Transkribiertes Radiointerview mit Wolodimir Ischtschenko, Soziologe und Direktor des Zentrums für Sozialforschung in Kiew (19. April)
Chuck Mertz: Am Telefon ist mit uns nun Wolodimir Ischtschenko verbunden. Er ist ein Soziologe, der die sozialen Proteste in der Ukraine untersucht. Guten Abend, Wolodimir.
Wolodimir Ischtschenko: Guten Abend.
CM: Zu Wolodimirs letzten Beiträgen gehört der im Guardian vom Dienstag erschienene Artikel mit dem Titel „Maidan oder Anti-Maidan: die Situation in der Ukraine erfordert mehr Feingefühl“.
Nun, Wolodimir, hören wir in dieser Woche von der BBC: "Russland und die Ukraine einigen sich auf Schritte, um die Krise zu beenden. Russland und die Ukraine kamen am Donnerstags zu einer Übereinkunft die von pro-russischen Aktivisten angefachten Unruhen in der Ost-Ukraine zu beenden." Hat diese Übereinkunft alle Probleme der Ukraine gelöst? Glaubst du, dass dies den Bürgern der Ukraine Schutz und Sicherheit bringt?
Eine der Meldungen, die zurzeit durch die US-Medien gehen, besagt, dass man auf der Krim und im Osten der Ukraine der Meinung ist, dass Kiew gesetzlos geworden ist, dass es von Banden beherrscht wird, dass es dort Verbrechen gab, dass es nicht sicher ist und man fürchtet, dass ein ähnliches Chaos auch auf die Krim und in den Osten der Ukraine zukommen wird.
W. Ischtschenko: Das ist ein übertriebenes Bild. Das Leben in Kiew ist vollkommen sicher. Es ist auf jeden Fall viel sicherer als im Osten der Ukraine; im Donbass gibt es bewaffnete Banden, die Staatsgebäude angegriffen haben. Einige von denen scheinen lokale Protestler zu sein, andere scheinen zu gut ausgerüstet und zu gut ausgebildet zu sein, um nur zur Miliz zu gehören. Falls das keine Russen oder Pro-Russen sind, könnte es sich um ehemalige Bereitschaftspolizisten handeln, die Kiew verlassen haben, um einer Strafe durch die neue Regierung zu entgehen.
Kiew ist auf jeden Fall viel sicherer als noch im Februar, als im Zentrum Chaos herrschte und als es zu Straßenschlachten kam; das Hauptproblem ist der Osten der Ukraine.
CM: Lass mich dir eine allgemeine Frage zu diesem Protest stellen. Wo immer es zu einer Berichterstattung über irgendwelche Proteste kommt – sei es die Ukraine, Ägypten, Venezuela, egal wo – heben die Medien oft hervor, dass es um die Wirtschaft geht, und wenn es einen wirtschaftlichen Abschwung gäbe, wäre es niemals zu diesen Protesten gekommen. Es ist fast so, als würden die Medien sagen, dass es nicht zu Protesten kommt, wenn die Leute [einzig] mit der Beeinträchtigung ihrer Rechte oder Freiheiten unzufrieden sind; das einzige, was die Menschen auf die Straße treibt, ist die Wirtschaft.
Zu welchem Grad spielt die Wirtschaft eine Rolle im ukrainischen Aufstand? Geht es um Rechte und Freiheiten oder geht es einfach nur um ukrainische Geldbeutel und was unterm Strich übrig bleibt?
W. Ischtschenko: Es gab tatsächlich zwei Aufstände. Da hast du den Maidan-Aufstand – welcher im Dezember startete und im Januar gewalttätiger wurde – und du hast den Aufstand im Osten der Ukraine. Sie haben ähnliche Züge, aber der sozioökonomische Aspekt ist etwas stärker im Osten der Ukraine, wo die wirtschaftliche Lage wirklich bergab geht.
Die nationale Währung hat in den letzten zwei oder drei Monaten etwa 40% ihres Wertes verloren, die Preise steigen und die Menschen im Osten der Ukraine sind zum größten Teil Arbeiter, Rentner. Sie sprechen über Gehälter, sie sprechen über Preise, über den Zusammenbruch der Industrie. Einige von ihnen verlangen Verstaatlichung, einige von ihnen einen fairen Lohn. Dieser Protest hat mehr mit der Wirtschaft zu tun; es geht nicht nur um ihre [nationale] Identität.
