Die Veröffentlichung der Endergebnisse der Wahl des Europäischen Parlaments (EP) vom 22. – 25. Mai 2014 erlaubt nun eine erste Beurteilung der Resultate der radikalen Linke.[1]
Die Wahl stellt einen großen Erfolg für diese Parteifamilie dar, die 12.981.378 Stimmen (+1.885.574) für sich gewinnen konnte, was 7,96% der gültigen Stimmen und einem Zuwachs von 1,04% entspricht. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Parlamentsabgeordneten der radikalen Linken von 36 auf 53, und die Parlamentsfraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) legte von 35 auf 52 stark zu.[2]
Leider schaffte es die radikale Linke nicht, einige strategische Schlüsselziele zu erreichen. Bezüglich der Mandate kam die GUE/NGL nicht an die übergroßen Erwartungen heran, die einige frühe Meinungsumfragen geweckt hatten[3], und schaffte es nicht, zur drittstärksten Kraft im Europaparlament zu werden. Außerdem wurde der Stimmenzuwachs von den um einiges höheren Gewinnen der rechtsextremen, EU-skeptischen Parteien überschattet.
1. Wahlergebnis: Wichtige, aber ungleichmäßig gestreute Gewinne
Das Gesamtergebnis[4] für die radikalen Linksparteien bei Europawahlen erreichte 2014 mit 7,96% seinen Höhepunkt seit dem Niedergang des Realsozialismus. Die vormals besten Ergebnisse fuhren sie 1999 (7,59%) und 2009 (6,92%) ein.
Die Zugewinne waren in Europa jedoch nicht gleichmäßig gestreut (siehe Tabelle 1). In 14 Staaten konnte die radikale Linke ihre Zustimmungswerte verbessern, in zwölf anderen jedoch erlitt sie mäßige bis schwere Verluste.[5]
TABELLE 1. Ergebnisse der radikalen Linken: 2009-2014
|
Stimmen 2009 |
Stimmen 2014 |
Entwicklung |
|
Anteil 2009 |
Anteil 2014 |
Entw. |
AUSTRIA |
18,926 |
60,451 |
+41,525 |
|
0.66% |
2.14% |
+1.48% |
BELGIUM |
107,046 |
235,092 |
+128,046 |
|
1.63% |
3.51% |
+1.88% |
BULGARIA |
0 |
14,231 |
+14,231 |
|
0.00% |
0.64% |
+0.64% |
CROATIA |
– |
34,380 |
– |
|
– |
3.73% |
– |
CYPRUS |
106,922 |
70,130 |
-36,792 |
|
34.90% |
27.09% |
-7.82% |
CZECH R. |
334,577 |
175,027 |
-159,550 |
|
14.18% |
11.55% |
-2.63% |
DENMARK |
371,603 |
248,244 |
-123,359 |
|
16.38% |
10.92% |
-5.46% |
ESTONIA |
3,519 |
226 |
-3,293 |
|
0.89% |
0.07% |
-0.82% |
FINLAND |
109,948 |
167,006 |
+57,058 |
|
6.60% |
9.66% |
+3.06% |
FRANCE |
2,165,037 |
1,554,647 |
-610,390 |
|
12.57% |
8.20% |
-4.37% |
GERMANY |
2,004,500 |
2,220,724 |
+216,224 |
|
7.61% |
7.57% |
-0.05% |
GREECE |
718,790 |
1,934,025 |
+1,215,235 |
|
14.02% |
33.82% |
+19.81% |
HUNGARY |
27,817 |
0 |
-27,817 |
|
0.96% |
0.00% |
-0.96% |
IRELAND |
256,123 |
377,128 |
+121,005 |
|
14.00% |
22.77% |
+8.77% |
ITALY |
2,162,215 |
1,108,457 |
-1,053,758 |
|
7.06% |
4.04% |
-3.02% |
LATVIA |
0 |
6,817 |
+6,817 |
|
0.00% |
1.55% |
+1.55% |
LITHUANIA |
13,341 |
0 |
-13,341 |
|
2.43% |
0.00% |
-2.43% |
LUXEMBOURG |
9,740 |
14,773 |
+5,034 |
|
4.91% |
7.25% |
+2.34% |
MALTA |
0 |
0 |
0 |
|
0.00% |
0.00% |
0.00% |
NETHERLANDS |
330,802 |
458,079 |
+127,277 |
|
7.26% |
9.64% |
+2.37% |
POLAND |
51,872 |
0 |
-51,872 |
|
0.70% |
0.00% |
-0.70% |
PORTUGAL |
810,571 |
636,833 |
-173,738 |
|
24.32% |
