Die aktuelle Situation Europas wird von Themen wie Brexit, Migration und EU-Krise dominiert. Damit stellt sich eine Reihe von Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Beeinflusst die gegenwärtige Lage den CEE-Raum auf bestimmte Weise? Wie soll die radikale Linke handeln und was sollen ihre Ziele sein?
Die Ereignisse der vergangenen Monate zerstörten alle Ideen und Visionen einer Entwicklung Europas, wie sie noch vor wenigen Jahren aktuell waren. Die Frage ist, ob diese Tatsache auch die Region Zentral- und Osteuropa (CEE) betrifft. Zu einem gewissen Maße wohl ja. Die Region weist jedoch einige spezielle Eigenschaften auf. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich die Entwicklung dieses Teils des Kontinents in den letzten 25 Jahren auf andere Weise vollzog, als im Großteil der anderen europäischen Staaten. In anderen Worten: Die CEE-Staaten übersprangen die aufwändige Phase des Aufbaus von Wohlfahrtsstaaten nach dem westlichen Modell und nahmen die direkte Abkürzung zum neoliberalen, globalisierten Europa, das von eingeschränkten sozialen Absicherungen geprägt ist. Hier soll auch angemerkt werden, dass einige Soziolog_innen und Historiker_innen in der schnellen Ausbreitung des Wohlfahrtsstaates in den 1950er und 1960er Jahren eine westliche Antwort auf die sozialistischen Realitäten in Osteuropa sehen. Die aktuelle Lage stellt uns vor eine Reihe von Fragen, auf die wir Antworten finden müssen. Beeinflusst die aktuelle europäische Lage den CEE-Raum auf bestimmte Weise? Wie soll die radikale Linke handeln und was sollen ihre Ziele sein?
Die wachsende Bedeutung der CEE-Region
Heute sind sich die Staaten in Europa stärker der Rolle der CEE-Staaten und ihren Einfluss auf europäische Angelegenheiten bewusst. Durch den Brexit wird den CEE-Staaten noch größere Bedeutung zukommen, da ihr relatives Gewicht in der EU damit zunimmt. Aktuell umfassen die Staaten der CEE-Region 21% der EU-Bevölkerung und verfügen über 26,5% der Mandate im EU-Parlament. Wenn Großbritannien die EU verlässt, wird der Anteil der CEE-Bürger_innen an der EU-Bevölkerung auf 23% ansteigen, und Polen wird den fünften Rang unter den bevölkerungsstärksten Ländern der EU einnehmen. Ganz zu schweigen von der wachsenden Bedeutung der CEE-Länder aufgrund ihrer geostrategischen Rolle. Heute liegen nahezu alle Staaten der CEE-Region nahe an Gebieten, in denen politische, wenn nicht in einigen Fällen auch militärische Spannungen keimen; nahezu alle unter ihnen sind NATO-Mitglieder. Alle diese Staaten machten einen demokratischen Übergang durch, der auf den Prinzipien des Washington Consensus basierte (einige Staaten bevorzugen dafür einen anderen Namen – z.B. in Bulgarien „Ran-Utt-Programm“). Alle behielten ihren Status als EU-Semi-Peripherie, und für sie bestehen nur geringe Chancen, in einem vertretbaren Zeithorizont näher an den EU-Durchschnitt zu rutschen. In der Geschichte der Region versuchte man sehr häufig, politische Abkommen zu schließen. Nirgendwo in Europa wurden das Ziel der Umsetzung des neoliberalen Konzepts und die Auslöschung des Solidaritätsgedankens in der Bevölkerung in einem so hohen Maße erreicht.
Das praktische Verschwinden der Linken in der CEE-Region
Als Folge der Übergangsprozesse in der Region ging die relevante Vertretung der radikalen Linken in der Politik verloren. Die Unterdrückung linker Sichtweisen setzte auf allen Ebenen ein, und die Unterstützung in der Bevölkerung ging verloren (leider oft zugunsten von populistischen bzw. rechtsradikalen Parteien und Bewegungen).
