Was lässt sich hier noch sagen? Alle, die es wissen wollen, wissen, wie es in den Lagern in Griechenland und Bosnien aussieht, wissen um das gewollte Sterben im Mittelmeer, wissen, dass die kroatische Grenzpolizei kontinuierlich Push-Backs nach Bosnien durchführt. Alle, die es wissen wollen, wissen, dass die Genfer Flüchtlingskonvention ebenso wie die Deklaration der Menschenrechte in der EU weitgehend totes Recht sind. Und alle, die es nicht wissen wollen, werden es auch weiterhin nicht wissen wollen. Und diejenigen, die all dies wissen und verteidigen, berufen sich auf nicht näher definierte europäische Werte und Kultur – Werte, zu denen die Menschenrechte und allgemeine Rechtsstaatlichkeit offensichtlich nicht gehören.
Einige Fakten jedoch sind kaum bekannt, wie etwa die Eckpunkte des EU-Migrationspakts. Der Vorschlag wurde von der Kommission im September präsentiert und bisher gibt es nicht den Anschein einer Einigung. Was einerseits zeigt, dass eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik der EU in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Und andererseits eine gute Nachricht ist.
Ein Pakt gegen Asyl und Migration
Denn das, was in diesem Pakt stehen soll, ist großteils eine erhebliche Verschlechterung der ohnehin schon elenden Zustände. Margaritis Schinas, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, wählte die durchaus passende Metapher eines „dreistöckigen Hauses" für den Migrationspakt.[1] Das Ziel dieses Bauvorhabens ist es, dass möglichst wenige Menschen in den obersten Stock gelangen.
Der erste Stock besteht aus Partnerschaften mit Nicht-EU-Staaten, die die Menschen dazu bringen sollen, möglichst dort zu bleiben, wo sie schon sind. Die bisherigen diesbezüglichen Aktivitäten lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass es um Grenzschutz und Verhinderung von Mobilität geht, nicht um nachhaltige Verbesserung der Lebensumstände, was die einzige Möglichkeit darstellt, das einzige Ziel dieses Pakts kurzfristig zu erreichen – Menschen von der EU fernzuhalten. Denn eine Verbesserung der Lebensumstände lässt sich nicht durch Entwicklungshilfe herbeiführen – selbst wenn diese besser finanziert und organisiert wäre als bisher –, sondern nur durch ein Ende der Ausbeutung des globalen Südens. Und dem stehen klare und gut durchsetzbare Interessen des Kapitals entgegen.
Der zweite Stock besteht aus noch dichteren Außengrenzen der EU, mit umfassenden Kontrollen in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit inklusive der Registrierung von Fingerabdrücken. Für Personen aus Ländern mit geringer Anerkennungsrate ist ein Schnellverfahren von maximal 12 Wochen an der Grenze vorgesehen. Wer sich je die Fehlerhaftigkeit deutlich längerer Asylverfahren vor Augen geführt hat, kann sich vorstellen, wie umfassend ein solches Schnellverfahren sich mit den Asylvorbringen beschäftigen wird. Aber es wird sicher seinen Zweck erfüllen.
Sollte es Geflüchteten dann dennoch gelingen in den dritten Stock zu gelangen, wird die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten angerufen. Selbstverständlich wird dabei wieder einmal die Einführung gemeinsamer Standards für Asyl genannt, die seit Jahrzehnten grandios scheitert und zu der Asyllotterie führt, der Geflüchtete ihr Leben aussetzen. Unter den derzeitigen Bedingungen könnte es allerdings sein, dass diese Lotterie immer noch besser ist als ein gemeinsames System, das ausschließlich Verlierer*innen kennen wird. Da eine Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten schlicht nicht durchsetzbar ist, soll das Problem über Finanztransfers gelöst werden: Länder, die Geflüchtete aufnehmen, erhalten Geld, solche, die das nicht tun, zahlen. Besonders zynisch sind die hier vorgesehenen, von der EU-Kommission so genannten „Rückführungspatenschaften", eine neue Form eines „solidarischen Ausgleichs" – Länder, die keine Geflüchteten aufnehmen, finanzieren anderen Ländern die Abschiebung abgelehnter Asylwerber*innen. Zugleich sind die Mitgliedsstaaten aufgerufen, ihre bilateralen Beziehungen spielen zu lassen, um andere Mitgliedsstaaten beim Abschieben zu unterstützen. Auch hier ist also ein Wechsel von einer unwürdigen Lotterie zu einem System geplant, bei dem alle verlieren – außer die Festung Europa. Der guten Ordnung halber sollte hier allerdings noch die einzige Verbesserung erwähnt werden, die der Migrationspakt vorsieht: Die völlig widersinnige Dublin-Regulierung, die in erster Linie vorschreibt, dass Geflüchtete im ersten EU-Land um Asyl ansuchen müssen, das sie betreten, und damit qua Geographie erhebliche Ungleichheiten im Asylsystem vorschreibt, wird aufgeweicht. Wenn Geflüchtete in einem Mitgliedsstaat Familie haben oder dort schon einmal einen legalen Aufenthalt hatten, soll das Verfahren nun dort stattfinden.