20.96% |
-3.36% |
ROMANIA |
0 |
9,803 |
+9,803 |
|
0.00% |
0.18% |
+0.18% |
SLOVAK R. |
13,643 |
10,287 |
-3,356 |
|
1.65% |
1.83% |
+0.18% |
SLOVENIA |
0 |
28,700 |
+28,700 |
|
0.00% |
7.14% |
+7.14% |
SPAIN |
823,329 |
3,174,027 |
+2,350,698 |
|
5.27% |
20.78% |
+15.51% |
SWEDEN |
182,140 |
234,358 |
+52,218 |
|
5.75% |
6.31% |
+0.56% |
UK |
463,344 |
207,933 |
-255,411 |
|
3.06% |
1.26% |
-1.80% |
Gesamt |
11,085,805 |
12,981,378 |
+1,895,574 |
|
6.92% |
7.96% |
+1.03% |
Gültige Stimmen |
160,105,511 |
163,109,024 |
+3,003,513 |
|
41.42% |
41.17% |
-0.24% |
In manchen Staaten an der europäischen Peripherie konnte die radikale Linke spektakuläre Ergebnisse einfahren. In Griechenland wuchs sie auf 33,92% (+19,81%) und wurde zur größten nationalen Parteifamilie. Dieses Ergebnis beruht auf den hohen Zugewinnen der SYRIZA (26,57%), die ihre Resultate der Parlamentswahlen vom Juni 2012 bestätigen konnte und die Konservativen als stimmenstärkste Partei Griechenlands ablöste. In Spanien kam die radikale Linke dank des hervorragenden Einstands der radikal linken Liste PODEMOS auf 20,78% (+15,51). Auch die Izquierda Unida und die linke regionale Allianz Los Pueblos Deciden verzeichneten starke Zuwächse. In Irland führte die Spaltung der linksradikalen Trotzkisten zum Verlust des Mandats der Sozialistischen Partei, jedoch konnte die radikale Linke durch die Zuwächse für die links-nationalistische Sinn Féin auf 22,77% zulegen (+8,77%). In Slowenien führten die Anti-Austeritäts-Proteste von 2012/13 zur Entstehung einer zuvor nicht existenten radikalen Linken (Združena levica und Solidarnost), die 7,14% der Stimmen für sich gewann, wenn das auch für einen Einzug ins Parlament nicht reichte.
Diese Zugewinne in mittleren bis kleinen Ländern wurden jedoch von den stagnierenden oder negativen Ergebnissen in den großen zentraleuropäischen Staaten teilweise zunichte gemacht. In drei Staaten waren die Ergebnisse besonders schlecht: In Frankreich (8,20%, -4,37%), wo der Front de Gauche kaum Zuwächse verzeichnen konnte und die linksradikale NPA de facto verschwand; in Italien (4,04%, -3,02%), wo die Zusammenführung des gesamten linksradikalen Spektrums mit einigen externen Bündnispartner_innen in der Koalition L’Altra Europa con Tsipras (AET) zwar das Hauptziel des EP-Einzugs nach einer fünfjährigen Absenz im EP erreichte, jedoch beinahe die Hälfte ihres Stimmkapitals verlor; und Großbritannien (1,26%, -1,80%), wo traditionelle linksradikale Gruppierungen nicht einmal einen ernsthaften Wahlkampf betrieben hatten und bloß 0,29% der gültigen Stimmen auf sich verbuchen konnten (die restlichen 0,97% kamen von der nordirischen Sinn Féin). Schwere Verluste zeichneten sich auch in Zypern, der Hochburg der radikalen Linken (27,09%, -7,82%), ab, wo die kommunistische AKEL den Preis für die Finanzkrise von 2012/13 bezahlen musste; ebenso in Dänemark (10,92%, -5,46%), wo die grün-sozialistische SF an ihren Erfolg bei der vergangenen Wahl nicht anknüpfen konnte, und Portugal (20,96%, -3,36%), wo die CDU und PCTP/MRPP zwar dazugewannen, die BE jedoch mehr als halbiert wurde.
