Es geht um die Küche, nicht um den Kuchen

Die Linksfraktion im Europäischen Parlament traf sich Mitte Februar zu ihren traditionellen Studientagen in Marseille. Bei diesen Tagen ist es mal anders als sonst im Leben der Abgeordneten. Es geht nicht um Gesetzesvorschläge und -änderungen, sondern eher darum, gemeinsam, auch mit Gästen, zu diskutieren. Erstmals wurden auch Vertreter von transform! europe eingeladen daran teilzunehmen, weiterhin noch Vertreter*innen der slowenischen Levica-Partei, der polnischen Razem-Partei und auch der Vize-Chef der Linksfraktion Hişyar Özsoy (türkische HDP) in der parlamentarischen Versammlung des Europa Rates.Marseille bietet sich aus linker Sicht wahrlich für Reflexionen an. Marseille ist die ewige zweite Stadt in Frankreich. Gleich nach Paris ist es die zweitgrößte Stadt, und mit ihrem Hafen immer von strategischer Bedeutung für Frankreich gewesen. Vielleicht ist das aber auch der Grund warum die in Paris beheimateten Regierungen Marseille immer etwas stiefmütterlich behandeln. Die Armut liegt hier mit 26% um ganze 10% höher als im nationalen Durchschnitt.

2018 kam es in der Stadt zu einem großen Unglück als Wohnhäuser zusammenstürzten, obwohl jahrelang Bürger*innen und Expert*innen die Stadtverwaltung gewarnt hatten. Acht Menschen verloren ihr Leben und in den nächsten Tagen und Monaten wurden 6.000 Menschen aus 900 Wohnungen, oftmals mit sofortiger Wirkung und ohne Vorwarnung evakuiert. Kévin Vacher vom „Collective 5 Novembre“ war deswegen eingeladen worden, um am zweiten Tag über das „Recht auf Wohnen“ (Right to Housing) zu berichten. Kèvin Vacher unterstrich den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Armut, da die immer häufigeren, sturzbachähnlichen Regenschauer in Marseille neu seien und mit zum Unglück beigetragen hätten.

Aber die lokalen sozialen Kämpfe waren sicherlich nicht der einzige Grund für die Linke nach Marseille zu kommen. Drei andere machten Marseille so wichtig: Erstens hat Frankreich gerade die Präsidentschaft der wichtigsten EU-Institution inne, die des Rates, bei dem Regierungschefs die großen Linien der EU-Politik entscheiden. Damit verbunden ist die kommende Wahl des französischen Präsidenten im April dieses Jahres. Und Macron wäre nicht Macron würde er die Ratspräsidentschaft der EU nicht nutzen, um für sich Wählerstimmen zu holen. Macron versucht sich, wie die Co-Präsidentin der Linksfraktion Manon Aubry (von La France Insoumise (LFI)) es nannte, im „Post-Merkel-Kontext“ der EU als neue Führungsfigur zu positionieren.

„Guter Typ, ein guter Typ!“

So reagierte ein junger Ober in einem Touri-Restaurant am Alten Hafen, als er bei mir auf dem Tisch das neue Wahlprogramm von LFI („L’avenir en Commun“, Nov 2021, 3 Euro in den Buchläden, dt.: „Die gemeinsame Zukunft“), mit einem Foto von Mélenchon sah. Und das war sicherlich der beste Grund, um nach Marseille zu kommen: Marseille ist die Heimatstadt von Mélenchon, dem Chef von LFI. Mélenchon ist bei weitem der aussichtsreichste Politiker im zersplitterten Feld linker Bewerber*innen für die Präsidentschaft.

In Bezug auf das Europaprogramm von LFI war es spannend zu hören, dass es gegenüber der letzten Wahl 2017 eine Änderung gibt. Damals sei man, wie es ausgedrückt wurde „statischer“ gegen den Lissabon-Vertrag gewesen. Diesmal würde man Punkt für Punkt „pragmatisch“ durchgehen, wo man innerhalb der Verträge Dinge zum Bessern ändern kann und wo Vertragsänderungen nötig sind.

Ein weiterer spannender Einblick in die Diskussion von LFI und in Frankreich war zu erfahren, dass Mélenchon aktiv in den Medien, zum Entsetzen der Rechten, den Begriff der „Kreolisierung“ Frankreichs benutzt. Dieser Begriff ist vom Dichter Édouard Glissant (1928-2011) übernommen worden, der den Zusammenfluss vieler, dann gleichberechtigter Kulturen zu einer neuen stärkeren und größeren Kultur beschreibt. Manuel Bompard (LFI) folgend, stellt sich seine Partei damit aktiv dem rechten identitären Denken entgegen. Dies geschieht aber nicht, indem etwa Identitäten – und ihre Bedeutung für die Menschen – negiert würden, sondern indem eine größere gemeinsame Identität für alle Menschen in Frankreich angeboten wird.

