Angriff auf die linke Opposition in der Türkei

Die Umstände, unter denen die Generalstaatsanwaltschaft den Antrag auf Parteiverbot bekannt gab, machten erneut deutlich, dass es sich um keinen rechtsstaatlichen Vorgang handelt. Es ist vielmehr eine politisch motivierte und von der Regierungsspitze angeordnete Maßnahme gegen die unliebsame linke Opposition. In den letzten Wochen führte die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), de facto Koalitionspartner von Erdoğans Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), eine Hetzkampagne gegen die HDP (Demokratische Partei der Völker) und zielte dabei insbesondere auf deren Abgeordnete. Frei erfundene und völlig absurde Vorwürfe, wonach HDP-Politiker*innen Terrorist*innen oder Terrorunterstützer*innen seien, gingen durch die regierungsnahen Medien. Danach wurde die Aufhebung der Immunität von 20 HDP-Abgeordneten beantragt, um sie anschließend inhaftieren zu können. Gleichzeitig signalisierte die MHP, dass dies aus ihrer Sicht nicht reichen würde und forderte, dass die HDP gänzlich verboten werden müsse. Der Verbotsantrag der Generalstaatsanwaltschaft spiegelt diese Hetzkampagne und wirft der HDP neben Terrorismus und Terrorunterstützung auch eine unzureichende Unterstützung für die nationalen Interessen der Türkei vor – was leicht kryptisch formuliert bedeutet, dass sie die Politik der AKP-MHP-Herrschaft kritisiert und ablehnt.

Diese neuerlichen Angriffe auf die HDP sind der vorläufige Höhepunkt einer jahrelangen Kampagne gegen die linke Oppositionspartei. Seit den Parlamentswahlen im Juni 2015, bei der die HDP 13 Prozent der Stimmen erhielt und die AKP ihre alleinige Regierungsmehrheit im Parlament verlor, steht die linke Oppositionspartei stärker im Visier staatlicher Repressionen. Die türkische Regierung setzt seitdem darauf, auf verschiedenen Wegen die HDP zu schwächen und zu marginalisieren. Dazu diente und dient die Wiederaufnahme des Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei, um Spielräume für eine friedliche und demokratische Opposition zu beschneiden. Und auch der verstärkte Rückgriff auf den türkischen Nationalismus wird regelmäßig dazu genutzt, einen gemeinsamen türkischen Block aus Regierungs- und Oppositionsparteien unter Ausschluss der HDP zu bilden. So wurde 2016 die Immunität von zwölf HDP-Abgeordneten, darunter die beiden Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, mit Stimmen der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) aufgehoben. Diese Entscheidung ermöglichte die anschließende Verhaftung der zwölf HDP-Abgeordneten, wobei Demirtaş, Yüksekdağ und fünf weitere ehemalige HDP-Abgeordnete bis heute inhaftiert sind. Auch bei den Abstimmungen im Parlament über die türkischen Militärinterventionen in Rojava/Nordsysrien und Kurdistan/Nordirak zeigt sich eine gemeinsame türkisch-nationalistische Front über alle Parteien unter Ausschluss der HDP. Nach einer Zwischenbilanz der HDP von Dezember 2020 wurden seit den Parlamentswahlen im Juni 2015 16.490 HDP-Mitglieder, darunter Co-Parteivorsitzende, Abgeordnete, Kreisvorsitzende und einfache Parteimitglieder, festgenommen.

Neben diesen Masseninhaftierungen als Maßnahme gegen die Gesamtpartei finden weitere Repressionen statt, die auf die kommunalen Strukturen der HDP zielen. So wurden in den letzten Jahren verstärkt Co-Bürgermeister*innen der HDP abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter, die von der türkischen Regierung ernannt wurden, ersetzt. Dies betrifft 48 von 65 Kommunen, in denen die HDP die Kommunalwahlen gewonnen hatte und die Bürgermeister*innen stellte. Dabei wurden 72 Co-Bürgermeister*innen festgenommen und 39 von ihnen verhaftet. Neben dieser illegitimen Verdrängung der Bürgermeister*innen wurden auch zahlreiche unter den HDP-Bürgermeister*innen initiierte Maßnahmen und Projekte von den staatlichen Zwangsverwaltern wieder eingestellt. Dies betrifft etwa Projekte gegen sexistische Gewalt und Maßnahmen für eine Gleichberechtigung der verschiedenen Muttersprachen (wie etwa mehrsprachige Straßenschilder). So wurden etwa Frauenzentren in Sur, Özalp und Muradeyi und die Hotline gegen sexualisierte Gewalt in Mardin von staatlichen Zwangsverwaltern geschlossen.

