Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen historischen europäischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeiter_innenbewegung, deren Erosion in den 80er Jahren begann und nun vollzogen ist. Die hauptsächlichen Errungenschaften, die der Klassenkampf hervorgebracht und dieser Kompromiss zementiert hat, waren die Allgemeinzugänglichkeit von Gesundheitsversorgung und Bildung, die Implementierung neuer Arbeitnehmer_innenrechte wie bezahlter Urlaubstage und Rentenansprüche, eine Vielzahl von Aufgaben in öffentlicher Hand sowie ein Staat, der als vermeintlicher Wächter über alles wacht. Entsprechend soll dieser Staat eigentlich uns vertreten (als repräsentative Demokratie).
Dieser historische Kompromiss hat schleichend an Boden verloren, Boden, den der Finanzkapitalismus gutgemacht hat. In dieser neuen Phase des Kapitalismus ist der Staat nicht länger der Beschützer der Bevölkerung, sondern der Beschützer des Kapitals und seiner finanziellen Interessen. Für einen Kompromiss mit dem Volk gibt es keine Grundlage mehr. Die europäischen Gewerkschaften und Parteien des 20. Jahrhunderts wurden vom westlichen Klassenkompromiss und der bolschewistischen Revolution von 1917 und dem zugrundeliegenden Modell geformt, ein Modell, das in den 80ern endgültig diskreditiert wurde (was 89 im Fall der Berliner Mauer gipfelte).
Mit der neuen Ära des Kapitalismus und dem Zusammenbruch des kommunistischen Alternativmodells verlor die Sozialdemokratie jeden Bewegungsspielraum und damit die Möglichkeit, Reformen anzubieten. So wurde sie endgültig in den Sozialliberalismus hineingezogen. Die Wirtschaft wird inzwischen vollständig vom Finanzkapitalismus kontrolliert und läuft den Anforderungen und Bedürfnissen des Menschen entgegen. Dieses neue Kräftegleichgewicht zwischen Kapitalismus auf der einen und Arbeiter_innenklasse auf der anderen Seite führt zur politischen Krise, die ihrerseits die Krise der transformatorischen Linken umfasst. Derartige Umbrüche tendieren dazu, überall in Europa extrem populistische und fremdenfeindliche Bewegungen zu stärken.
Wie können wir angesichts dieser tiefen Krise der transformatorischen Linken den Stillstand überwinden?
Die erste große Herausforderung ist die Erarbeitung eines Programms, die wirklich jede und jeden anspricht. Die vielen interessanten Vorschläge, die wir durchaus haben, ergeben für die Mehrheit der Bevölkerung keinen Sinn. Wir werden nicht verstanden, wenn wir über Kommunismus oder Sozialismus sprechen. Wir wissen zwar, dass das, was in den osteuropäischen Ländern praktiziert wurde, kein Kommunismus war, doch ist das Wort in den Augen der Mehrheit inzwischen ein Synonym für eine gewisse Gleichheit aller, die mit einem völligen Verlust an Freiheit einhergeht. Verwenden wir hingegen den Begriff Sozialismus, ist dieser befleckt vom Verrat der Sozialdemokratie, die sich ihre soziale und reformatorische Denkweise nicht bewahren konnte und stattdessen immer weiter in den Liberalismus abgleitet.
Angesichts dieser Situation ist es unsere Aufgabe, einzugreifen, ohne jedoch unsere Werte, unsere Solidarität, Fairness, Gerechtigkeit und unser Umweltbewusstsein zu verraten.
Wenn wir von den Commons sprechen, klingt das eindeutig wie ein positiver Wert, unbelastet vom früheren Versagen der Linken. Besonders junge Leuten erfassen den Begriff sofort als zu ihrer Solidarität und ihren demokratischen Idealen passend. Natürlich hören wir viel vom Gemeingut, dem gemeinschaftlichen Erbe der Menschheit, von Kommunen. All das und mehr kann in der Tat zum Konzept der Commons gehören.
Aber was beinhaltet das Konzept der Commons? Es geht zurück auf zwei grundlegende Überlegungen:
Zuerst muss gesagt werden, dass nichts von sich aus ein Common ist, es gibt keine natürlichen Commons, sie müssen von Menschen erarbeitet werden und dienen dazu, eine soziale Einheit zu schaffen. Die kann entweder im Bereich der Produktion liegen (als Genossenschaft), in der Reproduktion (Bildung, Gesundheitswesen usw.) oder im politischen Bereich (z B. Kommunen). Diese Gruppen von Menschen entscheiden gemeinsam über den Zweck ihres Common, und zwar objektiv und mit horizontalen demokratischen Mitteln.