Diese Ungleichmäßigkeiten wurden durch die Interaktion von zwei Haupttrends hervorgerufen:
Einerseits werden Europawahlen nach wie vor als zweitrangig angesehen[6] und werden von nationalen Themen und Berechnungen dominiert. Die besonderen Neuheiten im Wahlkampf von 2014 – die Präsentation einer/s Spitzenkandidat_in einer jeden größeren Europapartei für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission und TV-Debatten mit den Spitzenkandidat_innen – schienen nur minimale Auswirkungen auf den Wahlausgang zu haben, da die Ergebnisse einer jeden Parteifamilie sehr inhomogen blieben und die Wahlbeteiligung sehr niedrig blieb.[7] Das einzige Merkmal einer „Europäisierung“ kann paradoxerweise in der Erstarkung solcher Parteien gefunden werden, die dem aktuellen Status des europäischen Integrationsprojekts kritisch gegenüberstehen. Diese Unzufriedenheit äußerte sich jedoch in den einzelnen Staaten unterschiedlich und nutzte fallweise den Rechtsextremem (z.B. der französischen FN), Rechtsnationalen (z.B. der britischen UKIP und dänischen DF), nicht zuordenbaren Populist_innen (dem italienischen M5S) und der radikalen Linken.
Andererseits spiegelte sich die steigende Polarisierung der europäischen Nationalstaaten nach makroökonomischen Gesichtspunkten (ein reiches und exportstarkes Zentrum gegenüber einer ärmeren und halbinsolventen Peripherie) im Wahlergebnis der radikalen Linken wieder. Während die Ergebnisse bei früheren Wahlen eher mittelmäßig ausfielen, konnte die radikale Linke in dieser Wahl in manchen Fällen über 20% der Stimmen auf sich verbuchen und wuchs in Griechenland, Irland und Spanien stark, während sie in Zypern und Portugal immerhin eine wichtige Basis aufrecht erhalten konnte.
2. Parlamentarische Vertretung: Eine größere, wenn auch heterogenere Fraktion
Der im letzten Absatz beschriebene Wählerstimmenzuwachs führt dazu, dass die Fraktion nun über wesentlich mehr Mitglieder verfügt (siehe TABELLE 2). Die Gesamtanzahl linker Mandate stieg von 36 (4,89%) auf 53 (7,06%); die Mitglieder der GUE/NGL von 35 (4,76%) auf 52 (6,92%).
TABELLE 2. Parlamentsfraktion der GUE/NGL: 2009-2014
|
Mandate 2009 |
Mandate 2014 |
CYPRUS |
AKEL (2) |
AKEL (2) |
CZECH R. |
KSČM (4) |
KSČM (3) |
DENMARK |
Folkeb. (1) |
Folkeb. (1) |
FINLAND |
– |
VAS (1) |
France |
Front de Gauche (4), AOM (1) |
Front de Gauche (3), AOM (1) |
GERMANY |
DIE LINKE (8) |
DIE LINKE (7), Tierschutz (1) |
GREECE |
KKE (2), SYRIZA (1) |
SYRIZA (6) |
IRELAND |
Sinn Féin (1) |
Sinn Féin (3), Luke Flanagan (1) |
ITALY |
– |
AET-ind. (2), AET-PRC (1) |
LATVIA |
LSP (1) |
– |
NETHERLANDS |
SP (2) |
SP (2), PvdD (1) |
PORTUGAL |
BE (3), PCP (2) |
PCP (3), BE (1) |
SPAIN |
IU (1) |
IU (5), Podemos (5), EH Bildu (1) |
SWEDEN |
V (1) |
V (1) |
UK |
Sinn Féin (1) |
Sinn Féin (1) |
GUE-NGL |
35 / 736 (4.76%) |
52 / 751 (6.92%) |
COUNTRIES |
13 / 27 |
14 / 28 |
Anmerkung: fett = Mitglieder der EL; kursiv = assoziierte Parteien
Die Parlamentsfraktion der GUE/NGL wurde durch Nettozuwächse bei bestehenden Mitgliedern (+3 MdEP), den Beitritt von vormals nicht repräsentierten radikalen Linksparteien (+13 MdEP) und Allianzen mit einigen Parteien, die nicht per se als „links“ gelten (+MdEP) empfindlich größer, obwohl sie zwei Abgeordnete durch die Abspaltung der griechischen KKE verlor.
