Arithmetisch hätte Mitte-Links eine knappe Mehrheit erreicht. Doch die rechnerische Mehrheit ist keine politische.
Dabei war und ist die Ausgangslage für eine soziale Linke selten günstig. „Soziale Gerechtigkeit“ ist der zentrale Topos der gesellschaftlichen und politischen Stimmungslage in Deutschland. Der SPD-Vorsitzende Gabriel hatte den programmatischen Erneuerungsprozess der Sozialdemokratie – der nach der desaströsen Niederlage 2009 eröffnet wurde – auch mit Blick auf die Kritik an der neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik folgendermaßen formuliert: Die „Bändigung des Kapitalismus“ sei mehr denn je Aufgabe der SPD und europäischen Sozialdemokratie. „Heute wissen wir, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit setzen sich nicht einfach als ‚geschichtliche Notwendigkeit‘ durch. Es kommt immer wieder vor, dass einst mühsam erkämpfte Errungenschaften in Gefahr geraten. Ich hoffe aber, dass wir nicht mal mehr zehn Jahre brauchen, um unser aktuelles größtes Problem in den Griff zu bekommen: die Bändigung des Finanzkapitalismus. Das ist unsere aktuell wichtigste Aufgabe.“
Trotzdem hat die SPD bereits am Wahlabend zu erkennen gegeben, dass für sie eine große Koalition mit CDU/CSU das Mehrheitsmodell der neuen Legislaturperiode sein wird. Die Crux: Eine Aufarbeitung darüber, weshalb es dieser 150 Jahre alten Partei nicht mehr gelingt, Mehrheiten zu organisieren, und was die Gründe dafür sind, dass sie bei einem Viertel der WählerInnen verharrt (bleibt ihr mit dem schnellen Einstieg in die neue Regierung Merkel versagt.
Das Wahlergebnis der Grünen überrascht nicht wirklich. 10,7% markierten in der Bundeswahl von 2009 den Aufstieg in die parteipolitische Spitzenliga. Vor zwei Jahren, unter dem Eindruck des Atom-GAUs in Fukushima, stiegen sie noch im Stimmungshoch. Sicher, Zustimmungswerte von über 20% waren eine Überzeichnung, die auf mittlere Sicht keinen Bestand haben konnte. Allerdings sahen die Demoskopen die Grünen im Frühjahr 2013 noch bei 15-16% und in der grünen Partei hatte sich eine Hochstimmung breitgemacht: Es schien ein Ergebnis erreichbar, das deutlich über dem von 2009 lag.
Nach der Wahlniederlage rumort es in den Parteigremien; die Parteiführung hat einen inhaltlichen und personellen Neuanfang angekündigt. Wohin allerdings die Reise gehen soll und wer den grünen Bus steuert, bleibt im Ungefähren.
DIE LINKE hat ein überraschend gutes Wahlergebnis erzielt. Sie wurde drittstärkste Partei vor Grünen und CSU. Sie hat zwar gegenüber 2009 knapp 1,5 Millionen Stimmen weniger mobilisieren können, aber die 8,6% im Bund und der Wiedereinzug in den hessischen Landtag hätten ihr auch parteiintern vor Wochen nur wenige zugetraut. Selbst in den westlichen Bundesländern kam sie wieder über 5%, was ihre Rolle als bundespolitische Partei unterstreicht und sicherlich eine politische Leistung der neuen Fraktions- und Parteiführung ist.
Die Linkspartei wird keinem Druck der Koalitions- und Regierungsbildung ausgesetzt sein. Im Unterschied zur Sozialdemokratie könnte der Wahlerfolg zu einer weiterführenden, selbstkritischen Entwicklung der Organisation und Verstärkung der politischen Strategie genutzt werden, auch was die Aufarbeitung von deutlicheren Verlusten in ostdeutschen Bundesländern anbetrifft. Eine selbstbewusste Linke wird sich darüber klar werden müssen, dass mit Eingriffen in die Verteilungsverhältnisse Rückwirkungen auf die Produktionsstrukturen entstehen. Eine Reformkraft muss daher bestrebt sein, auch Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit zu erwerben, um ein parteiübergreifendes Projekt gesellschaftlicher Transformation mehrheitsfähig zu machen.
Gekürzte Fassung des Beitrags vom 23.9.2013 auf: http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/erschuetterung-der-berliner-republik/