Aber natürlich sprechen sie auch über ihre Würde, über ihre Sprache, über ihre Geschichte, über ihre Helden und über die Frage der Föderalisierung – welche auch die Frage der Anerkennung und Selbstbestimmung, die Frage nach konkreten Freiheiten und Rechten aufwirft.
Die Maidan-Proteste starteten eher als ideologischer Protest, der bis zu einem gewissen Grade als Versuch gesehen wurde, einen europäischen Traum zu ermöglichen, als eine Art Utopia, das viele ukrainische Probleme lösen würde. Und für andere Menschen war es ein Protest gegen Russland. Man glaubte, dass Janukowitsch der Zollunion mit Russland, Weißrussland und Kasachstan beitreten würde, wenn er das Europäische Assoziierungsabkommen nicht unterschreibt. Diese Länder wurden ziemlich negativ als autoritäre, arme Länder beschrieben, an denen sich die Ukraine nicht zu orientieren braucht.
Aber später während des Maidan-Aufstands kamen Themen wie Polizeirepression und Gewalt, wie die autoritären Gesetze, die im Januar erlassen wurden, auf – diese wurden dann in den Vordergrund gestellt. Sie wurden wichtiger, als die Europäische Assoziierung.
CM: Die andere allgemeine Frage, die ich dir stellen wollte: wie stark wurden diese Proteste von außen verursacht? Seit der letzten Wikileaks-Enthüllung von letzter Woche – über die USAID und ihre Arbeit Regierungen zu destabilisieren oder zu stürzen, die den Vereinigten Staaten nicht freundlich gesonnen sind – gibt es im kritischen Teil der Medien hier in den Staaten über die Rolle, die USAID und NED spielen Diskussionen . Und dann der russische Faktor – laut US-Medien werden die Protestler im Osten der Ukraine von Russland manipuliert.
Also ist das wirklich ein ukrainischer Aufstand? Oder spielen hier nur zwei Supermächte mit einer Schachfigur?
W. Ischtschenko: Ja, das ist jetzt ein großes Problem im Diskurs. Diejenigen, denen der Anti-Maidan-Aufstand im Osten der Ukraine missfällt, sehen ihn hauptsächlich als russische Manipulation: einfach nur irrationale, dumme Menschen, die ein autoritäreres Regime wollen, eine russische Diktatur, und die ihre wahren Interessen nicht verstehen.
Auf der anderen Seite – in den russischen Medien oder bei jenen, denen die Maidan-Protestler missfallen – zeichnet man ein Bild von Manipulation durch westliche Regierungen oder ukrainische Oligarchen; die Behauptung ist auch hier, dass die Leute nicht verstehen, wofür sie kämpfen.
Offensichtlich kann man nicht abstreiten, dass sowohl die USA, als auch Russland und die EU versuchen, die ukrainische Politik zu beeinflussen. Sie wären dumm, würden sie es nicht tun. Das sind große Mächte, sie haben ihre imperialistischen Interessen und das ist es, was wir von ihnen erwarten können.
Aber so ignoriert man die Graswurzel-Natur dieser Proteste. Die Leute reden über reale Probleme. Die Leute organisieren sich, sowohl auf dem Maidan im Westen der Ukraine, als auch jetzt im Osten der Ukraine. Und du kannst das nicht einfach auf das Spiel der großen Mächte reduzieren.
Es kommt auf die tatsächlichen Ergebnisse an. Was wird das Ergebnis dieser Proteste sein? Im Falle des Maidans: wir sehen vom IWF verlangte Austerität, steigende Preise, eine neoliberale Regierung, einen Anstieg der rechtsextremen Kräfte. Und im Falle der Proteste im Osten der Ukraine: wenn sie nicht stoppen, werden sie zu einer echten Gefahr für die politische Stabilität in der Ukraine … was wiederum von Russland ausgenutzt werden würde, um seine Interessen durchzusetzen.
Aber wir müssen diese komplexe Kombination von verschiedenen Faktoren beachten. Das ukrainische Volk hofft seine Probleme zu lösen; sie hoffen für eine gerechtere und freiere Gesellschaft zu kämpfen. Aber sie sind auch von Akteuren von außerhalb beeinflusst, und leider wird die Ukraine von den großen Mächte jetzt als „Spielplatz“ [ihrer Interessen] angesehen.