Trotz dieser Zugewinne wird die Fraktion im Europaparlament eher wenig Einfluss ausüben können. Insgesamt konnte sie nur geringfügig dazugewinnen und konnte sich von der sechsten Posititon nur auf die fünfte verbessern. Die Fraktionsmitglieder stammen nun aus 14 anstatt 13 europäischen Ländern (durch das Comeback von Italien und Finnland und den Verlust Lettlands) und decken trotzdem nur die Hälfte der europäischen Staaten ab.
Eine zusätzliche Herausforderung wird das beträchtliche Maß an interner Heterogenität darstellen.[8]
Unterschiede bestehen zwischen Parteien, die Teil der Europäischen Linken (EL) sind[9] (24 MdEP), anderen radikal linken Organisationen (25 MdEP) und assoziierten Parteien (3 MdEP). Die EL wurde 2004 gegründet und bemüht sich seither darum, die Koordination der radikalen Linken in den EU-Institutionen auf „moderne“ (indem sie ihre kommunistischen Wurzeln zurückstuft) und „euro-konstruktive“ Art und Weise (indem sie sich gegen die Stoßrichtung der EU-Politik wendet, obwohl sie die europäische Integration befürwortet) zu befördern. Dies führte oftmals zu Spannungen innerhalb der GUE/NGL, die ihre konföderative Natur beibehält, um ihren Mitgliedsparteien Spielraum für die großen ideologischen und programmatischen Unterschiede zu geben. Der jüngste Schachzug der EL – im Zuge dessen sie Alexis Tsipras (SYRIZA) zum Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten machte – stieß innerhalb der EL auf große Zustimmung, jedoch riskierte sie damit auch die Entfremdung der radikaleren und euroskeptischen radikalen Linksparteien, was z.B. im Überlaufen der KKE zur Fraktion der unabhängigen Abgeordneten mündete.
Ein weiteres Schlüsselthema ist die Spaltung der Fraktion beim Thema Euroskepsis, was innerhalb der GUE/NGL und auch innerhalb der meisten einzelnen Parteien schwierige Kompromisse erfordert.[10] Die Verschlimmerung der Krise hat die strategische Arbeit und Debatten zum Thema etwas geschärft, da Unterstützer_innen eines reformierten „sozialen Europas“ immer öfter an Befürworter_innen der Schwächung oder Auflösung der EU gemessen werden, was diese als einen notwendigen Schritt zur Befreiung ihrer Staaten von den neoliberalen Zwängen von außen und zur Umsetzung einer progressiven nationalen makroökonomischen Politik sehen. Letztere Position wird von einigen orthodoxen kommunistischen Linken (KKE, PCP, AKEL), radikalen Linken (V) und anderen Parteien (Folkb.) unterstützt, sowie von Minderheiten innerhalb anderer Parteien. Diese Kräfte sind jedoch in sich gespalten, wenn es darum geht, explizit einen Austritt aus der Eurozone und der EU zu fordern anstatt eine teilweise Neuverhandlung von bestehenden Vereinbarungen.
3. Vergangenheit und Gegenwart
Die langfristige Entwicklung der Wahlergebnisse der radikalen Linken im Europaparlament wird in TABELLE 3 dargestellt. Aus der Krise und den Wahlniederlagen der kommunistisch-dominierten „alten“ radikalen Linken im Jahrzehnt zwischen 1984-1994 (der Stimmenanteil von 15,00% stürzte auf 7,08% ab) trat eine umgestaltete „neue“ radikale Linke hervor, die seither bei 7-8% der gültigen Stimmen stagniert.