Seit den 1990er-Jahren und spätestens seit dem Beginn der Krise 2008 wurden die Unterschiede in der sozialen und politischen Entwicklung in einem beängstigenden Maße vernachlässigt; die gängige Annahme war, dass das (west-)europäische linke Beispiel automatisch auch die linken Kräfte in den CEE-Region zum Erfolg führen würde. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Im Westen erlebten wir die Spaltung und Schwächung der Linken, während wir in der CEE-Region über ihr praktisches Verschwinden ohne verbleibende Hintergrundstrukturen sprechen. Man sollte hier jedoch anmerken, dass die CEE-Region nie ein homogener Raum war – weder aus geopolitischer noch aus historischer Sicht. Viele CEE-Staaten kämpfen mit tiefgreifenden Widersprüchen und Problemen. Sie haben jedoch auch vieles gemeinsam, wie z.B. ihre aktuellen Status im europäischen Integrationsprozess als semi-periphere Akteur_innen. Dieser Punkt wird bei der Formulierung der strategischen und taktischen Ziele der europäischen radikalen Linken leider nahezu ganz außer Acht gelassen. Die Linke im CEE-Raum trägt dafür teilweise die Schuld, da sie ihre historische Verantwortung beinahe gänzlich verleugnete und sich nicht mit eigenen Ideen für linke europäische Strukturen einbrachte.
Die negative Einstellung der Bevölkerung zur EU
Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Visegrád-Gruppe (V4-Gruppe, bestehend aus Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen) lenken: In allen diesen Staaten außer Tschechien wurde die radikale Linke fast ausgelöscht. Die Staaten der V4-Gruppe wollten ihre Position innerhalb der EU koordinieren und konsolidieren, worin sie mehr oder weniger erfolgreich waren, da die herrschenden Kreise dieser Staaten der Idee anhingen, so ihre Verhandlungsposition tendenziell stärken zu können. Auf Seite der Linken erleben wir jedoch innerhalb der V4-Gruppe keine wirkliche Zusammenarbeit, obwohl sie dringend nötig wäre. Keiner der Staaten zeichnet sich durch besonderen EU-Enthusiasmus aus – in der Slowakei, in Ungarn und Polen geben gerade einmal 40% der Bevölkerung an, sie hätten „Vertrauen in die EU“, während sich diese Ziffer in Tschechien auf magere 28% beläuft (was sogar noch unter den 35% Großbritanniens liegt).
In Tschechien besteht keine Ablehnung gegenüber der Idee der europäischen Einheit an sich und der gemeinsamen Bewältigung bestimmter pan-europäischer Aspekte. Es besteht aber Misstrauen hinsichtlich der aktuellen institutionalisierten Lösungen, die mit der EU in Verbindung gebracht werden.
Mit dem Brexit spitzte sich die negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber der EU wohl weiter zu, in ihrer Essenz blieb sie jedoch unverändert, da sie von langfristigen Prozessen bestimmt wird. Die tschechische radikale Linke, die hauptsächlich von der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSČM) vertreten wird, setzte sich mehrere Jahrzehnte hindurch für die Umsetzung eines Verfassungsgesetzes ein, das die Abhaltung eines rechtlich bindenden Referendums vorsieht. Derzeit fordert sie das Mitspracherecht der tschechischen Bevölkerung zur Frage der NATO-Mitgliedschaft, die für das momentan schwerwiegendste Problem hält. Die KSČM hegt jedoch keine EU-Austrittsgedanken. Der Parteitag sollte darüber diskutieren, welche Position die Partei zur EU-Mitgliedschaft einnehmen soll. Bis jetzt gibt es jedoch keinen breiten Konsens innerhalb der Tschechischen Kommunistischen Partei dazu, wie der Prozess der europäischen Integration angegangen werden soll. Am meisten Gehör verschaffen sich derzeit die Nationalist_innen, deren Zugang jenem der Rechtspopulist_innen relativ ähnlich ist. Dies ist keine Überraschung, wenn man die grundsätzlich negative Einstellung der tschechischen Bevölkerung zur Integration, wie sie die EU heute handhabt, in Betracht zieht.