CM: Eines der dümmeren von den US-Medien verbreiteten Dinge ist, dass der einzige Grund, warum Wladimir Putin russisches Militär auf die Krim geschickt hat – der einzige Grund, der es ihm ermöglichte bezüglich der Ukraine die Muskeln spielen zu lassen – derjenige ist, dass er Obama für schwach hält. Glaubst du, das hat irgendeine Basis in der Realität?
W. Ischtschenko: Nein! Das klingt wirklich lustig und wenn es stimmt, ist das eine große Geschichte. Ich glaube der Hauptgrund für die Annexion der Krim war Innenpolitik. Putin musste dem russischen Volk zeigen, dass jeder Versuch, die Ukraine nach Russland herein zu holen, nicht funktionieren würde. Die Krim war nötig, um den Patriotismus in der russischen Bevölkerung zu steigern und die Chance zu verringern, dass die russische Opposition – welche sehr stark vom Maidan inspiriert wurde – ähnliches in Russland versuchen würde.
Ein kurzer und erfolgreicher Einsatz war sehr nötig und man sieht an den Umfragen: etwas über 80% der Russen unterstützen die Annexion der Krim; über 80% unterstützen Putins Politik, und es besteht ein großes Ausmaß an nationaler Einheit um den Präsidenten.
CM: Gibt es eine militärische Lösung für dieses Problem? Wir hören, dass der Westen nicht genug tut, um Russland zu stoppen, dass aber die Ukraine höchst wahrscheinlich in einen Bürgerkrieg verfällt, wenn die USA und Russland nichts tun. Gibt es eine militärische Lösung – entweder bei einer Intervention durch den Westen, oder in einem Bürgerkrieg – welche dieses Problem lösen könnte?
W. Ischtschenko: Nein. Ein Bürgerkrieg ist definitiv keine Lösung. Aber das ist ein Problem und ein sehr reales. Es sterben bereits Menschen in den Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine – und laut aktuellen Umfragen glauben über 40% der Bevölkerung im Osten der Ukraine, dass ein Bürgerkrieg in naher Zukunft sehr wahrscheinlich ist. Das zeigt, dass es ziemlich gefährlich wird.
Und wenn NATO-Truppen an der Befriedung der Ost-Ukraine beteiligt wären, würden sie als Besatzungstruppen gesehen. Eine militärische Lösung ist auch für die Regierung in Kiew keine Option. Es besteht die Frage, ob die Ukraine überhaupt über eine Armee verfügt – eine Armee, die tatsächlich kämpfen kann, nicht nur die Männer und die Ausrüstung auf dem Papier. Es gab Fälle, wo Soldaten, die in den Osten geschickt wurden, ihre Ausrüstung einfach den lokalen Protestlern übergeben haben und zurückgegangen sind. Sie waren nicht bereit zu bekämpfen. Sie waren nicht bereit, auf sie zu schießen. Es ist also nicht nur eine Frage, ob eine militärische Lösung wünschenswert ist, sondern auch ob sie überhaupt möglich ist.
CM: Was ist die größte Gefahr für das ukrainische Volk? Ist es der Westen? Ist es Russland? Sind es die Gangsterbosse innerhalb der Ukraine? Oder ist es der ‘Rechte Sektor’, der neofaschistische rechte Flügel, um den du dir Sorgen machst.
W. Ischtschenko: Für die Ukrainer, ebenso wie für jedes Volk auf der Welt, würde ich sagen, bleibt der Kapitalismus die größte Gefahr und all die Probleme und Kriege, zu denen er führt. Die politische Krise begann viel früher als 2013 – die Ukraine hat bereits eine Menge unter der Wirtschaftskrise von 2008 gelitten. Die Hauptfeinde der Ukrainer sind sowohl der russische, als auch der westliche Imperialismus, genau wie die ukrainischen Oligarchen und die herrschende Klasse.
Die beste Lösung – wenn auch die schwierigste und am wenigsten wahrscheinlichste – wäre für West- und Ostukrainer, sich auf einem gemeinsamen Boden, einer gemeinsamen Plattform gemeinsamer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu vereinigen und gegen die herrschende Klassen zu kämpfen: gegen eine russische Intervention, gegen eine mögliche westliche Intervention und gegen sowohl pro-ukrainische als auch pro-russische rechtsextreme Nationalisten.
