Zur alljährlichen Gedenkvorlesung für den politischen Soziologen Nicos Poulantzas wurde heuer ein besonderer Gast nach Athen eingeladen: Angela Davis, die Gallionsfigur der US-amerikanischen Bürger_innen-, Frauen- und Häftlingsrechtsbewegung hielt eine Rede mit dem Titel „Abolition Feminism: Theorie und Praxis unserer Zeit“.
In einem zum Bersten gefüllten Saal mit etwa 600 Zuhörer_innen begann Angela Davis ihre Rede mit einer Danksagung: Sie dankte jenen griechischen politischen Gefangenen, die sich zwischen 1970 und 1972 – als ihr die Todesstrafe gedroht hatte – der internationalen Solidaritätsbewegung anschlossen, die ihre Freilassung forderte. Sie betonte, dass internationale Solidarität heute auch der Bevölkerung Palästinas gegenüber ausgedrückt werden müsse, die unablässig um ihre Rechte und Lebensgrundlage kämpft.
Angela Davis’ Feminismus wurzelt im Marxismus; in der Theorie, wie auch in den gemeinsam bestrittenen Kämpfen. So entwickelte sich ein Feminismus, der sich an arme und schwarze Frauen richtete, die sich vom weißen, bürgerlichen Mainstream-Feminismus abhoben. Heute ist es gar nicht mehr möglich, von einem weißen Feminismus zu sprechen – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Denn auch Europa ist kein weißer Kontinent mehr.
Sie ließ auch die Bewegung Black Lives Matter nicht unerwähnt und unterstrich, wie feministische und queere Frauen das Wesen einer Bewegung ändern können. Sie können dafür sorgen, dass in einer Bewegung gilt: Wenn das Leben schwarzer Frauen etwas wert ist, ist das Leben aller etwas wert.
Sie sprach auch über ihre Erfahrungen, die sie beim Besuch des besetzten City Plazas, eines Sozialzentrums im Herzen von Athen, gemacht hatte: Sie war von der Arbeit der Aktivist_innen und Geflüchteten beeindruckt, die es dort geschafft hatten, eine gleichberechtigte Community zu erschaffen. Dieses selbstverwaltete Projekt funktioniert unabhängig und deckt die materiellen Bedürfnisse von Menschen, die um ein würdevolles Leben außerhalb ihrer Heimat kämpfen.
Die Beziehung zwischen Rassismus und Kapitalismus
Angela Davis studierte ihr ganzes Leben über den Marxismus und versuchte, die Beziehung zwischen Rassismus und Kapitalismus zu verstehen. Ebenso untersuchte sie den Zusammenhang zwischen Gender, Rasse und Klasse. Sie wollte sich in diesem Thema diesmal zwar nicht weiter vertiefen, aber betonte, wie wichtig es sei, die veränderte Rolle der Arbeiter_innenklasse zu analysieren.
Später bezog sie sich auf die Transgender-Bewegung und wie es dieser erfolgreich gelungen war, die Rolle von Ideologie im Aufbau des Konzepts der Normierung darzustellen. Die Normierung von Gender und wie wir diese in Frage stellen führt uns auch dazu, die Normierung anderer Konzepte zu hinterfragen, wie die Herrschaft des Kapitalismus.
„Abolition Feminism“
Der Hauptteil von Angela Davis’ Vortrag drehte sich um das Konzept des Abolition Feminism. Anfangs stellte sie klar, dass sich der Terminus nicht auf die Abschaffung der Prostitution beziehe und dass sie mit Nachdruck das Recht von Sexarbeiter_innen unterstütze, sich zu organisieren. Das Publikum reagierte darauf mit begeistertem Applaus. Bei Abolition Feminism handelt es sich um jenen Feminismus, der die Abschaffung des repressiven staatlichen Apparats – wie der Polizei und der Gefängnisse – fordert, die nach wie vor Relikte der Sklaverei darstellen. Erst jetzt, im 21. Jahrhundert, versuchen wir die Nachwirkungen der Sklaverei zu thematisieren. Wenn man davon ausgehe, dass Sklaverei tatsächlich erst in den 1940er-Jahren abgeschafft wurde, bedeute dies, dass in den USA insgesamt 320 Jahre lang Sklaverei praktiziert worden sei, und nur 70 Jahre lang nicht.
Das führt uns zur US-Präsidentschaftswahl. Trumps Aufruf „Make America great again“ sei in Wirklichkeit ein Aufruf, Amerika alt, weiß und männlich zu machen. Angela Davis zitierte hier einen Senatskandidaten aus Alabama, der von Trump unterstützt wurde: „Amerika war großartig, als Familien noch zusammenhielten. Auch wenn wir damals noch die Sklaverei hatten…“
Bildung als Ware
Darüber hinaus thematisierte Angela Davis die Beziehung zwischen Sklaverei und Kapitalismus, die das ergibt, was wir „Rassenkapitalismus“ nennen. Der Sklavenhandel spielte eine wichtige Rolle in der kapitalistischen Vermögensanhäufung.