TABELLE 3. HISTORISCHE ENTWICKLUNG: 1979-2014
|
1979 |
1984 |
1989 |
1994 |
1999 |
2004 |
2009 |
2014 |
Gültige Stimmen |
60.15% |
56.93% |
56.40% |
54.43% |
47.27% |
43.75% |
41.42% |
41.17% |
Stimmen für die RL (%) |
14.80% |
15.00% |
11.48% |
7.08% |
7.59% |
6.86% |
6.92% |
7.96% |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
EP-Mandate (Anz) |
410 |
434 |
518 |
567 |
626 |
732 |
736 |
751 |
RL-Mandate (Anz.) |
46 |
43 |
45 |
29 |
43 |
42 |
36 |
53 |
RL-Mandate (%) |
11.22% |
9.91% |
8.69% |
5.11% |
6.87% |
5.74% |
4.89% |
7.06% |
GUE-Mandate (Anz.) |
44 |
41 |
42 |
28 |
42 |
41 |
35 |
52 |
GUE-Mandate (%) |
10.73% |
9.45% |
8.11% |
4.94% |
6.71% |
5.60% |
4.76% |
6.92% |
Länder mit GUE-Partei |
3/9 |
4/10 |
7/12 |
5/12 |
10/15 |
14/25 |
13/27 |
14/28 |
Dieser Trend wurde von zwei Hauptelementen, dem Wachstum bzw. Niedergang der Linksparteien in den bestehenden EU-Mitgliedsstaaten und den Auswirkungen der sukzessiven EU-Erweiterungen, bestimmt (siehe TABELLE 4).
In den neun ursprünglichen Mitgliedsstaaten musste die radikale Linke zwischen 1984 (14,93% der gültigen Stimmen) und 1994 (4,25%) extreme Verluste hinnehmen, erholte sich bis zum Jahr 2009 wieder etwas (6,74%) und verlor im Jahr 2014 (5,14%) erneut. Den wichtigsten Auslöser hierfür stellte die Krise des französischen und italienischen Kommunismus dar, die durch das Erstarken anderer radikal linker Kräfte nicht ausgeglichen wurde (z.B. die SP in den Niederlanden oder die PDS/Die Linke im Westen Deutschlands).
Durch den EU-Beitrittsschub zwischen 1981-1995 kamen jedoch Länder hinzu (inkl. Osten Deutschlands), in denen es radikale Linksparteien gab, die den Zusammenbruch der Sowjetunion besser verkraftet hatten und durchschnittlich viel stärker waren als ihre Pendants in anderen Ländern. Die Wahlergebnisse dieser zweiten Gruppe von Parteien wurden zwischen 1999 (12,29%) und 2009 (10,33%) schwächer, stiegen jedoch 2014 wieder an (19,30%). Obwohl die Länder dieser Gruppe nur über ein Drittel der Bevölkerung der ersten Gruppe verfügten, steuerten sie mehr als die Hälfte aller Stimmen zur radikalen Linken bei.
Die Beitrittswelle zwischen 2004-2013 war hingegen von Parteien charakterisiert, in denen es nur sehr schwache radikale Linksparteien gab; 2014 konnten sie gemeinsam nur 1,52% der gültigen Stimmen auf sich vereinigen. Innerhalb des ehemaligen Ostblocks blieben nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus viele ehemalige kommunistische Parteien bestehen, die sich erfolgreich auf den Sozialliberalismus besannen, jedoch – mit Ausnahme der neo-kommunistischen tschechischen KSČM – keine funktionsfähige Alternative darstellten. Einzig die kommunistische AKEL in Zypern schaffte es, ihr politisches Gewicht zu halten und sogar auszubauen.
