Am 27. und 28. April organisierte die transform! europe-Arbeitsgruppe „Produktive Transformation“ einen Workshop, um ihre bisherigen Bemühungen zu reflektieren und über zukünftige Themen zu entscheiden.
Mitglieder dieser Arbeitsgruppe sind Roland Kulke (seit April 2018 Facilitator dieser Arbeitsgruppe für transform! europe, Brüssel), Jean-Claude Simon (Klimaexperte, Kopenhagen), Nadia Garbellini und Matteo Gaddi (beide Punto Rosso, Wirtschaftsforscher_innen, Mailand).
Der Workshop fand in den Räumlichkeiten der CGIL Lombardia in Mailand statt.
Zusammenfassung
Einführung (Xabier Benito Ziluaga, MEP, Podemos, GUE/NGL, Mitglied des ITRE-Ausschusses)
Der linke Diskurs in Europa hat eine strategische Schwachstelle: Das Versäumnis der Linken, Industriepolitik auf europäischer Ebene zu diskutieren. In Europa haben wir zwei Wachstumsmodelle: Das französische, in dem der Staat eine wichtige Rolle spielt, und das deutsche, das eher marktorientiert ist. Derzeit gewinnt das deutsche Modell immer mehr die Oberhand. Die Ergebnisse sehen wir jetzt, 10 Jahre nach Ausbruch der Krise. Die EU ist derzeit damit beschäftigt, ihre Basis umzugestalten, die EU von heute ist nicht mehr die EU von vor 10 Jahren. In der Vergangenheit haben Projekte wie Airbus gezeigt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Lage sind, zusammenzuarbeiten. Neben Airbus gibt es noch andere Beispiele. Expert_innen zufolge könnten wir diese Erfolgsgeschichten heute nicht mehr reproduzieren – einerseits aufgrund neuer, strengerer Anti-Staats-Regelungen, andererseits infolge einer Elite ohne Visionen. Die Investitionsoffensive, der Welthilfsfonds und andere neue Institutionen bieten vielleicht ein paar Vorteile, reichen als Lösung für die sozioökonomischen und umweltschutztechnischen Herausforderungen aber bei weitem nicht aus.
Europäische Produktionsketten und die dazugehörige Arbeitsteilung (Riccardo Bellofiore, Universität Bergamo)
Die globale Finanzkrise hat zur derzeitigen Krise der EU geführt. Entsprechend ist der Finanzkapitalismus, der privatisierte Keynesianismus oder, wie Professor Bellofiore es nennt, die „echte Unterordnung der Arbeit unter die Finanz“ die Wurzel des wahren Problems der Wirtschaft. Dieses Modell ist ein angelsächsisches. Das europäische Modell ist neu und eine Verallgemeinerung des deutschen Modells: das merkantilistische, exportbasierte, die Nachbarn ausbeutende Modell – jetzt auch auf internationaler Ebene. Unbestreitbar war die Einführung des Euro ein Fehler, seine Abschaffung wäre jedoch ein ebenso großer. Wir müssen verstehen, dass sich die europäische Finanzgeographie seit den 90ern verändert hat. Wertschöpfungsketten folgen dem Geld – und Deutschland hat Geld. Entsprechend folgt der Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft den Interessen des deutschen Kapitals. Um die deutschen, mitteleuropäischen und norditalienischen Wertschöpfungsketten herum ist ein neues, in sich abgeschlossenes Zentrum der europäischen Wirtschaft entstanden. Dieses neue Netzwerk hat die Verbindungen mit der südeuropäischen Peripherie im Großen und Ganzen gekappt. Aufgrund der Macht des Finanzkapitalismus und des technischen Fortschritts ist es nicht der Herstellungsprozess an sich, sondern eine Mischung aus herstellenden Wertschöpfungsketten mit engen Verbindungen zur Dienstleistungserbringung in diesen Branchen. Die Industrie 4.0 führt zu einer hohen Personalisierung der produzierten Waren, weshalb ein immer höherer Anteil der Gewinne in den Bereichen Service und After-Sales erwirtschaftet wird. Die wichtige Frage für eine Wirtschaft mit vom Finanzkapital dominierten globalen Wertschöpfungsketten ist also: Wer finanziert was?