Allerdings gelang es der türkischen Regierung trotz der massiven staatlichen Repression nicht, die HDP entscheidend zu schwächen oder gar zu zerschlagen. Auch wenn die Stimmenanteile für die HDP bei den späteren Wahlen etwas niedriger ausfielen als im Juni 2015, konnte sich die linke Oppositionspartei insbesondere in den kurdischen Gebieten der Türkei halten. Trotzdem setzt die türkische Regierung in Zeiten einer Mehrfachkrise – der andauernden Wirtschaftskrise und der Coronakrise ­– verstärkt auf Repression gegen die HDP. So wurden allein am 15. Februar 2021 insgesamt 718 HDP-Mitglieder und HDP-Anhänger*innen festgenommen. Polizeirazzien und Festnahmen gibt es beinahe täglich. Als eine weitere Zuspitzung ist die geplante Immunitätsaufhebung gegen 20 HDP-Abgeordnete, darunter die Co-Parteivorsitzende Pervin Buldan, zu nennen. Dieser Schritt würde die Inhaftierung der HDP-Abgeordneten ermöglichen. Es ist gut möglich, dass dies die Vorzeichen eines größeren Angriffs auf die Gesamtpartei sind, mit dem Ziel die HDP faktisch zu zerschlagen.

Der Zeitpunkt der massiven Repression gegen die HDP ist indes nicht zufällig. Derzeit ist kaum zu übersehen, dass relevante Teile der türkischen Bevölkerung unzufrieden mit der derzeitigen Regierungspolitik sind. Sei es die ungelösten Krisen in der Wirtschaft und im Umgang mit der Corona-Pandemie oder autoritäre Entscheidungen Erdoğans – Anlässe für Unzufriedenheit gibt es genug. Die Versuche der türkischen Regierung, mit einer aggressiven Außenpolitik von diesen innenpolitischen Problemen abzulenken, sind weitgehend gescheitert, wie aktuelle Umfragen, etwa des Wahlforschungsinstituts Metropoll zeigen. Laut Metropoll liegt die Regierungspartei AKP derzeit bei 38,9 Prozent der Stimmen (ein Minus von 3,7 Prozentpunkten im Vergleich zur letzten Parlamentswahl 2018) und die MHP bei 7,7 Prozent (-3,4 Prozentpunkte). Damit würde das Regierungslager die Mehrheit im Parlament verfehlen. Auf der Oppositionsseite landet die kemalistische CHP bei 25,5 Prozent (+2,9 Prozentpunkte), während die rechte Oppositionspartei IYI (+1,3 Prozentpunkte), eine Abspaltung der MHP, 11,3 Prozent und die linke HDP 11 Prozent der Stimmen erhalten würde (-0,7 Prozentpunkte).

In dieser Situation wird es entscheidend sein, wie sich die übrigen Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft in der Türkei verhalten werden. Bis jetzt hat es die türkische Regierung immer wieder geschafft, die türkische Opposition mithilfe des türkischen Nationalismus und einer Feindschaft gegenüber politisch aktiven Kurd*innen auf ihre Seite zu ziehen. Viele eher moderate zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie etwa Gewerkschaften haben sich ebenfalls nicht gegen die Angriffe der türkischen Regierung auf die HDP gestellt – sei es aus Angst selbst Opfer der Repression zu werden, sei es, weil sie in der HDP eine prokurdische Kraft sehen und sie deswegen ablehnen. Aber solange die türkische Regierung es schafft, die HDP an den Rand zu drücken und von anderen Oppositionskräften zu isolieren, wird die gesamte Opposition nicht erfolgreich sein können.

Ursprünglich veröffentlicht auf der Website Rosa-Luxemburg-Stiftung

This site is registered on wpml.org as a development site.