CM: Du hast viel über den Rechten Sektor geschrieben, über die Neonazis. Anfang Februar, ein paar Wochen bevor die Regierung Janukowitsch gestürzt wurde, hattest du einen Artikel im Guardian mit dem Titel „Die ukrainischen Protestler müssen entschieden mit den Rechtsextremen brechen“ und dem Untertitel „Neonazis sind Teil der Euromaidan-Proteste geworden und wir dürfen vor dieser Gefahr nicht die Augen verschließen“ veröffentlicht.
Ist die neonazistische Ideologie des „Rechten Sektors“ so beliebt, oder stützt sich ihre Beliebtheit auf ihr gewaltsames Auftreten auf dem Euromaidan, als diejenigen, die der Polizei entgegen getreten sind?
W. Ischtschenko: Eher letzteres. Sie wurden als Volkshelden und als Spitze des Aufstands wahrgenommen. Dafür haben sie eine Menge Respekt und symbolisches Kapital bekommen.
Aber du musst auch verstehen, dass der politische Mainstream in der Ukraine viel weiter rechts ist, als zum Beispiel der in Westeuropa. Dinge, die im Westen auf harte Kritik stoßen würden, sind hier in der Ukraine mehr oder weniger toleriert. Es ist mehr oder weniger OK, über Sachen wie die „Verteidigung der weißen Europäer zu reden; so etwas kann man selbst von Mainstream-Politikern hören. Es ist OK, homophob zu sein und keine Notwendigkeit zu sehen, die Rechte von LGBTs zu verteidigen. In dieser eher rechts-dominierten Ideologie, werden die Rechtsradikalen des ‘Rechten Sektors’ oder der Swoboda-Partei eigentlich nicht als etwas Extremes gesehen.
Zur Zeit werden der ‘Rechte Sektor’ und Sowboda kritisiert, weil man denkt, dass ihr gewalttätiges und provozierendes Auftreten von Russland genutzt werden kann – die russischen Medien können davon profitieren und das nutzen, um zu zeigen, dass es eine sehr ernste faschistische Gefahr in der Ukraine gibt. Also die Leute, selbst wenn sie den ‘Rechten Sektor’ kritisieren, kritisieren diesen nicht für seine antidemokratische Ideologie. Sie kritisieren ihn nicht dafür, rechtsextrem zu sein. Sie kritisieren sie, weil sie keine "beständigen Nationalisten" sind; weil es nicht scheint, dass sie über die nationalen Interessen der Ukraine nachdenken.
Das größte Problem in der Ukraine ist der rechte Konsens und es gibt keine ernsthafte linke Kraft, die das herausfordern könnte.
CM: Es gibt also keine echte Alternative? Meinst du damit, wer auch immer die nächste ukrainische Regierung führt, er wird auf jeden Fall weit rechts stehen?
W. Ischtschenko: Nein – wenn du über die jetzige Regierung sprichst: das ist eine neoliberale Regierung. Man kann nicht sagen, dass es irgendeine Art faschistische Junta ist, was ein sehr beliebter Begriff in den russischen Medien ist. Es ist eine neoliberale Regierung; sie besteht aus einigen Nationalisten von Swoboda, aber diese sind nicht vorherrschend. Und sie würden auch nicht in der Lage sein, rechtsextreme Politik zu betreiben, solange sich die Lage in der Ostukraine nicht stabilisiert. Das wäre einfach nur sehr dumm.
CM: Aber bis zu welchem Grad werden die Ukrainer überhaupt eine Wahl haben?
W. Ischtschenko: Das ist eine andere Frage, weil viele Menschen im Osten der Ukraine – soweit ich das von den Umfragen ableiten kann – bei den kommenden Präsidentschaftswahlen überhaupt nicht zur Wahl gehen werden. Oder, wenn sie es tun, gegen alle Kandidaten stimmen werden. Also, wer auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen gewinnt, er wird ein ernstes Problem mit der Legitimation haben, zumindest im Osten der Ukraine.