Technologie, Industrie 4.0, Arbeit und neue Organisationsformen (Matteo Gaddi, Punto Rosso)
Angesichts dieser Wachstumsmodelle haben wir zwei Möglichkeiten: Wir können das Zentrum transnationaler Wertschöpfungsketten sein (wie Deutschland, die Niederlande usw.) oder einfach der Standort der Zweigstellen und Zulieferer. Das letztgenannte Modell scheint für die Eliten der MOE-Länder das einzig verfügbare, oder vielmehr vorstellbare, zu sein. Insbesondere im Bereich der Automobilindustrie sehen wir in Europa geographisch weit verzweigte Netzwerke. Die Industrie 4.0 ist die neueste Entwicklung zur Erreichung des kapitalistischen Ziels, die komplette Kontrolle über die Produktionsketten zu erhalten. Die Industrie 4.0 erleichtert die Kontrolle geographisch zerstreuter, kleiner Hersteller_innen. Durch zentralisierte Softwaresysteme ist ihre horizontale Integration viel leichter geworden. Sobald die Scripts aufgesetzt und auf den Peripheriegeräten installiert sind, kann die Zentrale sie aus der Ferne steuern. Dieser ist es so möglich, ohne das Wissen der Arbeiter_innen vor der Maschine die Arbeitsprozesse überall auf der Welt zu verändern. Da jedes Produkt mit einem Barcode vermarktet wird, kann jedes Serienteil und damit auch jede_r Arbeiter_in in Echtzeit beobachtet und seine bzw. ihre Produktivität ausgewertet werden. Je mehr Informationen die Unternehmen sammeln (und zwar kostenlos in jedem Fertigungszyklus!), desto stärker erinnern die Überwachungssysteme an "1984" – und es gibt keine rechtlichen Beschränkungen. Die Arbeiter_innen bleiben in völliger Unkenntnis der Veränderungen an den Scripts der von ihnen zu bedienenden Maschinen. Das ist eine ernstzunehmende Quelle der Entfremdung und dessen, was Gaddi/Garbellini als „Techno-Stress“ bezeichnen. Die Gewerkschaften müssen ihre Arbeitnehmer_innenvertreter_innen im Umgang mit Software schulen, sie müssen am Wettrennen um das Verständnis der Scripts teilnehmen und den Kampf um eine Teilhabe am Softwaredesign aufnehmen.
EU-weite europäische Industriepolitik und das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln (Nadia Garbellini, Punto Rosso)
Der Rechtsrahmen der EU hinsichtlich der Wirtschaftspolitik behindert eine gesunde Wirtschaftspolitik für die EU. Entsprechend muss er zwingend angepasst werden. Nichtsdestotrotz müssen die progressiven Kräfte auf kurze Sicht jedes sich bietende Schlupfloch der EU auch nutzen. Im Bereich der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ ist eine universelle Zugänglichkeit wichtiger als der Wettbewerb. Jeder Staat kann unabhängig bestimmen, wie diese Bereiche organisiert werden, sei es in der Gesundheit, Transport, Energie oder in anderen Bereichen. Die Staaten können sogar noch einen Schritt weiter gehen und selber Güter herstellen, was völlig in Ordnung ist, solange diese Güter von Unternehmen gefertigt werden, die sich zu 100 % in Staatsbesitz befinden – das ist das sogenannte Modell der Eigenproduktion. Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte der Länder in dem Bereich wiederholt gestärkt. Es bleibt nur die Frage, woher das Geld kommen soll. Die steigende Anzahl neoliberaler Regelungen verbietet eine antizyklische Finanzpolitik. Hier findet sich ein weiteres Schlupfloch, und zwar bei den nationalen Entwicklungsbanken wie der KfW in Deutschland oder der Cassa Depositi e Prestiti in Italien. Diese Banken sind finanzielle Schwergewichte, denn sie sind zwar staatlich gestützt, gelten aber nicht als Teil des öffentlichen Haushalts. Wenn die politische Macht erhalten bleibt, können diese Banken in die Eigenproduktion mit einbezogen werden, genau wie in die allgemeine Wirtschaftsförderung. Auch wenn der Vertrag von Lissabon grundlegend überarbeitet werden muss, bietet er kurzfristig einige sehr interessante Mittel, die die progressiven Kräfte im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Entindustrialisierung nutzen müssen.
