gewöhnlich um eine Masseunterstützung bemühte, so wurde seine potentielle Stärke nicht nach der Zahl seiner Anhänger bemessen, sondern nach dem Einfluss von hochgestellten Persönlichkeiten, die mit den faschistischen Führern sympathisierten."[6]
Eine neue Weltodnung im Entstehen
Zur gleichen Zeit zersetzte die kapitalistische Krise auch die internationale Ordnung. Im Zweiten Weltkrieg scheiterten nicht nur die Weltherrschaftspläne des japanischen und des deutschen Imperialismus. Im Gefolge des Krieges verdrängte die USA Großbritannien von der Spitze der imperialistischen Machtpyramide und setzte ihre Hegemonie mit wirtschaftlichen, finanziellen und gegebenenfalls militärischen Mitteln durch.
Drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs erweist sich diese Weltordnung als ungeeignet, den Rahmen für die notwendige Transformation der Weltgesellschaft abzugeben.
Die neuen Zentren des wirtschaftlichen Wachstums, China und Indien, das im Kalten Krieg geschlagene Russland, aufstrebende Regionalmächte wie Türkei, Iran und Saudi-Arabien, die große Zahl wirtschaftlich benachteiligter, durch ökologische Krisen besonders verwundbare Staaten sind mit ihren Plätzen in der Hierarchie der Mächte nicht einverstanden und drängen auf eine multipolare Weltordnung.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass die von der Trump-Administration angezettelten Wirtschaftskriege und das forcierte Wettrüsten die Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses aufhalten werden. Allerdings, und darin besteht eine für Übergangsperioden charakteristische Gefahr, drohen sie in militärischer Konfrontationen umzuschlagen, die von der regionalen auf die globale Ebene eskalieren.
Die Kriterien einer ökologisch nachhaltigen, solidarischen Welt werden im zweiten Abschnitt des Programmentwurfes dargestellt: Globale Umverteilung, Umstellung der Produktions- und Konsumtionsweise und des Transportsystems, das Trockenlegen von Steueroasen und illegalen Vermögen, menschenrechtskonformes Asylrecht, gleiche Rechte für immigrant workers,globale Abrüstung, Auflösung der NATO und Widerstand gegen die Militarisierung der EU.
Die Grundfrage ist, ob die mit der Transformation unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe unter Vermeidung von großen Kriege, gar eines Weltkrieges ausgetragen werden.
Die wichtigste Forderung ist die nach allgemeiner Abrüstung, und insbesondere nach der Abschaffung der Massenvernichtungswaffen, wie sie im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen festgelegt. Würde dieser internationale Vertrag in der neuen Runde des Wettrüstens zusammenzubrechen, wäre Europa in besonderer Weise betroffen, da es zum Schauplatz eines nuklearen Wettrüstens mit Erstschlagwaffen zu werden droht.
Im Programmentwurf wird die Stärkung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen gefordert. Mehr noch: Zur Absicherung von „fair trade structures, global minimum wage standards and working conditions etc. there must be institutions and bodies that can implement and monitor the new gobal framework and that can sanction infringements.”[7]
Die Europäer_innen müssen sich entscheiden
Die Europäer_innen müssen sich entscheiden, ob sie Teil der Lösung werden oder darin verharren wollen, ein Teil des Problems zu sein.
Europa ist nicht identisch mit der EU und sollte nicht versuchen, es zu werden. Frieden und Sicherheit in Europa erfordern einen Rahmen, der über die EU hinaus, nach dem Muster der OSZE, alle Staaten gleichberechtigt einbezieht. Auch aus dieser Perspektive wird man anerkennen müssen, dass die Probleme der heutigen Welt sich nicht ausschließlich mit den Mitteln souveräner Nationalstaaten lösen lassen. Übernationale Sicherheitspolitik, die Fragen der Umwelt, des Verkehrs und der Energieversorgung miteinschließt, erfordert demokratische Institutionen, die die Autorität besitzen, Streitfälle friedlich zu regeln und soziale und ökologische Standards für alle verbindlich festzulegen.
