Wieder einmal zeichnet sich an den Grenzen der Europäischen Union eine humanitäre Notlage ab: Die polnische Regierung ergreift zunehmend aggressive Maßnahmen und hat in zwei polnischen Regionen sogar den Notstand erklärt, sodass Geflüchtete zwischen Polen und Belarus festsitzen.
update: 4/11/2021
Am 20. Oktober wurde erneut eine geflüchtete Person tot an der polnisch-belarussischen Grenze aufgefunden. Damit ist die dokumentierte Gesamtzahl der Geflüchteten, die in den letzten Wochen bei dem Versuch ums Leben kamen, aus Belarus nach Polen zu gelangen, auf acht gestiegen. Gruppen von Geflüchteten – aus Afghanistan, dem Irak, Kurdistan, Syrien – sitzen im Niemandsland in den Wäldern und Mooren entlang der Grenze zwischen den beiden Ländern fest. Ihnen fehlt es an Nahrung, Wasser, Kleidung und Schutz und angesichts des bevorstehenden Winters verschlimmert sich die Situation zusehends. Einige der Geflüchteten erheben sowohl den polnischen als auch den belarussischen Behörden gegenüber Vorwürfe, mit Gewalt gegen sie vorgegangen zu sein.
In den vergangenen Wochen sind Tausende von Geflüchteten in der Erwartung nach Belarus gekommen, von dort aus in die Europäische Union weiterreisen zu können. Nachdem die polnische Regierung und die Europäische Union die Oppositionsbewegung in Belarus aktiv unterstützt haben, sind die belarussischen Behörden dazu übergegangen, Geflüchtete nicht mehr an der Überquerung der polnischen Grenze zu hindern. Nun wirft die polnische Regierung ihnen vor, einen „Hybridkrieg“ gegen Polen zu führen und Geflüchtete aktiv zu Einreiseversuchen nach Polen zu ermuntern. Wenn das wahr ist, hat die polnische Regierung mit ihrer inhumanen Behandlung von Geflüchteten der belarussischen Regierung in die Hand gespielt, die Polen nun als Staat darstellen kann, der die Menschenrechte missachtet.
Die polnische Regierung bleibt bei der harten Linie gegen Geflüchtete, die sie 2015 eingeschlagen hat. Damals weigerte sich die neue Regierung der PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit), die vorab für Polen als Mitgliedsstaat der Europäischen Union vereinbarte Quote an Geflüchteten aufzunehmen. Bereits in der Kampagne vor den Parlamentswahlen jenes Jahres heizte die Partei die feindselige Stimmung gegenüber Geflüchteten an und ihr Vorsitzender Jarosław Kaczyński behauptete, sie könnten Krankheiten ins Land bringen. Diesmal ist die Regierung nicht nur rhetorisch, sondern auch in ihrem Handeln noch weiter gegangen.
Berichten zufolge sollen polnische Sicherheitskräfte Geflüchtete, darunter auch Kinder, illegal über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt haben. Hunderte Soldat*innen sind im Einsatz und entlang der Grenze wurde ein Stacheldrahtzaun errichtet. Ende August erklärte Präsident Andrzej Duda auf Anforderung der Regierung per Dekret den Notstand in der Region entlang der polnischen Grenze zu Belarus (in den Woiwodschaften Podlaskie und Lublin). Hier wurden einige Verfassungsrechte aufgehoben (beispielsweise wurden öffentliche Versammlungen untersagt) und nur Menschen, die in dem Gebiet leben oder arbeiten, dürfen die Region betreten. Das Dekret verbietet auch Fotos im Grenzgebiet, einschließlich von den Wachposten, Polizeikräften, dem Militär und der Grenzinfrastruktur. Ende September stimmte das polnische Parlament für die weitere Verlängerung des Notstands, nachdem der erste Zeitraum von 30 Tagen abgelaufen war. Und Mitte Oktober stimmten Abgeordnete für den Bau einer neuen Mauer an der belarussischen Grenze, die schätzungsweise mehr als 353 Millionen EUR kosten soll; Und verabschiedete dann eine Gesetzesnovelle, die es erlaubt, Push-Backs durchzuführen und Asylanträge zu ignorieren, wenn Geflüchtete illegal ins Land kommen.
Mit der Ausrufung des Notstands können Aktivist*innen, NGOs und Journalist*innen weder dokumentieren, was entlang der Grenze geschieht, noch können sie den dort ausharrenden Gruppen von Geflüchteten helfen. So kann die Regierung diesen Menschen weiter ihre Grundrechte verweigern und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von ihrem Leid ablenken. Bei einer Pressekonferenz behaupteten Minister*innen der Regierung, ihnen würden Inhalte von Mobiltelefonen geflüchteter Personen vorliegen, darunter kinderpornographische Bilder und Verbindungen zu terroristischen Organisationen. So fadenscheinig die Beweise auch sein mögen: Die Regierung versucht damit, die Geflüchteten als „pervers“ zu diffamieren und als terroristische Bedrohung darzustellen.