Die Definition eines radikal linken Handlungskonzepts für die Region
Nun stellt sich die Frage, wie wir mit dem Mangel an radikal linken Kräften in den meisten Staaten Zentraleuropas umgehen. Als einen ersten Schritt ist es notwendig, ein radikal linkes Handlungskonzept für die Region zu definieren, um Lösungen für die Krise der europäischen Integration zu finden (besonders nach dem Brexit). Dabei handelt es sich um ein dringendes Unterfangen, da die Slowakei, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, zu einem EU-Sondergipfel im September aufgerufen hat. Das Fehlen eines linken Konzeptes, das auf der Lebensrealität der zentraleuropäischen Gesellschaften aufbaut, bereitet den Weg zur steigenden Beliebtheit rechtspopulistischer Ideen, die von extrem nationalistischen europäischen Akteur_innen vorgetragen werden und die auch traditionelle Unterstützer_innen und Wähler_innen der Linken ansprechen.
Jetzt stehen wir vor der Frage, wer diese Vision tatsächlich formulieren soll. Angesichts der aktuellen Lage kann dies nicht von den radikal linken Strukturen in diesen Staaten übernommen werden, da sie – mit der Ausnahme Tschechiens – kein ausreichendes politisches Gewicht und nicht genügend Umsetzungskapazitäten haben oder unpopulär sind. Natürlich sollen diese Kräfte aber am Prozess teilhaben und ihr Wissen über lokale Realitäten einbringen.
Die Partei der Europäischen Linken scheint ebenfalls nicht im Stande zu sein, diese Aufgabe zu übernehmen, da sie nur wenig Einfluss und wenige Vertreter_innen hat und daher nicht genügend Druck ausüben kann. Das einzige verhältnismäßig starke EL-Mitglied aus diesem Raum ist die KSČM, die jedoch ein gewisses Maß an Distanz zum EL-Mainstream hält.
Das bedeutet, dass diese Aufgabe an das Bündnis der GUE/NGL-Parlamentsfraktion und die radikalen Linksparteien der Mitgliedsstaaten, wie die deutsche Linke, fällt (die derzeit versucht, ihre sozialistische Vergangenheit mit dem Bedarf an einer Vertreterin radikal linker Politik in der heutigen neoliberalen Welt zu vereinbaren). Darüber hinaus werden sich verschiedene Stiftungen und professionelle Einrichtungen – die Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Nicos-Poulantzas-Institut und andere – ebenfalls einbringen. Die Einbindung der KSČM wäre ebenfalls ratsam.
Ich persönlich denke, dass transform! hier eine Schlüsselrolle einnehmen und Analysen anstoßen und Alternativen präsentieren soll. In diesen Prozess soll auch eine breitere linke intellektuelle Front eingebunden werden; ich wäre allerdings vorsichtig, nur diesen Expertise in einem Bereich zuzugestehen, in dem viele in westlichen, mit Aktivitäten des Wirtschaftsmagnaten George Soros verbundenen Institutionen arbeiten. Die Einbindung deutscher Akteur_innen wird mit geostrategischen Faktoren begründet, da wir über den Interessensbereich der deutschen Bundespolitik sprechen. Obwohl Polen aktiv die Wichtigkeit der Partnerschaft mit den USA betont, sollten wir bedenken, dass Deutschland als einer der wichtigsten Wirtschaftspartner eines jeden V4-Staates eine immer wichtigere Führungsrolle in der EU einnimmt.