CM: Weißt du, unsere Medien lieben es, eine Berühmtheit zu jedem Thema zu finden. Und die Berühmtheit, die sie hier gefunden haben, ist Julia Timoschenko. Einige haben Julia Timoschenko als die Sarah Palin der Ukraine bezeichnet. Wie würdest du das Potenzial für Julia Timoschenko beschreiben, nächstes Staatsoberhaupt der Ukraine zu werden? Und spielt das überhaupt eine Rolle, wenn alles, was sie vertritt, nur eine weitere neoliberale Regierung für die Ukraine ist?
W. Ischtschenko: Ich würde sie nicht so sehr mit Sarah Palin vergleichen, eher mit Eva Perón, der Frau von Argentiniens Staatsoberhaupt im 20. Jahrhundert. Sie ist tatsächlich eine gefährliche Person. Ich bin ziemlich sicher, wenn sie mit etwas Ähnlichem wie dem Maidan konfrontiert wäre, würde sie viel entschiedener sein, diesen zu unterdrücken – mehr noch als Janukowitsch zum Beispiel, oder jeder andere große Politiker in der Ukraine.
Zu diesem Zeitpunkt hat sie keine guten Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Sie liegt weit hinter Petro Poroschenko zurück. Einer der Gründe, warum die ganzen Proteste im Osten der Ukraine gestartet sind, und warum sie so gewalttätig sind, ist weil sie die nationalen Wahlen im Mai verzögern – um sie zu verschieben und Timoschenko etwas Zeit zu geben, mehr Beliebtheit unter den Ukrainern zu sammeln.
CM: Du schreibst, dass es zwei beliebte Weisen gibt, die Ereignisse in der Ukraine zu beschreiben. Man spricht entweder von einer demokratischen oder sogar sozialen Revolution oder von einem rechten oder sogar faschistischen Putsch und beide Bezeichnungen seien falsch. Wenn es also kein rechtsextremer Putsch und auch keine demokratische Revolution ist, wie würdest du es dann beschreiben?
W. Ischtschenko: Ich beschreibe es als einen Volksaufstand, der zu einem Wechsel der Eliten führte. Ein Volksaufstand bedeutet nicht, dass revolutionäre Veränderungen – strukturelle oder fundamentale Veränderungen in sozialen oder politischen Institutionen – folgen.
Zu diesem Zeitpunkt sehe ich nichts, was sich an den Grundlagen des ukrainischen Oligarchen-Kapitalismus ändert. Die Oligarchen haben sogar noch mehr Macht als zuvor; viele wurden als Gouverneure in einigen Regionen benannt und der wahrscheinlichste nächste Präsident ist auch ein Oligarch.
Es liegt nicht in ihrem Interesse, die Korruption zu bekämpfen und transparente Institutionen zu schaffen. Wegen der Korruption, wegen ihrer engen Beziehung zum Staat, bekamen sie überhaupt erst die Vorteile, die es ihnen erlaubt haben, ihren Wohlstand aufzubauen.
Also, ich sehe zur Zeit kein Potenzial für revolutionäre Veränderungen. Zu diesem Zeitpunkt ist es ein Volksaufstand, der zu einem Wechsel der Eliten führte, keine revolutionäre Veränderung.
(Die folgenden Fragen wurden Ischtschenko per E-Mail übermittelt, nachdem die Verbindung zwischen Chicago und Kiew unterbrochen worden war)
CM: ‘Putsch’ ist sehr negativ besetzt. Jedoch ist ein Putsch "eine plötzliche, gewalttätige und illegale Machtergreifung gegen eine Regierung". Jetzt folgte der Machtwechsel in der Ukraine nicht den Wahl- und Parlamentsverfahren, die in der ukrainischen Verfassung stehen und die Übergangseinigung [vermittelt von u.a. Walter Steinmeier] wurde fallen gelassen, sofort nachdem Janukowitsch Kiew verlassen hatte. Wie war also das, was in Kiew passiert ist – war es nicht illegal, plötzlich und gewalttätig? Ich mache mir Sorgen, dass der politische Beiklang von ‘Putsch’ die Debatte bestimmt.
W. Ischtschenko: Es war aus einem einfachen Grund kein Putsch: diejenigen, die die Macht ergriffen haben, waren nicht die Spitzen des Maidans, sondern sein sehr gemäßigter Flügel.