TABELLE 4. DIE AUSWIRKUNGEN DER DREI BEITRITTSWELLEN
|
1979 |
1999 |
2014 |
EU-Mitgliedsstaaten 1979 (Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Westdeutschland, Dänemark, Irland, Großbritannien) |
|||
Wahlberechtigte (Anz.) |
184,474,494 |
207,497,569 |
222,958,570 |
Gültige Stimmen (%) |
60.15% |
45.07% |
45.64% |
Stimmen für die radikale Linke (Anz.) |
16,425,278 |
5,052,995 |
5,233,556 |
Stimmen für die radikale Linke (%) |
14.80% |
5.40% |
5.14% |
1981-1995 Erweiterungen (Griechenland, Portugal, Spanien, DDR & Berlin, Österreich, Finnland, Schweden) |
|||
Wahlberechtigte (Anz.) |
|
82,168,563 |
85,609,547 |
Gültige Stimmen (%) |
|
52.83% |
44.78% |
Stimmen für die radikale Linke (Anz.) |
|
5,333,517 |
7,398,221 |
Stimmen für die radikale Linke (%) |
|
12.29% |
19.30% |
2004-2013 Erweiterungen (Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Kroatien) |
|||
Wahlberechtigte (Anz.) |
|
|
87,605,149 |
Gültige Stimmen (%) |
|
|
26.28% |
Stimmen für die radikale Linke (Anz.) |
|
|
349,601 |
Stimmen für die radikale Linke (%) |
|
|
1.52% |
Die Europawahl von 2014 ermöglicht eine klare Einteilung der aktuellen europäischen radikalen Linken in drei relativ homogene geopolitische Makrogebiete.
In den meisten westeuropäischen Staaten stellt die radikale Linke eine mittelgroße Parteifamilie mit einer gewissen parlamentarischen Vertretung dar, die sich in ihrem Wahlergebnis zwischen 4 und 10% bewegt. Negative Ausnahmen stellen die extrem schwachen radikalen Linksparteien in Großbritannien und Österreich dar;[11] auch Belgien liegt etwas unter dem Durchschnitt, gewinnt jedoch rasant dazu. Eine positive Ausnahme stellt hingegen Dänemark dar.[12]
Der Peripherie am Mittelmeer und Atlantik hingegen kommt nun eine Vorreiterrolle innerhalb der radikalen Linken zu – auch Zukunftsperspektiven der radikalen Linken werden von diesen Staaten gestaltet. Das Zusammenspiel der schweren sozioökonomischen Krise, großer Anti-Austeritäts-Mobilisierungen und gut verwurzelter politischer Organisationen unterschiedlicher Art – von orthodoxen Kommunist_innen über linke Reformist_innen und linke Nationalist_innen – ließ die Wahlergebnisse mancherorts auf über 20% der Stimmen ansteigen: In Zypern war dies von Anfang an der Fall, in Portugal seit 2009, in Griechenland, Spanien und Irland seit 2014.
Die osteuropäischen Regionen ähneln hingegen einer Inselgruppe aus einigen wenigen lokalen Hochburgen – Ostdeutschland (19,74%) und Tschechien (11,55%), sowie seit Kurzem Slowenien (7, 14%) – , umgeben von einem Meer der kompletten Abwesenheit einer radikalen Linken.
4. Ausblick
Die Zukunft birgt sowohl Möglichkeiten als auch Risiken.
Auf Ebene der formellen Dynamik in den EU-Institutionen scheint es unwahrscheinlich, dass die radikale Linke der künftigen EU-Politik ihren Stempel aufdrücken wird. Innerhalb des Europaparlaments genießt die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten & Demokraten (S&D) trotz ihrer Verluste eine bequeme Mehrheit (413 Mandate von 751); daher würde eine (unwahrscheinliche) Mitte-Links-Koalition aus S&D, Grünen und GUE/NGL (294 Mandate) die Mehrheit bei weitem verfehlen. Innerhalb des Rates wird sich der Einfluss der radikalen Linken wahrscheinlich ebenso in Grenzen halten: Die Tatsache, dass sie einmal eine europäischen Regierung stellte (Zypern, 2007-2013) und Regierungspartei in anderen Kabinetten war, hat kaum Spuren hinterlassen. Sogar ein zukünftiger Wahlsieg in Griechenland wird wahrscheinlich durch die im Vertrag von Lissabon vorgesehene Ausweitung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit nur wenig bewirken, außerdem handelt es sich bei Griechenland um ein kleines Land.
Die Situation ist jedoch eine andere, wenn wir an mögliche Veränderungen der nationalen politischen Lagen denken.