Europäische Einheit und sinnvolle Integration
Einen nächsten Meilenstein stellt die Europawahl 2019 dar. Derzeit scheint es, dass es sich dabei um ein zentrales Ereignis handelt, das sowohl die Zukunft der europäischen Integration als auch der Union selbst prägen wird. Die Erfahrungen der sogenannten postsowjetischen Staaten mit dem unerwarteten, unvorhersehbaren und sehr raschen Zerfall des sowjetischen Systems lehrte uns, die zukünftige Entwicklung eines jeden Projekts sorgfältig und kritisch zu beurteilen. Wir werden nicht vergessen, dass das TINA-Prinzip („There Is No Alternative“) nicht einmal auf die bloße Existenz der EU anwendbar ist. Daher wird es nötig sein, alle Möglichkeiten zur Stärkung der europäischen Einheit zu analysieren, während das Interesse an linken Konzepten und deren Nutzen – mehr Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit, die Stärkung demokratischer Prinzipien in der Organisation der Gesellschaften; kurz demokratischer Sozialismus – hochgehalten wird. Das bedeutet nicht, alles zu verurteilen, was die EU je umgesetzt hat (was schließlich manchmal auch gegen den Willen der neoliberalen Eliten geschah).
Die radikale Linke in der CEE-Region vertritt hauptsächlich jene, die die grundsätzlichen Systemänderungen in der europäischen Gesellschaft hoffnungsvoll beobachten und große Vorbehalte gegenüber dem modernen neoliberalen Kapitalismus haben. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein, in der CEE-Region Bedingungen für echte europäische Einheit und sinnvolle Integration zu schaffen. Um dies zu erreichen ist es notwendig, ein strategisches Ziel zu definieren, während man die Unterschiede in den Ansätzen der individuellen nationalen linken Strukturen ausklammern soll, z.B. Themen wie Migration und Umwelt (z.B. Atomkraft) betreffend; außerdem soll weniger Gewicht auf die Befürwortung von Multikulturalismus und gewisse Minderheitenrechte gelegt werden. Das gemeinsame Interesse soll sich auf die Überwindung des neoliberalen europäischen Projekts konzentrieren und zuverlässige Unterstützung für die Linke im CEE-Raum sicherstellen. Dies wird eines der Hauptthemen der Wahlkämpfe dieser Region darstellen.
Das Ziel der Europawahl 2019
Es ist unrealistisch, bei dieser Wahl alles auf eine_n gemeinsame_n Spitzenkandidat_in zu setzen. Die Erfahrung der letzten Europawahl, als Alexis Tsipras als gemeinsamer Kandidat ins Rennen geschickt wurde, zeigt, dass dieser Ansatz hier nicht funktioniert. Viele linke Parteien und deren Wähler_innen in der Region konnten sich nicht wirklich für ihn erwärmen. Von einigen (wenn wahltechnisch auch eher unbedeutenden) Strukturen erhielt er aktive Unterstützung. Obwohl er in vielen westeuropäischen Staaten sehr gute Ergebnisse erzielte, brachte diese Praxis in der CEE-Region keine besonderen Resultate. Es ist nicht sinnvoll, sich unrealistische Ziele zu setzen. Für die bevorstehende Wahl wird es daher nötig sein, einen anderen Weg einzuschlagen. Wir sollten versuchen, den Niedergang der linken Bewegung aufzuhalten, indem wir ihre Glaubwürdigkeit in der Region wiederherstellen. Der oder die „europäische Repräsentant_in“ oder auch mehrere, die diese Mission auf sich nehmen, werden dazu imstande sein, die historische Erfahrung der regionalen Bevölkerung zu berücksichtigen (einschließlich der Phase der realsozialistischen Systeme) und die sozialen und politischen Erwartungen der CEE-Bevölkerung innerhalb Europas zu artikulieren, da diese Region für Europa bedeutend und gleichwertig mit anderen ist. Wir müssen die Grundlagen für ein Ergebnis schaffen, das zumindest eine etwas bessere Vertretung der linken CEE-Bewegungen in den europäischen Strukturen mit sich bringt. Das ist das Ziel, das wir als unsere höchste Priorität definieren müssen. Deshalb stimme ich Slavoj Žižek nicht zu, der kürzlich schrieb: „[…] die heutige Linke […] ist berühmt für ihre faszinierende Fähigkeit, nie eine Gelegenheit auszulassen, eine Gelegenheit auszulassen.“[1]
Prag, August 2016
Anmerkung:
- Quelle: http://europe.newsweek.com/brexit-eu-referendum-left-wing-politics-europe-zizek-474322?rm=eu