Nachdem es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, haben die ehemaligen Oppositionsführer sich distanziert, sie als Regierungsprovokationen verurteilt und einzugreifen und sie zu stoppen versucht. Mehrere Male haben die Oppositionsführer versucht, den Maidan zu überzeugen, Kompromisse mit Janukowitsch einzugehen.
Als Material von Sicherheitskameras in Janukowitschs Anwesen auftauchte, hat die Opposition (gemeinsam mit den europäischen Außenministern) vor den Menschen auf dem Platz dafür plädiert, einen letzten Kompromiss mit Janukowitsch zu akzeptieren, ihn bis Dezember im Amt zu lassen – als er jedoch bereits angefangen hatte, seine Sachen zu packen und seine Flucht aus Kiew vorzubereiten!
Das Konzept vom ‘Putsch’ erfasst nicht ganz die Unterscheidung zwischen der Bewegung – welche die (sehr autonome) Triebkraft der Ereignisse war – und der politischen Opposition, der Leute, die tatsächlich die Macht ergriffen haben. Deshalb nenne ich den Maidan einen Volksaufstand, nicht einen ‘Putsch’.
CM: Die letzte Frage, die wir jedem Gast stellen, nennen wir ‘Question From Hell’: die Frage, die wir nicht stellen wollen, die du nicht beantworten werden willst und deren Antwort unserem Publikum nicht gefallen wird. Die ‘Question From Hell’ zu stellen lässt mich normalerweise erschaudern – und keine mehr als diejenige, die ich für dich habe:
Wer war verantwortlich für den Tod von mehr ukrainischen Protestlern: die abgesetzte Janukowitsch-Regierung oder die der Janukowitsch-Regierung nachfolgende? Wir müssen vielleicht zwischen der Janukowitsch-Regierung, der momentanen Übergangsregierung und und einer wie immer auch gestalteten ihr nachfolgenden Regierung unterscheiden.
Es ist eine schreckliche Frage, aber sie kommt zu der bedeutenden Fragestellung des Potenzials von noch mehr Gewalt. Meine Befürchtungen bei jedem Ereignis wie diesem gelten immer den Verwundbarsten.
W. Ischtschenko: Wie das sehr oft der Fall ist, wird die neue Regierung ihre Vorgänger der meisten Tode und Gräueltaten beschuldigen, selbst wenn diese nach ihrer Herrschaft passiert sind. Und, wie es ebenfalls sehr oft der Fall ist, könnte das auch eine gewisse Berechtigung haben. Wenn Janukowitsch nicht versucht hätte, die Proteste zu unterdrücken und sich nicht bis zum bitteren Ende an seine Macht geklammert hätte, wäre die Gewalt nicht bis zu dem Level eskaliert, das wir jetzt sehen – und in naher Zukunft vielleicht sogar noch stärker sehen werden. Wir müssen zudem die Verantwortung des gewalttätigen Aufstands selbst in Betracht ziehen, die an Themen geknüpft ist, in denen das ukrainische Volk stark gespalten ist.
Aber wenn wir anfangen, über die Zukunft zu spekulieren, warum dann hier stoppen? Wenn die Ereignisse zu einem umfassenden Bürgerkrieg in der Ukraine führen und dann zu einer umfassenden russischen Intervention, und dann zum dritten Weltkrieg, wen müssen wir dann für das Ende der menschlichen Gesellschaft verantwortlich machen? Das verrückte, irrationale, kapitalistische System, das unweigerlich konkurrierende Imperialismen erzeugt. Das ist die Wurzel des Problems – nicht nur für die Ukraine, sondern für die ganze Welt.
Quelle: LeftEast
Notiz: Am 19. April 2014 führte Chuck Mertz vom Radiosender ‘This is Hell!’ (Chicago) ein zusammen mit dem Chicagoer Radiosender ‘AntidoteZine.Com’ und und dem Internet-Portal ‘LeftEast’ organisiertes Interview mit Wolodimir Ischtschenko über die Krise in der Ukraine. Ischtschenko ist Soziologe und Leitender Direktor des Kiewer ‘Zentrums für Sozialforschung’, Redakteur des ‘Journals für Sozialkritik’, sowie Lehrkraft an der Nationalen Universität der Kiew-Mohila-Akademie. Übersetzung aus dem Englischen von kommunisten.eu