Keine Interpretation des Ergebnisses der griechischen Parlamentswahl vom 6. Mai kommt umhin, dieses als einen deutlichen Ruf nach Veränderung zu werten, eine deutliche Botschaft zugunsten eines besseren Krisenmanagements, gepaart mit dem Wunsch nach Verteidigung von Demokratie und Gesellschaft gegen das Profitstreben weniger. Der spektakuläre Stimmengewinn von SYRIZA sollte im Zusammenhang mit dem Anwachsen von politischem Basisengagement in ganz Europa gesehen werden. Dieser Stimmengewinn ist in den letzten beiden Jahren durch Widerstand gegen die barbarische Verringerung des Lebensstandards befeuert worden, durch Widerstand gegen die postdemokratische Zentralisierung der Macht und gegen jene, die in ihrem Bestreben zu verschleiern, wer wirklich von der Krise profitiert hat, gerne nationalistische Rivalitäten beleben möchten.
Das Wahlergebnis markiert einen politischen Wendepunkt in einer politischen Landschaft, die seit dem Sturz der Militärdiktatur 1974 im Wesentlichen unverändert ist. Die eiserne Sparpolitik, die mit ihrer Abwertung im Inneren die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert und eine bereits vorher bestehende Repräsentationskrise verschärft hat, erlaubte es der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA), den Würgegriff, in dem das politische Leben in Griechenland von den beiden Großparteien gehalten wurde, abzuschütteln.
Der Aufruf von SYRIZA zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, mit einem neuen Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, scheint von großen Teilen der griechischen Gesellschaft positiv aufgenommen worden zu sein. SYRIZA erhält aufgrund der anschwellenden Unzufriedenheit, die ihre Wurzeln in der klassenbedingten Politik hat, laufend weitere Unterstützung.
Eine Analyse von SYRIZA-WählerInnen zeigt dies deutlich. SYRIZA bekommt mehr Unterstützung bei Angestellten der Privatwirtschaft und öffentlich Bediensteten als jede andere Partei. Unter Arbeitslosen ist sie erste Wahl, ebenso bei Angehörigen der Mittelklasse, die von der Wirtschaftskrise hart getroffen wurden, bei jungen Menschen und bei Frauen. Sie ist die am meisten gewählte Partei in der Altersstufe der unter 55-Jährigen, wobei die Unterstützung in den städtischen Regionen in ganz Griechenland besonders stark ist.
Die Unterstützung, die SYRIZA bei diesen Gruppen hat, ist kein Phänomen, das über Nacht entstanden ist; vielmehr ist es das Ergebnis der politischen Orientierung der Partei und ihrer Rolle im sozialen Widerstand, in dem sie eine prominente Verteidigerin sozialer Rechte ist.
SYRIZA ist ein Bündnis aus linksgerichteten Kräften, das sich 2004 im Zuge der globalisierungskritischen Bewegung und der Mobilisierungen gegen die neoliberale Globalisierung der Periode davor (Genua, Florenz, Weltsozial- und Europäische Sozialforen) gegründet hat. Es funktioniert als Dachorganisation für eine Bandbreite an Organisationen aus dem gesamten linken Spektrum, die das Prinzip des politischen Pluralismus und der Einheit im Handeln teilen. Der größte Teil der Koalition, Synaspismos, entstand aus einer Vereinigung von KommunistInnen, SozialistInnen, EurokommunistInnen und UmweltschützerInnen. Synaspismos ist eine Partei, die für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und europäische Integration eintritt; in letzterem sieht sie die Möglichkeit, einen Prozess der Solidarisierung unter den Völkern Europas zu befördern.
Die Wurzeln von SYRIZA liegen in der ArbeiterInnenbewegung, aber auch in den relativ neuen sozialen Bewegungen wie bspw. dem Feminismus, der Ökologiebewegung und den Bewegungen für die Rechte von MigrantInnen. Die Partei eint ihre Gegnerschaft gegenüber allen Spielarten neoliberaler Reformen – wie z.B. flexible Arbeitsverhältnisse und das Schrumpfen des Sozialstaats –, wie sie in den letzten 20 Jahren in ganz Europa umgesetzt worden sind.
Die Stimmen für SYRIZA sollten nicht als Proteststimmen gewertet werden. Vielmehr sind sie Ausdruck der langjährigen und kontinuierlichen Präsenz der Linkskoalition in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft Griechenlands. Seit Ausbruch der Krise ist ihre Ablehnung des Memorandums (Maßnahmen, die von der Europäischen Kommission, der EZB und dem IWF aufoktroyiert wurden) eine beständige, wodurch sie zur einzigen realistischen Stimme der parlamentarischen Opposition geworden ist, die unbeirrt an ihren politischen Zielen festgehalten hat.
Das war klar an der Teilnahme von SYRIZA an den vielen Solidaritätsinitiativen an der Basis ersichtlich, die in den Straßen und auf den Plätzen in ganz Griechenland stattfanden. In dieser Phase fand die unvermeidbare Einheit des Kampfes des Volkes ihr politisches Äquivalent in der Einigung der Linken und in SYRIZAS Vorschlag einer linken Regierung.