Im Anschluss daran bezog sie sich auf die erste Phase der Globalisierung, sprach das Thema höhere Bildung und Universitäten sowie deren Rolle als öffentliche Einrichtung hier in Griechenland an und stellte Vergleiche mit den USA an. Bildung sei in den USA nicht bloß zur Ware geworden. Die langjährige Kommerzialisierung von Bildung in den USA habe dazu geführt, dass Studierende Bildung als gar nichts anderes wahrnehmen könnten denn als Ware.
In der Folge nahm Angela Davis Bezug auf die Auswirkungen der Globalisierung und unterstrich dabei, dass die Deindustrialisierung in der Globalisierungsära „überschüssige“ Communities erschaffen habe, also Gruppen von Menschen, die nicht länger über genügend Mittel zur Sicherung des eigenen Überlebens verfügten. Diese Menschen waren es, die für die Entwicklung der Gefängnisindustrie rekrutiert wurden; es handelte sich dabei um Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe. Gefängnisse wurden zum Aufbewahrungsort für jene, die in der sich verändernden kapitalistischen Welt keinen Platz mehr fanden. Bald darauf wurden Gefängnisse in gewinnabwerfende Institutionen umgewandelt. Damit entstand der Begriff „Gefängnisindustrie“. Der Begriff zeigt die Verbindung zwischen dem globalen Kapitalismus, Rassenkapitalismus und staatlicher Bestrafung auf. Dieser Verbindung und der Gefängnisindustrie selbst kommt nun, während der „Migrations-/Flüchtlingskrise“, eine spezielle Bedeutung zu.
Wie können wir Gewalt bekämpfen, ohne sie zu reproduzieren?
Angela Davis beschäftigte sich fast ihr gesamtes Leben lang mit dem Thema der Gefängnisse; von den Anfängen ihrer Tätigkeit, als sie sich für politische Gefangene einsetzte, bis heute. Um diesem System ein Ende zu setzen (die geforderte Abschaffung stellt hier einen Aufruf zum Neudenken von Gerechtigkeit dar), müssten wir neue Wege finden, um Leid und Schaden anzusprechen. Wie können wir Gewalt bekämpfen, ohne sie zu reproduzieren?
Natürlich war Abolition Feminism Objekt umfassender Kritik auch seitens feministischer Kreise. Heute ist es den Frauen endlich gelungen, sexuelle Belästigung, häusliche und familiäre Gewalt zu kriminalisieren und die Täter zur Verantwortung zu ziehen – und das soll wieder verunmöglicht werden?
Was erwarten wir also von der Abschaffung dieses Systems? Angela Davis und Unterstützer_innen des Abolition Feminism rufen jede und jeden dazu auf, neue Möglichkeiten zu finden, genderspezifische Gewalt zu thematisieren und zu bekämpfen. Im Abolition Feminism finden sie eine Antwort auf den „Gefängnisfeminismus“, mit dem feministischer Aktivismus versucht, den staatlichen Strafapparat zu nutzen, um Frauen Gerechtigkeit zu verschaffen. So zitierte sie Beth Richie aus dem Buch Arrested Justice: Black women, violence and America’s prison nation: „ein Feminismus, der auf Kriminalisierung beruht, reproduziert nicht nur genderspezifische Gewalt […], diese Art von Feminismus trägt auch dazu bei, ein System aufzubauen, das den strukturellen Rassismus innerhalb der Gefängnisse weltweit aufrechterhält, wo eine extrem hohe Anzahl von Häftlingen festgehalten wird, die Mitglieder der schwarzen und Latino-Communities aus dem globalen Süden und der indigenen Bevölkerungen sind“.
Ein vom Aufstieg der Frauen definiertes Zeitalter
Angela Davis ist der Ansicht, dass unser Zeitalter vom Aufstieg des Feminismus definiert sei. Sie erwähnte in diesem Zusammenhang auch den Frauenmarsch in Washington nach Trumps Amtseinführung und beschrieb ihn als eine jener Erfahrungen, die ihr zeigten, dass jahrelange Arbeit schließlich lohnende Ergebnisse bringe. Viele männliche Mitglieder der Black-Lives-Matter-Bewegung deklarieren sich als Feministen. Wenn schwarze und farbige Frauen aufstehen, steht die ganze Welt mit ihnen auf. Und wenn Menschen Widerstand zeigen und eine bessere Welt fordern, findet unsere Vision ihre Umsetzung. Die Kämpfe von heute sind das Sprungbrett für die Kämpfe von morgen und ermöglichen es zukünftigen Generationen, ihre Arbeit fortzuführen.
Die Erhaltung des historischen Gedächtnisses
Am Ende ihrer Rede mahnte Angela Davis, dass genau in diesem Rahmen die Kämpfe der Palästinenser_innen thematisiert werden müssen. Es gilt das historische Gedächtnis zu wahren; die palästinensische Bevölkerung sollte uns in ihrem Durchhaltevermögen stets als inspirierendes Beispiel für Widerstand überall auf der Welt dienen. Auf Trumps Ankündigung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, sollten wir alle mit der Unterstützung der Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) reagieren.
Video (Englisch)
Das Video ist auch auf Griechisch und in Kürze auch auf Portugiesisch verfügbar.