In einigen Staaten der südlichen und keltischen Peripherie überwindet die radikale Linke ihren Status als Randerscheinung und hat jetzt die historische Chance, sich als größte Parteifamilie zu etablieren und zur führenden Koalitionspartei zu werden. Ein Sieg der SYRIZA bei den nächsten griechischen Parlamentswahlen zeichnet sich bereits ab, und im Fall einer Fortführung der Austeritätspolitik bei fortdauernder Krise erscheint ein weiterer Zusammenbruch bestehender Regierungsparteien nicht mehr unvorstellbar, den die radikale Linke in Staaten wie Zypern, Irland, Spanien und Portugal für sich nutzen kann.
Momentan scheinen die radikalen Linksparteien auf einen solchen Fall nicht vorbereitet zu sein. Parteigräben verhindern die Einrichtung wirksamer, vereinigter Fronten sowohl im gegenwärtigen Widerstand als auch für eine zukünftige Regierungsmehrheit. Das heikle Problem der Beziehung zur sozialliberalen Linken scheint weiterhin zu entzweien und kann auch in Zukunft einen Wahlsieg verhindern, da somit die kompromisslosesten Kräfte ein isoliertes Dasein pflegen und den kompromissbereitesten eine untergeordnete Rolle innerhalb der Mitte-Links-Allianzen zugewiesen wird. Letztlich bleibt die Erarbeitung ernsthafte Notfallpläne für den möglichen Zerfall der Eurozone (und möglicherweise der EU) ein Fall für einige wenige Intellektuelle und Aktivist_innen.[13] Sollte dieses Szenario eintreten, riskiert die radikale Linke ihre Chance und muss das Feld möglicherweise den Neokonservativen oder Rechtsextremen überlassen.
In den anderen Staaten Westeuropas muss die radikale Linke an ihr Wachstum aus den Jahren vor 2009 anknüpfen und es in jedem einzelnen politischen System schaffen, wirksamen Druck von links auszuüben. Die Parteien in den größten und einflussreichsten Staaten (Deutschland, Frankreich und Italien) tragen hier die Hauptverantwortung für die Resultate auf nationaler und europäischer Ebene. Ihre momentane Stagnation oder ihr Rückgang, die durch strukturelle Zwänge ausgelöst wurden, schließen jede Chance auf einen progressiven Wandel der EU-Politik aus.
In Osteuropa stellt die beinahe vollständige Absenz einer funktionsfähigen radikalen Linken eine große Herausforderung dar. Dieser Status Quo birgt die Gefahr, dass der radikalen Linken nunmehr eine permanente Randposition in der EU zugeschrieben wird, besonders wenn die Wahlbeteiligung weiterhin sinkt[14] oder südeuropäische Staaten die EU verlassen würden. Die jüngsten Entwicklungen in Slowenien sind vielversprechend, jedoch war es in den meisten anderen osteuropäischen Staaten bisher der Fall, dass sehr kleine, neue Initiativen eher rasch wieder verschwanden oder keine weitere Kandidatur mehr auf die Beine stellten. Die Entstehung nationaler radikaler linker Kräfte, die es schaffen, die tiefe Unzufriedenheit der Menschen mit den Regierungen der Post-Transitionsphase zu fassen, während sie das Scheitern des Realsozialismus kritisch analysieren, ist daher sehr wichtig. Die stärkeren Parteien der EU sollten diesen Prozess politisch und finanziell unterstützen und zu ihrer obersten internationalen Priorität machen.
Übersetzung aus dem Englischen: Veronika Peterseil
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[1] Alle Daten stammen aus relevanten, offiziellen nationalstaatlichen Quellen (üblicherweise aus den Innenministerien); die Ergebnisse einiger Staaten gelten nach wie vor als vorläufig.
[2] Die beiden Kategorien decken sich nicht vollständig. Einerseits entschieden sich einige rot-grüne (z.B. die dänische SF) oder regionale (z.B. in Spanien) radikale Linksparteien, sowie die meisten grünen Abgeordneten, die mit radikalen Linkskoalitionen gewählt wurden (z.B. die katalanische ICV) für einen Beitritt zur Grünen Fraktion. Andererseits schlossen sich wiederum andere Parteien aus technischen Gründen der GUE/NGL-Fraktion an (im Jahr 2014 die dänische Volksbewegung gegen die EU, die deutschen und niederländischen Tierschützer_innen und ein irischer Unabhängiger).