Doch trotz der außerordentlich brutalen und fremdenfeindlichen Rhetorik der polnischen Regierung wird ihr Vorgehen im Grunde von der Europäischen Union unterstützt. Jahr für Jahr sterben Tausende Geflüchtete bei dem Versuch, in die EU einzureisen, und viele dieser Todesfälle werden darauf zurückgeführt, dass die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex Menschen, die vor Kriegen flüchten, zurückgedrängt hat. Der Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell erklärte, die Europäische Union stehe „in Solidarität mit Litauen, Lettland und Polen und wir sind bereit, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu unterstützen, wenn sich die Situation weiter verschlimmert.“ Und Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rats und derzeitiger Vorsitzender der wichtigsten polnischen Oppositionspartei Bündnis Bürgerkoalition (KO), stimmte in die harte Linie der Regierung gegenüber Geflüchteten ein, als er sagte:
„Die polnischen Grenzen müssen wasserdicht und gut geschützt sein. Wer das infrage stellt, versteht nicht, was ein Staat ist. Bei Sicherheit geht es nicht um antihumanitäre Propaganda, sondern um effektives Handeln. Unter der PiS-Regierung hat eine Rekordzahl illegaler Migrant*innen die polnische Grenze überquert.“
Mit der Welle negativer Propaganda haben feindliche Einstellungen gegenüber Geflüchteten in Polen zugenommen. Bei einer vor Kurzem durchgeführten Meinungsumfrage erklärten fast 55 Prozent der Befragten, Polen solle keine Geflüchteten aufnehmen (21,1 Prozent meinten, dass dies definitiv unterbunden werden sollte). Dagegen erklärten sich mehr als 38 Prozent der Befragten mit der Aufnahme von Geflüchteten einverstanden (nur 7,4 Prozent meinten, das solle definitiv geschehen). Außerdem unterstützen mehr als 47 Prozent der Pol*innen den Bau einer Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze – gegenüber mehr als 22 Prozent, die sich gegen diesen Bau aussprechen. Damit ist es der polnischen Regierung gelungen, die Aufmerksamkeit vom menschlichen Leid abzulenken und die Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen, Geflüchtete würden für die Gesellschaft eine Bedrohung darstellen. Allerdings beginnt sich die öffentliche Meinung in einigen Gebieten angesichts der sich verschlechternden humanitären Situation an der Grenze zu wandeln. Beispielsweise wurde die Frage über die Rücksendung einer Gruppe irakischer und kurdischer Familien über die Grenze durch die polnische Regierung von 49 Prozent der Befragten negativ und von 36 Prozent positiv bewertet.
Auch wenn sich Tusk dafür einsetzt, die Grenzüberquerung von Geflüchteten zu verhindern, haben sich einige Politiker*innen seiner KO- Partei aktiv dafür starkgemacht, die Geflüchteten zu unterstützen. Zudem stimmten Abgeordnete der KO-Partei gegen die Verlängerung des Notstands und den Bau einer Grenzmauer. Die KO hofft auf die Unterstützung der Europäischen Union und hat die Regierung aufgefordert, Sicherheitskräfte von Frontex an der Ostgrenze Polens zuzulassen, um der Polizei zu helfen. Allerdings lässt das bisherige Agieren von Frontex nicht auf eine Verbesserung der Situation hoffen. In der Tat berufen sich Politiker*innen der PiS regelmäßig auf die Unterstützung, die sie durch die Europäische Union erhalten haben, und argumentieren, im Einklang mit deren Wünschen zu handeln.
Das Mitte-Links-Bündnis im Parlament spricht sich aus Prinzip gegen die Maßnahmen der Regierung aus. Sie stellt den Schutz der Gesundheit, des Lebens und der Rechte der Geflüchteten in den Mittelpunkt und protestiert gegen die Pushbacks über die Grenze. Gruppen von Aktivist*innen und NGOs (wie die Stiftung Fundacja Ocalenie) haben versucht, den Geflüchteten zu helfen und der Gesellschaft ihr Leid bewusst zu machen. Die Mobilisierungen gegen die Regierungsmaßnahmen waren anfangs klein, sind jedoch angewachsen, als sich die Situation an der Grenze verschlimmerte. Am Sonntag, den 17. Oktober, fanden im ganzen Land Demonstrationen statt, auch in der Hauptstadt Warschau, wo Tausende Menschen unter dem Slogan demonstrierten: „Stoppt die Folter an der Grenze“. Die Demonstrant*innen hielten Fahnen aus Rettungsdecken in die Höhe, um das Leid der Geflüchteten zu symbolisieren und die Notwendigkeit sichtbar zu machen, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Solche Aktionen sind essenziell, um den Druck auf die polnische Regierung und die Europäische Union aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung an die schrecklichen Ereignisse zu erinnern, die sich an ihren Grenzen abspielen.