Vom 17.-21. Juli saßen die Chefs der EU-Mitgliedsstaaten (MS) in Brüssel zusammen und feilschten ebenso über den “Aufbauplan”, der die Corona geschwächten Wirtschaften stabilisieren soll, wie den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR). Was ist von ihren Beschlüssen zu halten?
Vom 17.-21. Juli saßen die Chefs der EU-Mitgliedsstaaten (MS) in Brüssel zusammen und feilschten ebenso über den "Aufbauplan", der die Corona geschwächten Wirtschaften stabilisieren soll, wie den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR). Was ist von ihren Beschlüssen zu halten?
Man muss anerkennen, dass eines der großen wirtschaftspolitischen Dogmen der EU tatsächlich über Bord geworfen wurde. Erstmals wurde beschlossen, dass sich die EU verschulden darf. In Zeiten so geringer Zinsen Geld aufzunehmen, um es in relevante Projekte zu investieren, ist klug. So kommt immerhin, bezogen auf die gesamte EU, ein makroökonomischer Stimulus von 0,7% des BSP der EU für die nächsten drei Jahre zu Stande.
Wenn dem so ist, warum sprach dann MEP Martin Schirdewan, der Ko-Vorsitzende der GUE/NGL-Fraktion im Europäischen Parlament (EP), von einem "schwarzen Tag" für Europa? Weil wesentliche Probleme der EU völlig außer Acht gelassen wurden..
Was sind die großen ungelösten Probleme?
- Entgegen aller Behauptungen gibt es nach wie vor keine klare Kopplung von EU-Hilfen mit der Einhaltung rechtstaatlichen Verhaltens;
- Die "Rabatte", die die "unsolidarischen Vier" (die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden) und das angeblich so "gute" Deutschland sich für weitere sieben Jahre auf ihre EU-Beiträge gesichert haben, die nun v.a. auf Kosten von Frankreich und Italien gehen werden.
- Es ist jetzt schon klar, dass es früher oder später zu neoliberalen Auflagen kommen wird für die Länder, die Gelder von der EU erhalten; Yanis Varoufakis hat als erstes in einem Artikel den "Elefanten im Raum", über den niemand reden wollte, benannt: die Kürzungspolitik. Zurecht stellte er fest, dass der unsinnige "Stabilitäts- und Wachstumspakt" zurzeit nur ausgesetzt wurde. Der Vize-Präsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis hat bereits angekündigt, im Herbst dieses Jahres die Diskussion darüber zu starten, wann es endlich wieder Anweisungen der EU geben kann an ihre Mitgliedsstaaten diesen Pakt einzuhalten
- Ist es zu einer Kürzungsorgie gekommen, die die zukunftsträchtigsten Programme teilweise ganz ausradiert hat.
Wie weit hilft nun der beschlossene MFR und der Aufbauplan dem von Corona wirtschaftlich am meisten betroffenen Mitgliedsstaaten wie Italien?
Zunächst einmal bedeuten die Beschlüsse des Rates ja, dass die EU sich gemeinsam verschulden wird, und zwar in einem Ausmaß von €750 Mrd. Davon wird etwa Italien 13% zu stemmen haben – bei einer Staatsverschuldung von rd. 160% des BIP (2020). Wenn man diese Neuverschuldung mit den nicht Zuschüssen, die Italien aus dem Aufbauplan und MFR erhalten soll, gegenrechnet, erhält Italien für 2021-23 EUR 30 Mrd. netto. Zum Vergleich: Deutschland wird die ostdeutschen Kohleregionen, in den 16.000 Jobs von der Kohleindustrie abhängen, mit EUR 20 Mrd. zu unterstützen.
In den Verhandlungen kam es zu einem schlechten Ausgleich der Interessen der vier unsolidarischen Staaten, die einfach nur kürzen wollen, und den Staaten, die schnelle direkte Hilfen benötigen. Das Ergebnis war, dass die Zuschüsse von EUR 310 Mrd. leicht auf EUR 312,5 Mrd. erhöht wurden, allerdings die zukunftsorientierten Projekte teilweise komplett gestrichen wurden.
Quelle: Silvia Merlers, Head Of Research – Algebris Policy & Research Forum
So wurde etwa das klimapolitisch wichtige Rural Development Programm halbiert, der Just Transition Fund um zwei Drittel gekürzt und das Solvenzhilfeinstrument, durch das in der größten Wirtschaftskrise KMUs unterstützen werden sollten, gleich zur Gänze eingestellt. An Dreistigkeit nicht zu überbieten ist, dass auch das Gesundheitsprogramm komplett gestrichen wurde. Im Rahmen dessen war unter anderem vorgesehen, Reserven und medizinischer Versorgungsgüter anzulegen sowie Gesundheitsfachkräfte für den Einsatz in der gesamten EU auszubilden, damit sie im Notfall dort eingesetzt werden könnten, wo sie am gebraucht werden (EU4Health).
Obwohl unser unmittelbar größtes Problem die radikale Reduktion des CO2-Ausstoßes ist, sieht es bei der Klimapolitik ebenfalls düster aus. Selbst wenn das Ziel festgesetzt wird, dass 30% der Mittel des MFR und des Aufbauplans für den Klimaschutz ausgegeben werden sollten, wären das für die nächsten sieben Jahre €547,2 Mrd. Nach Berechnungen der Kommission benötigen wir allerdings €1,46 Billionen an Investitionen jährlich, um die Klimaziele bis 2030 noch erreichen zu können. Wenn wir nun die Gefahr der Wiedereinführung des sog. Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit seinen Kürzungsauflagen hinzunehmen wird klar: die MS und die EU selbst werden nie und nimmer über die finanziellen Mittel verfügen, um auch nur die Minimalziele einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu erfüllen.
Was können also Lösungen sein? Wofür muss die Linke in Europa streiten?
Kurzfristig müssen sich einzelne MS zu einer "Koalition der Willigen für Eurobonds" zusammenschließen und damit an die Finanzmärkte gehen. Nur so können sie neoliberale Auflagen der EU umgehen. Mittelfristig geht es nicht ohne EU-Vertragsänderungen. Nur so kann die EU dauerhaft das Recht erhalten, Schulden zu machen, und eine "normale" Zentralbank erhalten. Es musseine Machtverschiebung geben zugunsten des Europäischen Parlaments (EP). Parlamentarier im EP sind bei weitem nicht die moralisch besseren Abgeordneten, beileibe nicht. Aber sie müssen sich in politischen Diskussionen mit ihren Parteigenossen aus anderen Ländern auseinandersetzen, was sie andere Länder mitdenken läßt. Das EP muss endlich zum zentralen Punkt der politischen Auseinandersetzungen werden, mit Kontrollfunktionen.
Die Ergebnisse der Ratstagung sind zu facettenreich für eine einfache Antwort. Einerseits haben die 27 MS tatsächlich schnell ein Hilfspaket von EUR 750 Mrd. geschnürt. Andererseits ist dies gemessen an den realen Herausforderungen ein "Klacks". Weiterhin wurden die MS gestärkt und nicht das demokratisch legitimierte EP. Trotz des großen Aufhebens – die Entschlüsse vom 21. Juli haben Zusammenarbeit in Europa nicht gestärkt.