[3] Cunningham, K., Hix, S. (2014) “Socialist marginally ahead, radical left up to third”, 5 March 2014, http://www.electio2014.eu/it/pollsandscenarios/pollsblog
[4] Hierbei handelt es sich um die Gesamtanzahl der Stimmen für die radikale Linke dividiert durch die Gesamtanzahl der in den EU-Staaten abgegebenen gültigen Stimmen. Es erscheint sinnvoller, aggregierte (oder gewichtete) Zahlen zu verwenden anstatt der nicht gewichteten Mittelwerte der nationalen Ergebnisse, da letztere dazu tendieren, die Gesamtgröße der Parteifamilien zu verzerren.
[5] In Malta verzichtete die radikale Linke zweimal auf ihre Kandidatur; 2009 war Kroatien noch kein Mitgliedsstaat (die radikale Linke verlor jedoch stark gegenüber den EP-Wahlen 2012).
[6] Reif, K., Schmitt, H. (1980) “Nine second-order national elections – a conceptual framework of European election results”, European Journal of Political Research, 8(1), 3-44.
[7] Die Gesamtsumme der abgegebenen gültigen Stimmen ist, wenn auch nur geringfügig, von 41,42% auf 41,17% weiter zurückgegangen. Noch besorgniserregender ist es, dass die Wahlbeteiligung in den meisten osteuropäischen Staaten (Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Lettland, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien) und in manchen westeuropäischen Staaten (Portugal, Großbritannien) bei unter 35% lag und somit eigentlich die demokratische Legitimation des Europaparlaments in Frage gestellt wird.
[8] Die Organisation VoteWatch Europe (http://www.votewatch.eu/) weist darauf hin, dass z.B. der Kohärenzgrad in der Abstimmungsrate der GUE/NGL in der vergangenen Legislaturperiode den niedrigsten unter allen Fraktionen abseits der EFD darstellte (79,37%). Es ist wahrscheinlich, dass dieser Anteil in der kommenden Legislaturperiode sinkt.
[9] Siehe Dunphy, R., March, L. (2013) “Seven year itch? The European Left Party: struggling to transform the EU”, Perspectives on European Politics and Society, 14:4, 520-534.
[10] Siehe Dunphy, R. (2004) Contesting capitalism? Left parties and European integration. Manchester: Manchester University Press, and Charalambous, G. (2011) “All the shades of red: examining the radical left’s Euroscepticism”, Contemporary Politics, 17(3), 299-320.
[11] Die radikale Linke in Luxemburg erreichte wegen der niedrigen Gesamtzahl an Mandaten des Landes (6 MdEPs) kein Mandat, konnte jedoch immerhin 7,25% der gültigen Stimmen für sich gewinnen.
[12] Das hier erwähnte Ergebnis ist jenes der SF (radikale Linkspartei, jedoch Teil der Grünen Fraktion), die 10,92% der gültigen Stimmen auf sich vereinigte; darüber hinaus erreichte die EU-skeptische Bewegung Folkeb. (parteiübergreifende Bewegung, die jedoch hauptsächlich von der radikalen Linken unterstützt wird und Teil der GUE/NGL ist) 8,07% der gültigen Stimmen.
[13] Siehe Lapavitsas, C. et al. (2012) Crisis in the Eurozone. London: Verso; Sapir, J. (2012) Faut-il sortir de l’euro? Paris: Seuil; Bagnai, A. (2012) Il tramonto dell’Euro. Reggio Emilia: Imprimatur; Mateo, J.P, Montero, A. (2012) Las finanzas y la crisis del euro: colapso de la Eurozona. Madrid: Editorial Popular; Ferreira do Amaral, J. (2013) Porque devemos sair do Euro. Alfragide: Lua de Papel; Durand, C., ed. (2013) En finir avec l’Europe. Paris: La Fabrique; Lordon, F. (2014) La malfaçon. Monnaie européenne et souveraineté démocratique. Paris: LLL.
[14] Der Anteil an gültigen Stimmen liegt in den osteuropäischen Staaten deutlich unter dem europäischen Durchschnitt (2014: 28.77% bzw. 41.17%).