Dabei bildet auch die europäische Integration im Rahmen der EU eine Tatsache. Die neofunktionalistische Theorie, der zufolge die marktwirtschaftliche Integration zu einer sozialen und politischen Integration führe, hat sich durch die neoliberale Wende aus einem Versprechen in eine Drohung verkehrt. Sie hat die Unterordnung der Politik unter das Diktat der Finanzmärkte bewirkt und damit die soziale und regionale Ungleichheit in der EU verstärkt.
Für die Ablehnung dieses Modells gibt es viele soziale und ökologische Gründe. Zudem erweist sich der intransparente, technokratische Governance der EU, die das Recht der Staaten auf demokratische Selbstbestimmung eingeschränkt hat, als Hindernis notwendiger Veränderungen. Folgt daraus aber, dass es aussichtsreicher wäre, den globalisierten Finanzmärkten ausschließlich mit Mitteln der Nationalstaaten entgegenzutreten? Plausibler unter den durch die EU geschaffenen Voraussetzungen scheint mir, einen Kampf außerhalb wie innerhalb der Institutionen und auf den unterschiedlichen Ebenen zu führen, wobei der Kampf um eine Demokratisierung immer größere Bedeutung gewinnt.
Der Vorzug des vorliegenden Dokuments besteht darin, dass es die Aufmerksamkeit nicht auf kontroverse Themen oder auf allgemeine hypothetische Erwägungen lenkt, sondern auf Vorschläge für die gemeinsame Aktion der fortschrittlichen und sozialistischen Kräfte im internationalen Maßstab.
Das ist deshalb notwendig, weil in den Bewegungen und Debatten, in denen die Weltgesellschaft nach Auswegen aus der Krise sucht, die Stimme der sozialistischen Linken heute zu wenig vernehmbar ist. Dadurch entsteht der falsche Eindruck, dass die Alternative zur neoliberalen Globalisierung im Rückfall in Nationalismus und Fundamentalismus bestünde.
Im Kampf gegen den weltweiten Kapitalismus beginnt die sozialistische Linke nicht beim Nullpunkt. Ihre ersten historischen Versuche, ein progressives Subjekt der Weltentwicklung im Rahmen zentralisierter Weltparteien zu schaffen – Erste, Zweite, Dritte und Vierte Internationale (n) – haben zum Aufstieg der Arbeiterklasse Wesentliches beigetragen. Letzten Endes sind sie an der Komplexität der Weltprozesse und der Diversität der progressiven Akteure gescheitert. Diese Diversität prägte die Bewegung der Blockfreien, die als Bündnis unabhängiger den Sieg über den Kolonialismus wesentlich beschleunigte. Im Rahmen der Zivilgesellschaft wurde der Versuch, die progressiven Kräfte in ihrer Diversität zu vereinen, durch das Weltsozialforum und die Alter-Globalisierungsbewegung unternommen. Alle diese Ansätze verdienen es, gewürdigt und auf die Nützlichkeit hin überprüft zu werden.
Dasselbe gilt für die von Marxist_innen entwickelten theoretischen Einsichten. Die wichtigste unter ihnen ist, dass der heutige Stand der Produktivkräfte „common ownership in many forms“ ermöglicht und erfordert, in denen „public authorities, employees, communities, and other associations of people direct control of production“ exercise, which also "would mean a radical expansion of democracy.“[8]
In diesem Sinn verdient der Programmentwurf der RGA/EL gelesen, verbreitet und international diskutiert zu werden.
Der Programmentwurf kann rechts im PDF-Format heruntergeladen werden (Englisch).
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Anmerkungen
[1] Karl Polanyi, Die große Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 183.
[2] Ebd.
[3] Ebd., 317.
[4] Ebd., 321.
[5] Ebd., 314.
[6] Ebd., 315.
[7] A Green Earth With Peace And Room For Us All. online: https://www.transform-network.net/blog/article/a-green-earth-with-peace-and-room-for-us-all/.
[8] Ebd.