Frontex: Mehr Geld für Menschenrechtsverletzungen
Der Pakt sieht des Weiteren auch eine Aufrüstung von Frontex vor. Diese fand allerdings schon statt, bevor der Pakt überhaupt beschlossen wurde. Im Dezember 2020 wurde in einer neuen Verordung festgelegt, dass Frontex eine „beständige Reserve" von 10.000 Uniformierten aufbauen und dafür eine eigene Ausrüstung beschaffen wird – Flugzeuge, Schiffe, Fahrzeuge, Drohnen. Letztere sollen vor allem im Mittelmeer eingesetzt werden und mit
„Kameras, Wärmebildkameras und sogenannte(n) Daylight Spotter (ausgerüstet sein), die bewegliche Ziele selbstständig erfassen und im Fokus behalten. Zur weiteren Ausrüstung gehören Anlagen zur Ortung von Mobil- und Satellitentelefonen. Die Drohnen sollen außerdem Signale von Notrufsendern empfangen können, die in moderne Rettungswesten eingenäht sind."[2]
Sechs Milliarden Euro sind dafür vorgesehen.
Diese kostspielige Aufrüstung von Frontex findet zeitgleich mit der Veröffentlichung zahlreicher Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Korruption von Frontex in den sogenannten Frontex-Files statt.[3] Unter anderem wird Frontex mit ziemlich klarer Beweislage die Anstiftung zu Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen – etwa im Fall eines Boots mit Geflüchteten in der Ägäis, bei dem die Frontex- Piloten den Auftrag bekamen, sich zu entfernen, und das Boot dann von der griechischen Küstenwache in türkische Gewässer zurückgeschoben wurde. Frontex-Direktor Leggeri spricht hier von Missverständnissen. Dass Frontex bisher noch nicht einmal mit der Rekrutierung der 40 Menschenrechtsbeobachter*innen begonnen hat, zu deren Einstellung die Agentur verpflichtet ist, spricht allerdings nicht gerade für ein hohes Interesse an der Aufklärung solcher "Missverständnisse"[4].
Es erscheint also höchst unwahrscheinlich, dass das neue, teure Gerät zur Rettung von Geflüchteten eingesetzt werden soll; vielmehr geht es weiterhin um die Abwehr von Geflüchteten – koste es, was es wolle, finanziell oder an Menschenleben. Die Profiteur*innen sind die Waffenproduzent*innen, mit deren Lobbyist*innen sich Frontex laut Frontex Files laufend trifft. Sie liefern die Mittel dazu, Geflüchtete nicht in die EU zu lassen. In der Verordnung ist auch vorgesehen, dass die von Frontex gesammelten Informationen Nachbarstaaten, etwa in Nordafrika, zur Verfügung gestellt werden. Damit werden illegale Push-Backs oder auch Pull-Backs (das Verhindern der Ausreise aus einem Land) erleichtert und die Arbeit der NGOS zur Unterstützung von Geflüchteten im Mittelmeer, wie etwa von Alarmphone Watch the Med, immer mehr erschwert.
Kein Recht auf ein Asylverfahren
Diese Push-Backs finden nicht nur im Mittelmeer statt, sondern auch auf dem Landweg, insbesondere entlang der Balkanroute. Push-Backs durch die kroatische Polizei sind ausführlich dokumentiert – in ihrer gesamten Brutalität, die dazu führt, dass Geflüchtete häufig mit schweren Verletzungen und ohne ihre Kleidung und Handys wieder in Bosnien landen. In einem der ärmsten Länder Europas, mit überfüllten Lagern mit unzureichender Versorgung und zahlreichen "wilden" Camps. Der schwache Staat Bosnien-Herzegowina ist ebenso wenig in der Lage, die Geflüchteten im Land zu versorgen wie seine zahlreichen subnationalen Einheiten mit teilweise überschneidenden und unklaren Kompetenzen. IOM (International Organization for Migration) und UNHCR führen Lager wie Gefängnisse und investieren offensichtlich mehr Geld in Absicherung als in Versorgung. Ohne die kontinuierliche Unterstützung zahlreicher Bosnier*innen wie auch internationaler NGOs, wie etwa SOS Balkanroute, wäre die Lage noch verzweifelter als sie ist. Aber trotz dieser zivilgesellschaftlichen Initiativen überwintern etwa im abgebrannten Lager Lipa hunderte Menschen in Zelten in den bosnischen Bergen.
