Bei unserer bereits zum dritten Mal stattfindenden Reise nach Griechenland legten wir den Schwerpunkt dieses Mal auf Athen und die Geschichte der Linken seit den 1940ern. Es ging uns insbesondere um folgende Fragen: Welche Rolle spielt die Geschichte für politische Auseinandersetzungen heute? Wie kann Vergangenheit erzählt und repräsentiert werden, um der Vielschichtigkeit der griechischen Gesellschaft gerecht zu werden?
Wir starteten unsere 5-tägige Reise zunächst mit einer Einführungsrunde auf der Dachterrasse unseres Hotels. Im Anschluss unternahmen wir einen Spaziergang mit Historiker Kostis Karpozilos im Stadtzentrum. Anhand von Beispielen aus den Umbruchphasen der 1940er und 1970er Jahren bekamen wir einen ersten Einblick in die Zeitgeschichte Griechenlands. Den ersten Abend ließen wir bei einem gemeinsamen Abendessen ausklingen.
In Kleingruppen erarbeiteten wir am nächsten Tag Texte zu verschiedenen Zeitperioden und Fragen der Erinnerungskultur Griechenland. Bei einer anschließenden gemeinsamen Diskussion wurde deutlich, dass die Bewertung der Vergangenheit in engem Bezug zu den politischen Machtverhältnissen der Nachkriegszeit steht. Am Nachmittag trafen wir uns mit der Aktivistin Angelina Giannopoulou und dem Politikwissenschafter Antonis Galanopoulos zu einem Gespräch über aktuelle linke Politik. Dabei diskutierten wir über die Möglichkeiten und Grenzen linker Regierungen, die Rolle sozialer Bewegungen und die europäischen Rahmenbedingungen.
In den folgenden beiden Tagen beschäftigten wir uns detaillierter mit dem Themenkomplex der 1940er Jahre und umkämpften Erinnerungsdiskursen. Bei einem Tagesausflug in das Bergdorf Kalávrita besuchten wir das Museum und die Gedenkstätte in Erinnerung an ein Massaker der Wehrmacht im Dezember 1943. Nach einer Geiselnahme deutscher Soldaten durch griechische Partisan*innen ermordete die Wehrmacht die gesamte männliche Zivilbevölkerung des Dorfes – kein Einzelereignis im besetzten Griechenland.
Am vierten Tag besuchten wir Kaisarianí, ein Viertel im östlichen Athen. Kaisarianí wurde in den 1920ern von griechischen Flüchtlingen aus der Türkei gegründet und war während der Nazi-Besatzung bedeutend für die Widerstandsbewegung. Eine Schießstätte, in der die Nazis politische Häftlinge exekutieren, ist seit den 1980ern eine Gedenkstätte. An die Geschichte des Bürgerkriegs wird in Kaisarianí jedoch nicht sichtbar erinnert, obwohl auch dort Kämpfe stattgefunden haben.
Die unterschiedliche Darstellung der Geschichte in Kalávrita und Kaisarianí wurde in der Gruppe in Folge kontrovers diskutiert. Während in Kalávrita eine vermeintlich unpolitische Opfererzählung vorherrscht, betont Kaisarianí die linken Helden. Wie kann die Vergangenheit erzählt werden, um der Komplexität der Ereignisses zwischen (zivilen) Opfern, Widerstandskämpfer*innen und Kollaborateuren gerecht zu werden?
Den vierten Tag beendeten wir schließlich mit einem Input der Filmwissenschafterin Anna Poupou zum Thema Repräsentation der Vergangenheit im griechischen Kino 1962-1975. Im Kontext einer beginnenden Demokratisierung, die ab 1967 jedoch durch die Militärdiktatur unterbrochen wurde, entstanden zu dieser Zeit erstmals Filme über die Nazi-Besatzung. Erst in den 1980er thematisierten Filme den Bürgerkrieg, bis heute ein kontroverses Thema. Filme spielen eine wichtige Rolle für die Konstruktion von Geschichte, gleichzeitig spiegeln sich gesellschaftliche Konflikte in Filmen.
Am letzten Tag unserer Reise besuchten wir das ASKI (Contemporary Social History Archives), das seit 1992 Quellen der Geschichte der Linken und sozialer Bewegungen für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Bei einem Input von Kostis Karpozilos und Ioanna Vogli wurde deutlich, dass auch die Geschichte linker Archive in engem Wechselverhältnis zu den politischen Debatten seit den 1940ern steht. Offene Fragen, die wir während der Reise gesammelt hatten, konnten wir dort nochmals aufgreifen. Wir beendeten unsere Reise mit einer Abschlussrunde und einem gemeinsamen Abendessen im kretischen Restaurant Oxo Nou.
Reiseorganisation und – begleitung: Milena Jana Gegios, Elisabeth Luif, Barbara Steiner
Ursprünglich veröffentlicht auf der Webseite von present:history