Drei Punkte stehen im Zentrum des Wahlkampfes von LFI: 1. Das Soziale. Hier geht es auch um „Schockmomente“, wie es klar gesagt wurde. Die Medien sollen so gezwungen werden, den Raum der Diskussion zu vergrößern. So fordert LFI z. B. Preisstopps für lebenswichtige Waren wie Nudeln, Reis aber auch Benzin. Ökologie als zweites und dann Demokratie mit der Forderungen nach eine „6. Republik“ mit wesentlich mehr direkter Demokratie als letztes Element.

Wichtig für LFI ist es, die Wähler zu mobilisieren, gerade auch die jungen. Hierbei hilft die neue „Volksunion“ („L´Union Populaire“) mit 180.000 Mitgliedern, wo gemeinsam beraten und diskutiert wird. Hier muss man nicht LFI-Mitglied sein, um mitmachen zu können. Gekrönt wird diese Union durch ein „Parlament der Volksunion“ mit 240 Mitgliedern, die hälftig von LFI-Mitgliedern und der weiteren progressiven Zivilgesellschaft (genannt wurden Gewerkschaften) besetzt werden. Alle 14 Tage trifft man sich online, um den Wahlkampf zu analysieren und zu sehen, wo es besser gehen könnte.

Die Vertreterin der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), Audrey Cermonlacce, legte ihren Fokus auf die lokale Politik. Sie beschrieb wie anstrengend lokale Politik ist, weil die Stadt Marseille gegenüber der größeren Metropolregion dieser Gegend kaum Handlungsspielraum hat. So musste die Stadtverwaltung das Gesetz zumindest eher frei auslegen, um eine Müllkrise in die eigene Hand zu nehmen und zu lösen. Stolz konnte sie hingegen auf echte Erfolge bei der Einrichtung teilweise kostenlosen Nahverkehrs verweisen.

Inhaltlich gab es bei den Studientagen zwei größere Panel-Diskussionen, auf denen zum einen die neue Welt der Plattform-Arbeit diskutiert wurde. Zum anderen wurde, den Gelb-Westen folgend, unter dem Slogan „Ende der Welt, Ende des Monats – der gleiche Kampf“ diskutiert, wie das Soziale ins Zentrum einer gerechten Politik der „planetarischen Grenzen“ gestellt werden könnte.

Marseiller Arbeiter*innenkämpfe – es geht um die Küche, nicht um den Kuchen

Was unsere Diskussionen sehr anregte waren zwei Besuche vor Ort in Marseille, bei denen sich Arbeiter*innen in den letzten Jahren ihre Betriebe aneigneten. In einem Industriegebiet gibt es das mittlerweile auch in Deutschland recht bekannte Unternehmen „Scop TI“ (oder einfach „1336“), das Tee herstellt (ZA De la Plaine de Jouques, 500 Av. Du Pic de Bertagne, 13420 Gémenos). Vor ca. fünf Jahren besetzten mehr als hundert Arbeiter*innen das Unternehmen eben 1.336 Tage lang, um am Ende einen großen Sieg gegen das multinationale Unternehmen Unilever einzufahren. Eigentlich sollte alles dicht gemacht und die Produktion in das viel billigere Polen verfrachtet werden. Die Arbeiter*innen sicherten sich Maschinen und sind nun ihre eigenen Meister und Mitglieder ihrer Kooperative.

Letztes Jahr kam es zu einem ähnlichen Kampf in einem McDonalds im Norden Marseilles. Dort gelang es Arbeiter*innen die Schließung des Standortes zu verhindern. Nun sind sie dabei, das Fast-food-Restaurant langsam in ein Sozial-Restaurant mit ermäßigten Preisen zu verwandeln. In der gegenwärtigen Covid-Krise versorgt das Resto über 700 lokale Familien mit Lebensmittelspenden (montagmorgens), und kocht über 800 warme Speisen (donnerstags). Es trägt nun den schönen Namen „Nach-M“ (französisch: „L’Après M“, 214 Chemin de la Sainte Marthe, 13014 Marseille). Was vor Ort klar gesagt wurde: Das gelang und gelingt nur durch die tiefe Verwurzelung in der Nachbarschaft, die auch immer wieder gegen Räumungsversuche zu Hilfe kam.

Jetzt gilt es der Linke in Frankreich für die kommenden Wahlen die Daumen zu drücken, sowohl für die kommenden Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen. Und schon mittelfristig, in zwei Jahren, wird das EP wieder gewählt. Die radikale Linke gerade auch in Mittelost-Europa zu stärken, war Hintergrund der Einladung an Levica und Razem.

Ursprünglich veröffentlicht auf der Webseite von DIE LINKE im Europaparlament.

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