In den Augen der Öffentlichkeit steht SYRIZA an der Spitze der Kämpfe gegen die Privatisierung der Universitäten, für die Rechte von ArbeiterInnen und MigrantInnen und war besonders bei den Straßenprotesten gegen die brutalen Polizeieinsätze aktiv, die auf den kaltblütigen Mord am 15-jährigen Schüler Alex Grigoropoulos folgten.
Dieses radikale Erbe von SYRIZA bedeutete, dass sie dem wütenden Angriff Stand halten würde, der von der herrschenden politischen Elite und ihren Mainstream-Medien in der Vorwahlperiode entfesselt wurde; einem Angriff, der mit dem Aufstieg der extremen Rechten und dem Versuch, SYRIZA als Gefahr für die pro-europäische Haltung Griechenlands darzustellen, seinen Höhepunkt erreichte.
Was sich tatsächlich in Griechenland ereignete, war die Entstehung eines „Extremismus des politischen Zentrums“ (so zumindest haben verschiedene Gelehrte dieses Phänomen beschrieben). Viele der Parteien des Mainstreams haben die ganze autoritäre und rechtsextreme Agenda, die entsprechenden Praktiken und in vielen Fällen das dazugehörige Personal übernommen. Dann versuchten sie, Schrecken zu verbreiten und Panik in der Gesellschaft zu streuen, um die Stimmung und die politischen Debatten von der verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Das hat sich in der Vorwahlperiode noch intensiviert. Dadurch haben sie dem öffentlichen Diskurs über fremdenfeindliche und rassistische Ideen Tür und Tor geöffnet und ermöglicht, dass die Neonazi-Partei Goldene Morgenröte an Bedeutung gewinnen konnte. Diese Art von Diskurs ermöglichte die Legitimierung dieser ehemals marginalisierten und diskreditierten Partei und hat als Katalysator für sie fungiert, wodurch es ihr gelang, mit 7% der Stimmen im Parlament vertreten zu sein. Der Wahlerfolg von SYRIZA und ihre entschlossene Verteidigung von Demokratie und sozialen Rechten haben die alten und etablierten Parteien dazu gezwungen, ihre Haltung gegenüber ihrer gefährlichen Übernahme von rechten Ansichten dahingehend zu revidieren, dass sie nun moderatere Positionen vertreten. Die Unterstellung, wonach SYRIZA antieuropäisch sei und die europäische Perspektive des Landes unterminiere, hält keinem Beweis Stand. In der Tat klingen diese Behauptungen absurd in den Ohren all jener, die mit der Situation der griechischen Linken vertraut sind; viele Jahre ist SYRIZA von anderen linken Parteien heftig für das kritisiert worden, was sie als übertrieben pro-europäische Haltung ansehen.
SYRIZAS Kritik an der aktuellen europäischen Wirtschaftspolitik sollte nicht als anti-europäische Haltung missverstanden werden, da ja klar ist, dass die Politiken, die jetzt umgesetzt werden, die wirkliche Bedrohung darstellen, und zwar nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa. Die aktuellen Politiken verschärfen im Namen der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit die Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten, die letztendlich den Frieden und den Zusammenhalt in Europa gefährden. Des Weiteren ist es die feste Überzeugung von SYRIZA, dass eine sozialistische Transformation nur durch Bündnisse ausdrücklich linker Kräfte in Europa erreicht werden kann. Daher glaubt SYRIZA, dass ein Sozialismus, der Demokratie und Freiheit beinhaltet, nur durch ständige Anstrengungen zur Schaffung von Basisstrukturen erreicht werden kann, deren Aufgabe es ist, politische Integration zu gewährleisten. Nur das trägt dazu bei, den nationalistischen Fluch einzudämmen, der in diesen Krisenzeiten anzuheben droht.
Die Implementierung des Memorandums in Griechenland hat zu einer jähen Verringerung von Gehältern und Pensionen, einem Ansteigen der Jugendarbeitslosigkeit auf 50%, zu ungerechten und willkürlichen Steuern, Zehntausenden von bankrotten kleinen Geschäften und einer steigenden Anzahl von Obdachlosen geführt. Sie hat massenhaft Privatisierungen zur Folge gehabt, bösartige Verschlechterungen des Gesundheits- und Bildungswesens, die Zerstörung des Sozialstaats, eine Zunahme von Selbstmorden und unterernährten Kindern ungeahnten Ausmaßes, das gänzliche Scheitern des neoliberalen Modells und schließlich den Zusammenbruch der Gesellschaft. In Griechenland, wo diese humanitäre Katastrophe stattfindet, ist es notwendig, dem radikalen Wunsch nach Demokratie und der radikalen Forderung nach einem Leben in Würde für alle Menschen in ganz Europa Ausdruck zu verleihen. Es ist Zeit, dass die Botschaft des radikalen gesunden Menschenverstands, die in Griechenland zum Ausdruck gebracht wird, Verbreitung findet.