Warum gehen wir davon aus, dass es keine natürlichen Commons gibt?
Nehmen wir das Beispiel Wasser, das oft als natürliches Common bezeichnet wird. Dabei ist fließendes Wasser kein Common, wenn es nicht von einem sozialen Transportsystem zu den Nutzer_innen gebracht wird. Erst die Entscheidung von Personengruppen, Wasser für alle Menschen zugänglich zu machen, macht es zum Common. Es wird erst zum Common, wenn diese Gruppen einen gemeinsamen Prozess ausgearbeitet haben, der Transport und Nutzung des Wassers regelt. Damit ist der soziale Prozess, mit dessen Hilfe sich die Gruppe geeinigt hat, das eigentliche Common.
Betrachten wir außerdem eine maßgebliche Eigenschaft der Commons. Das Recht zur Nutzung ist das entscheidende Kriterium darüber, ob etwas ein Common ist oder nicht. Die Gesellschaft entscheidet, wie dieses Recht vergeben werden soll. Diese Definition allerdings steht im grundlegenden Widerspruch zur derzeitigen Rechtsordnung, die auf Besitzrechten aufgebaut ist. Damit sind die über das Nutzungsrecht definierten Commons eine subversive Größe, die vorschlägt, das Besitzrecht durch das Nutzungsrecht zu ersetzen. Das ist auch der Grund dafür, dass Commons ein entscheidendes Element des Klassenkampfes sind. Die Commons sind kein allgemeingültiges Konzept sondern eines, mit dessen Hilfe eine Gesellschaft errichtet werden kann, die auf sozialen Handlungen und nicht auf Aneignungen beruht. Die Gesellschaft der Commons ist eine Gesellschaft ohne kapitalistischen Besitz.
Mögliche Fallstricke
Man hört immer wieder Stimmen, die von Commons sprechen und dabei bestimmte Dinge zu Commons erklären wollen – zum Beispiel Wasser, Land und Bildung – während andere Wirtschaftsgüter Besitztümer bleiben sollen. Das wäre ein neuerlicher Kompromiss mit dem Kapital, aus dem wir alle als Verlierer_innen hervorgehen würden. Früher oder später übernimmt der Kapitalismus alle vergesellschafteten Bereiche, aus denen er Profit schlagen kann, und drängt den Staat in die Position einer reinen Verwaltungsinstitution. Wenn wir also die Theorie des Gemeingutes zugrunde legen, stimmen wir im Grunde einem neuen Kompromiss mit dem Kapital zu. Wollen wir, dass die Commons ein Projekt der alternativen Transformation sind, muss unser Ziel jedoch sein, die Gesellschaft zur Entwicklung von Commons zu bringen die nicht als Privatbesitz, sondern als Nutzungsrecht verwaltet werden.
Wir haben bereits Erfahrung in der Erstellung von Commons:
Egal ob als Genossenschaften oder im Kampf gegen eine Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke durch die italienischen Alpen, die Pipeline, die durch ganz Kanada führen sollte, im Hambacher Forst oder in Notre-Dame-des-Landes in Frankreich: Auch, wenn sich diese Probleme maßgeblich unterscheiden, gibt es doch Parallelen auf der Handlungsebene: Alle Bewegungen richten sich gegen Großprojekte, die Ökosysteme vernichten wollen, um Gewinne zu maximieren. Diese Bewegungen bringen die Betroffenen zusammen: Indigene Völker, Durchschnittsbürger_innen, Umweltaktivist_innen, Landwirt_innen, Kommunalverwaltungen und andere mehr. Gleichzeitig sehen wir in diesen Widerstandsbewegungen den Willen, alternative Gemeinschaftsmodelle zu entwerfen. Solche, die auf Commons beruhen. Angesichts eines sehr starken Widerstandes müssen die „öffentlichen Stellen“, die Staaten oft nachgeben und ihre Projekte aufgeben. Gleichzeitig sind sie stets bemüht, diese Gemeinschaftserfahrungen aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit zu löschen, vorgeblich, um die „rechtsstaatlichen Prinzipien“ zu wahren, was hier gleichbedeutend ist mit der Wiederherstellung „des Rechtes auf kapitalistischen Besitz“. Seit seiner Entstehung hat der Kapitalismus immer wieder versucht, alle Spuren einer möglichen, auf Commons aufbauenden Zukunft zu verwischen. Diese Beispiele zeugen davon, welche Ergebnisse erzielt werden können, wenn das Konzept der Commons umgesetzt wird. Das Konzept hat gleichermaßen mit dem Klassenkampf (Unterdrückte vs. Unterdrücker_innen) und der experimentellen Entwicklung von Alternativen für ein neues linkes Projekt zu tun.
