Junckers Zwangsjacke

Ein unbeschwerterer Juncker als sonst führte mit einer höchst optimistischen Rede zur Lage der Union das Wort in Straßburg. Er war sichtlich bestrebt, die Einschätzungen des letzten EZB-Monatsberichts weit hinter sich zu lassen.

In letzterem – dessen Themen im Rahmen des August-Treffens der Zentralbank in Jackson Hole von Mario Draghi wieder aufgegriffen wurden – findet sich weitaus mehr Zurückhaltung bei der Beschreibung der wirtschaftlichen Situation. Es stimmt wohl, dass das globale Rahmenwerk des zweiten Quartals 2017 von einer Periode nachhaltigen Wachstums gekennzeichnet war. Dennoch warnen die Expter_innen der Zentralbank, dass obwohl „die augenblicklich positive Wirtschaftslage zu einer stärkeren Erholung führen könnte, … das Risiko eines Rückganges trotzdem gegeben ist“. Mit anderen Worten: Es hängt davon ab. Aber wovon? Von der Qualität der Wirtschaftspolitik. Die übermäßige Liquidität ist nicht imstande, den realen Wirtschaftsmechanismus loszutreten. Allenfalls vermeidet sie neue Sturzflüge oder distanziert sich davon. Und da dieses Phänomen neu ist, wissen wir nicht, wie lange es andauern wird und was nach der unvermeidlichen, wenn auch aufschiebbaren, quantitativen Entspannung geschehen wird.

Doch Junckers Frohlocken ist nicht bloß Show, stattdessen ist es geradezu funktionell, indem es neue Regierungsprojekte voranbringt, die im Laufe dieser Krisenjahre entwickelt wurden. Wirtschaftliche Erholung würde dem politischen Neustart der EU zugutekommen, so Juncker. Doch das stimmt nicht, wenn er es im demokratischen Sinn meint. Die Vorstellung, dass ein wirtschaftliches Europa politisch wird, wenn es nach David Mitranys Definition von Funktionalismus geht, hat ausschließlich in einem antidemokratischen Rahmen stattgefunden, der noch weiter entfernt von seinen Bürger_innen war.

Von der Demokratie zur Oligarchie

Gestern[1] gab Juncker an, dass es sich nur um eine Fortführung jenes Projektes handle, das mit dem Bericht der fünf Präsidenten von 2015 begann und vom aktuelleren Reflexionspapier von Ende Mai dieses Jahres von eben jener Europäischen Kommission fortgesetzt wurde. Juncker griff demzufolge den deutschen Vorschlag zum Ausbau des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds auf, ausgestattet mit invasiveren und prägenderen Befugnissen den Volkswirtschaften einzelner Länder gegenüber. Er ist dem Diktat Berlins damit nicht buchstabengetreu gefolgt, insofern als er die Rolle der Überwachung nationaler Budgets nicht direkt dieser Körperschaft zugewiesen hat – etwas, das Deutschland noch mehr begrüßen würde, da so das Ermessen der Kommission in dieser Sache einschränkt werden würde. 

Er tat jedoch sein Bestes, was auch von der erneuerten französisch-deutschen Achse mitgetragen wird: Hier beziehen wir uns auf die Umwandlung des Kommissars für Währungsangelegenheiten in eine_n Finanzminister_in für die Eurozone. Diese_r wurde explizit gefordert, um Staatshaushalte zu überwachen, strukturelle (Gegen-)Reformen zu fördern und um der Eurogruppe vorzusitzen (oder vielmehr, um die Wirtschafts- und Finanzministerien der Mitgliedstaaten der Eurozone zu koordinieren), ausgestattet mit einer eigenen Haushaltslinie. Die Risikoteilung zwischen EU-Mitgliedstaaten würde demzufolge von vornherein vermieden, zur großen Genugtuung Deutschlands, da es von Anfang an eine monokratische Autorität gäbe mit der Aufgabe, dies zu verhindern.

Dies hätte erneut eine härtere Gangart in der technokratischen Konstruktion des Regierungssystems zur Folge. Grund dafür ist die Tatsache, dass es über ein immer auffälliger anti-demokratisches und oligarchisches institutionelles Rahmenwerk verfügen würde, ohne jegliche Lenkungs- oder Kontrollfunktion durch das Europäische Parlament, der einzigen gewählten Institution. Es ist genau das Rahmenkonstrukt, das der indische Ökonom Parag Khanna in seinem jüngsten Buch anstrebt und fordert. Darin lädt er die weltgrößten Staaten sowie die EU ein, jeglichen Anschein von Demokratie ein für alle Mal fallen zu lassen und „direkte Technokratie“ als eine Form der Regierung und der Gesellschaftsordnung aufzugreifen, womit er einen riesigen Rückschritt von der Demokratie zur Oligarchie befürwortet.

In Übereinstimmung damit rief Jean-Claude Juncker zu einer rascheren Entscheidungsfindung der EU auf und forderte die Einführung des Mehrheitsbeschlusses anstelle der Einstimmigkeit, wenn es um Themen von größter Bedeutung, wie etwa Besteuerung, geht, was sich möglicherweise auch auf andere Bereiche ausweiten ließe. In vollem Bewusstsein der Tatsache, dass sich die Ersetzung der Einstimmigkeitsmethode durch jene des Mehrheitsbeschlusses nicht notwendigerweise vorteilhaft auf die Erhaltung des Status Quo auswirken würde, beeilte er sich festzuhalten, dass all dies nicht die Verträge betreffe und keine Änderung derselben nötig machen würde.

„Lasst uns den Wind in den Segeln nutzen“

Ehe er seine Rede beendete – mit Worten, die an Grimms Märchen gemahnen: „Jetzt […] da die Sonne scheint […] lasst uns die Leinen losmachen, die Segel setzen, und den günstigen Wind nutzen“ – und den Applaus seines Publikums aus Sozialist_innen, Liberalen und anderen Volksvertreter_innen entgegennahm, ließ Juncker es sich nicht nehmen, Italien dafür zu danken, in der Migrationsproblematik die Ehre Europas zu retten (gefolgt von einem begeisterten Tweet von Paolo Gentiloni). Unser Schandmal durfte natürlich nicht fehlen.


[1] Redaktionelle Anmerkung: Der Artikel erschien am 14. September unter dem Titel La camicia di forza di Juncker in Il Manifesto.

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