Bosnien befindet sich in der unglücklichen Lage, als Nicht-EU-Staat vor den Toren der EU zu liegen. Damit soll dieses Land nicht nur die Folgen der Politik der Festung Europa verkraften, sondern wird auch für das Elend der Geflüchteten verantwortlich gemacht: Selbst Amnesty International kritisiert in einer kürzlich erschienenen Erklärung fast ausschließlich die bosnische Gefüchtetenpolitik und erwähnt nur am Rande die Notwendigkeit, sichere Fluchtwege in die EU einzurichten.[5]
Ausschluß und Einschluß
Dies ist eine langjährige – und seit langem vergebliche – Forderung. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten gehen den umgekehrten Weg – statt sicherer Fluchtrouten versperren sie die lebensgefährlichen Routen mit illegalen Push-Backs. Border Violence Monitoring Network dokumentierte bislang 892 Pushbacks mit 12.654 Betroffenen entlang der Balkanroute.[6] Im Jänner 2020 wurde eine Kettenabschiebung von Italien bis nach Bosnien vor einem römischen Gericht verhandelt und für rechtswidrig erklärt.[7] Auch das serbische Verfassungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof Ljubljana haben Push-Backs als rechtswidrig verurteilt.[8] In Bezug auf die Situation im Mittelmeer wurden Verantwortliche der Europäischen Union vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verklagt. Demnächst sollen Einzelfälle und Namen der beklagten Personen veröffentlicht werden.[9]
Doch auch wenn es Geflüchteten gelingt, in die EU vorzudringen, sind ihre Chancen auf eine menschenwürdige oder gar gesetzeskonforme Behandlung nicht besonders hoch. Wenn das Aussperren der Geflüchteten gescheitert ist, werden sie eingesperrt. Etwa im Lager Moria, unter Bedingungen, die so katastrophal sind, dass das von niemandem mehr geleugnet wird. Trotzdem lehnt etwa Österreich kategorisch jede Aufnahme von Menschen aus Moria ab. Andere Mitgliedsstaaten zeigen sich konzilianter und sind bereit Familien oder unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Aber Moria ist schlicht kein geeigneter Ort für das Leben von Menschen – unabhängig von ihrem Alter oder Geschlecht.
Gelingt es, nach Österreich, Deutschland oder ein anderes Land zu gelangen, in das es nicht viele Geflüchtete schaffen und das als besserer Ort für Asylverfahren gilt – dann sind die Lager etwas besser ausgestattet. Aber auch hier ist es das Lager, das die Geflüchteten erwartet, mit Beschränkungen aller Art und einer kaum absehbaren Wartezeit auf eine Entscheidung, die von sehr vielen Faktoren abhängt, von denen oft die Lebensgeschichte der Geflüchteten der am wenigsten wichtige ist.
Das Zentrum Europas
Was lässt sich hier noch sagen und was lässt sich hier noch tun? Im Jahr 2012 richtete die Bürgermeisterin von Lampedusa einen Hilferuf an die EU, da sogar der Friedhof der Insel schon zu klein wurde für die Leichen der Geflüchteten. Im Jahr 2013 führte ein Bootsunglück bei Lampedusa, bei dem 366 Geflüchtete ums Leben kamen, noch zu öffentlicher Betroffenheit. Im Jahr 2015 ging das Bild des ertrunkenen Kleinkinds Alan Kurdi um die Welt. Mittlerweile erregen die Zahlen der Toten und ihre Bilder kaum mehr öffentliche Aufmerksamkeit
Doch trotzdem und trotz alledem: Überall in Europa und darüber hinaus kämpfen Menschen um das Menschenrecht auf Würde und sicheres Leben, unter Gefahr für ihr eigenes Leben, vor Denunzierung und Kriminalisierung. Damit kämpfen sie um die vielbeschworenen europäischen Werte – um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Denn daran ist Europa und ist die Europäische Union zu messen. An der Situation von Geflüchteten und Migrant*innen entscheidet sich die Zukunft Europas. In den Worten des schwedischen Autors Henning Mankell (in denen man Lampedusa mit Moria oder Lipa ersetzen kann):
"Das symbolische Zentrum Europas ist Lampedusa. Weil sich auf dieser Insel entscheidet, welche Art von Europa wir haben wollen."
Anmerkungen
- European Commission: Speech by Vice-President Schinas on the New Pact on Migration and Asylum. Speech
- Le Monde diplomatique, Matthias Monroy: Drohnen für Frontex
- Siehe etwa: FragDenStaat, Arne Semsrott: Frontex Files: Wie die EU-Grenzpolizei das Parlament belügt
- Zeit Online, Jakob Pontius: "Die schlechteste Grenzschutzbehörde der Welt". Frontex Files
- Anesty International: Bosnia and Herzegovina: Systemic Solutions and Meaningful EU Support, Including Safe Pathways, Could Prevent Recurring Humanitarian Emergencies
- Border Violence Monitoring Network: Launch Event: The Black Book of Pushbacks
- ReliefWeb: Rome Court decision against Italy’s illegal migrant pushbacks is a significant step. News and Press Release
- Deutsche Welle, Nemanja Rujević: Serbien schiebt Asylbewerber ab – in die EU. Balkanroute
- Le Monde diplomatique, Matthias Monroy: Drohnen für Frontex
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