Wenn wir nicht wollen, dass die Commons an den Rand gedrängt und erodiert oder gleich vom Finanzkapitalismus vereinnahmt werden, müssen wir sie auf die gesamte Gesellschaft anwenden.
Dabei gilt es ein paar grundlegende Punkte zu beachten:
Zuerst müssen wir den Staat neu denken, nicht als höchste Instanz über seinen Bürgerinnen und Bürgern, sondern als ein Organ, das aus den verschiedenen Entscheidungen der Commons hervorgeht (soziale Commons, produktive Commons, …) Entsprechend muss der Staat aus der Arbeit der Gemeinschaft hervorgehen, anstatt über seine Bevölkerung zu herrschen. Im Kampf um einen derartigen Staat ist die Frage nach öffentlichen Leistungen von grundlegender Bedeutung. Alle öffentlichen Leistungen müssen in Commons umgewandelt werden. Hierbei geht es selbstverständlich nicht darum, bestehende Leistungen durch Commons zu ersetzen, sondern vielmehr darum, öffentliche Leistungen zu demokratisieren. Wenn sie aus den sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung hervorgehen, muss sichergestellt sein, dass eine Privatisierung unmöglich ist. Sie müssen ein wesentlicher Bestandteil des Gemeingutes sein und auf Grundlage der Nutzungsrechte verwaltet werden. Kurz: eine völlig demokratisierte öffentliche Leistung ist ein Common.
Zweitens müssen wir den Kampf um demokratische Teilhabe in großen Unternehmen in Betracht ziehen. Es gilt zu beachten, dass
a) Angestellte und Nutzer_innen des Produktes die Kontrolle über das Unternehmen haben (und so die Aktionär_innen ersetzen).
b) die Entscheidung über den Zweck des Unternehmens im Mittelpunkt desselben steht (was produzieren wir, für wen, für welche Umgebung?).
c) die Produktion verlagert wird, um so ein vereinfachtes und schnelleres Verständnis von Wirtschaft und Eigentumsproblematik zu ermöglichen.
Drittens müssen wir die Trennung zwischen gesellschaftlichem und politischem Leben auf der einen und wirtschaftlichem Leben auf der anderen Seite aufbrechen: Der Kampf um kürzere Arbeitszeiten, Arbeit für alle, gleiche Bezahlung von Männern und Frauen, eine Aufwertung von Pflege- und Bildungsberufen im Vergleich zum herstellenden Sektor können zum Beispiel dazu beitragen. Kommunalverwaltungen und andere Gebietskörperschaften müssen die Speerspitze dieser neuen Wirtschaftsordnung einer vergesellschafteten Demokratie sein. Aufgrund ihrer Nähe könnte die Kommune die Basis eines vereinten politischen Commons darstellen. Die Verlagerung der Produktion und alles, was damit zusammenhängt, kann zu einer Harmonisierung der wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse beitragen.
Das sind nur einige Denkanstöße, um das Konzept der Commons tatsächlich tragfähig zu machen.
Abschließend bin ich beinahe versucht zu sagen, dass wir zu Zeiten des kommunistischen Blocks des 20. Jahrhunderts und unter dem Einfluss von Parteien des linken Spektrums die Geburt einer kollektiven Gegenkultur erlebt haben, die im Gegensatz zum kapitalistischen Weltverständnis und der vorherrschenden Bildsprache steht. Erreicht wurde das durch Kultur- und Sportvereine, Volksbildung, Schrebergärten und Lokalpresse. Diese Gegenkultur gab dem Klassenkampf einen Widerhall im Alltag, der selber inzwischen sowohl auf lokalem als auch auf internationalem Austausch beruhte.
Was wir heute erleben, ist entsprechend die Geburtsstunde einer neuen Gegenkultur, die um die Commons herum aufgebaut ist. Sie ist facettenreicher als die alte Kultur der Arbeiter_innenklasse, in Bezug auf Macht und Kontinuität aber ebenso wichtig. Das ist unsere Aufgabe, die einige in unseren Gesellschaften auch schon in Angriff genommen haben. Wir müssen sie unterstützen und uns ihr verschreiben, wenn wir sie zu einem alternativen progressiven Projekt ausbauen wollen.