Commons (Roberto Morea, transform! europe-Arbeitsgruppe zum Thema Commons)
Der Kapitalismus betrifft alle Aspekte unseres Lebens und steht in direkter Opposition zu den Menschenrechten. Die Staaten müssen anerkennen, dass ihre Fähigkeit, für das Gemeinwohl ihrer Gesellschaften zu planen, stetig sinkt. Wir leben in einem Wettbewerb, der die Beziehungen zwischen Staaten, Regionen und Unternehmen und damit auch zwischen Menschen und Individuen dominiert. Der Kampf ums Überleben ist so stark, so tief in unserem Alltag verankert, dass dieses System mit Gramsci als kulturelle Hegemonie zu bezeichnen ist, nicht nur als technologische Dominanz. Alles, mit dem wir als Menschen in Berührung kommen, steht unter der ständigen Dominanz des Profits: Bildung, Gesundheit, Transport und unsere Arbeit. Der Krebs des Profitstrebens hat sogar unser sozialpolitisches System erreicht, sodass wir nicht länger in Zeiten der Demokratie leben, sondern in einer Postdemokratie. Der italienische Kampf um das Recht auf Wasser war deshalb nicht nur logisch auf den Zugang zu Wasser ausgerichtet, sondern ging viel tiefer: an die Organisation der Produktions- und Verteilungsprozesse. Die gesellschaftlichen Vorgänge um den Prozess der Wassererschließung und auch die Produktion als Erwerbsquelle müssen demokratisiert werden, damit wir als Bevölkerung diskutieren können, was wir produzieren und wie wir dies tun wollen. Das letzte Jahrhundert war geprägt vom Kampf des Kapitals gegen die Arbeit, heute ist der Kampf noch deutlich existenzieller; heute ist es Kapital gegen Leben. In diesem Kampf reicht es nicht, für das staatliche Eigentum an strategischen Branchen zu kämpfen, denn auch Staaten können so skrupellos sein wie private Unternehmen. Wir müssen die Wirtschaft wieder vergesellschaften und unsere Demokratie wirklich demokratisieren. Letzten Endes müssen wir in einem demokratischen Prozess die Frage klären, was wir wirklich produzieren. Was sind unsere eigentlichen Ziele?
Globaler Süden (Roland Kulke, transform! europe-Arbeitsgruppe zur produktiven Transformation)
Wenn wir über den progressiven Wiederaufbau der europäischen Realwirtschaft sprechen, müssen wir a priori auch die Volkswirtschaften in der Nachbarschaft der EU einbeziehen, sowohl in Südosteuropa als auch rund ums Mittelmeer. Diese Volkswirtschaften sind tief in die vom mitteleuropäischen Kapital kontrollierten transnationalen Wertschöpfungsketten eingebunden und sind damit Teil des europäischen Wirtschaftsmodells der merkantilistischen Ausbeutung der Weltwirtschaft. Volkswirtschaften wie die tunesische haben einen Grad der Integration mit EU-Volkswirtschaften erreicht, der dazu führt, dass sie alle Pflichten einer EU-Volkswirtschaft haben, aber keines der Rechte. Im Grunde erinnert diese Inklusion an die imperialistischen Beziehungen vergangener Zeiten. Damit ist es natürlich für unsere derzeitige Diskussion zum Thema Migration und Flucht hochgradig relevant. Ein weiterer wichtiger Aspekt für alle, die sich mit der produktiven Rekonstruktion unserer Volkswirtschaften beschäftigen, sind Freihandelsabkommen wie TTIP, TiSA CETA und das, was derzeit unter dem Titel „E-Commerce“ in der WTO diskutiert wird. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen und mit Organisationen wie dem S2B-Netzwerk zusammenarbeiten, um diese Abkommen zu stoppen, denn sie würden den politischen Raum für progressive sozioökonomische Projekte in unseren Gesellschaften massiv und dauerhaft reduzieren.
Energie/gerechter Übergang (Jean-Claude Simon, Mitglied der transform! europe-Arbeitsgruppe zur produktiven Transformation, und Sam Mason, PCS & One Million Climate Jobs Campaign)
Reden wir tatsächlich über die progressive Transformation unserer Gesellschaften? Zuallererst müssen wir uns klarmachen, dass uns die Zeit davonläuft – ein auf Wachstum ausgerichtetes Transformationsprojekt ist nicht möglich. Drei von neun Grenzen der Erde sind bereits überschritten. Wir brauchen eindeutig einen Wandel unserer Produktionssysteme, des gesamten Stoffwechsels unserer Gesellschaft. Wir müssen die Globalisierung radikal zurückfahren und die Produktion wieder regional und lokal gestalten. Eine rein bäuerliche, regionale Landwirtschaft bedarf unserer Unterstützung, um den schädlichen Einfluss auf die Umwelt einzudämmen. Wir müssen entscheidend in die Renovierung der Gebäudesubstanz investieren und den Gütertransport auf der Straße beenden. Die Schiene ist der einzig mögliche Weg. Die Kampagne „One Million Jobs“ ist ein erfolgreiches Beispiel, wie man auf die Notwendigkeit von konkreten Änderungen in der Wirtschaftsstruktur aufmerksam machen kann. Zu den behandelten Themen gehören Stellen im öffentlichen Bereich, in der Bildung, im Gesundheitswesen, im Transport und im Bereich der erneuerbaren Energien. Wir brauchen eine Vergesellschaftung des Energiesektors.