Gabi Zimmer im Interview

Die kürzlich wiedergewählte Vorsitzende der GUE/NGL-Fraktion Gabi Zimmer (Die LINKE) erläutert die neue Struktur der GUE/NGL. Die Fraktion kann deutliche Zuwächse verzeichnen und setzt sich in der neuen Legislaturperiode aus nunmehr 52 Abgeordneten zusammen.

Am 24. Juni gab Gabi Zimmer transform! europe und Regards.fr ein Interview. Nach einer allgemeinen Analyse der EU-Wahlergebnisse mit besonderem Hinblick auf die Resultate der nationalistischen und rechtsextremen Parteien gewährt sie Einblicke in die neue Struktur der GUE/NGL. Die Fraktion kann sich über deutliche Zuwächse freuen und setzt sich in der neuen Legislaturperiode anstatt aus 35 nunmehr aus 52 Abgeordneten zusammen. Die Mitgliedschaft neuer Parteien mit anderen politischen Kulturen wird begrüßt. Die Arbeitsweise der Fraktion sowie ihre politischen Prioritäten werden diese sicherlich beeinflussen.


Wie schätzen Sie die Ergebnisse für die politischen Kräfte ein, die seit den Anfängen der europäischen Integration in den europäischen Institutionen an der Macht sind, also Konservative, Sozialdemokrat_innen und Liberale?
Gabi Zimmer: Die Ergebnisse der Europawahl sind zwiespältig ausgefallen. Einerseits müssen wir es hinnehmen, dass es eine – wenn auch schwache – Mehrheit für die Konservativen gibt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei eine große Koalition mit den Sozialdemokrat_innen und Liberalen eingehen werden. Andererseits entspricht das nicht dem Wunsch der Wähler_innen nach einer anderen Politik. Die Ergebnisse zeigen, dass sie eine andere EU wollen, dass sie sich einen Richtungswechsel in der Politik wünschen. Außerdem ist es kaum möglich über die EU-Wahlergebisse zu sprechen, ohne auf die Resultate der extremen Rechten und der nationalistischen Kräfte einzugehen. Die sogenannte „Große Koalition“ zwischen den drei Parteien ist kein geeigneter Weg, um sich dieser Herausforderung zu stellen und klarzustellen, dass wir ein anderes Europa brauchen. Wir brauchen eine EU, die anders als jene ist, die wir heute vor uns haben und die nicht den Vorstellungen der rechtsextremen und nationalistischen Parteien entspricht. Wir brauchen Alternativen, die auf Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenarbeit beruhen. Wir müssen der Austeritätspolitik und den Verhandlungen der EU mit den USA zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) ein sofortiges Ende setzen.  Ich glaube jedoch kaum, dass die drei größeren Parteien das umsetzen werden, sondern gehe davon aus, dass sie ihren bekannten Kurs beibehalten werden.


Wie interpretieren Sie die positiven Ergebnisse der rechtsextremen, rechtsnationalistischen und rechtspopulistischen Parteien? Welche Auswirkungen werden diese Ergebnisse auf die Politik der EU und auf das Europäische Parlament haben?
Sie sind das Ergebnis des aktuellen Krisenmanagements und der allgemein vorherrschenden Atmosphäre in der EU. Viele Menschen haben ihre Achtung für die EU und ihr Vertrauen in die Institutionen nun vollständig verloren. Eine solidarische Handlungsweise ist der EU nun nicht mehr zuzutrauen. Die Rechtsextremen arbeiten nachdrücklich an ihrem Status als die einzige Alternative. Sie geben vor, dass die Rückkehr zu einem Europa der Nationalstaaten die Voraussetzung für einen Wandel darstellt und haben kein Interesse an einem sozialeren Europa, das allen nutzen würde. Sie stellen jeweils ihre eigene Bevölkerung und den Nationalstaat an erste Stelle, was dem Wohl der europäischen Gesellschaft schadet. Ihre Politik soll die Mitglieder der Gesellschaft, die ohnehin bereits an den Rand gedrängt sind, noch weiter ausschließen: Migrant_innen, ethnische Minderheiten, Menschen mit Behinderung und Arbeitslose. In den letzten Jahren griffen sie die Demokratie immer öfter an, und der Mangel an Vertrauen in die Institutionen gab den Rechten verstärkt Rückhalt. Wir als Linke haben zu wenig vermittelt, dass es sich bei der Krise um eine Krise von europäischer Dimension handelt und dass wir eine solche europäische Krise nicht auf nationalstaatlicher Ebene lösen können. Natürlich haben und hatten Griechenland, Portugal und Spanien mit Problemen in ihren Volkswirtschaften zu kämpfen. Diese Probleme sind jedoch nicht an der Krise schuld. Die EU trägt dafür die Verantwortung, genau wie das Finanzkapital, das auf europäischer und globaler Ebene organisiert ist. Den Ausweg aus der Krise können wir nur auf europäischer Ebene finden, und es gibt ihn. Es ist die Aufgabe der Linken, eine europäische Antwort auf die Krise zu geben; das haben wir nicht klar genug kommuniziert. Wir hatten zu viele Zweifel, ob wir tatsächlich die beste Lösung bieten können, um die EU aus der Krise zu führen, und agierten zu zögerlich. Ich bin davon überzeugt, dass wir ein solidarisches Europa brauchen, die Austeritätspolitik beenden und investieren müssen, sodass die Mitgliedsstaaten eine nachhaltige, soziale und ökologische wirtschaftliche Entwicklung durchmachen können. Dies stellt die beste Antwort dar.
Wir brauchen gemeinsame Regeln, um das Finanzkapital auf europäischer Ebene kontrollieren zu können und dürfen uns nicht auf die einzelnen Vorteile konzentrieren, die manchen Mitgliedsstaaten möglicherweise entstehen. In dieser Hinsicht haben wir zu wenig gemacht, aber ich hoffe, wir können etwas daraus lernen. Ich bin der Meinung, dass die Linke nicht versuchen sollte, mit den Antworten der rechten Nationalist_innen gleichzuziehen. Die Alternativen für einen Ausweg aus der europäischen Krise können nicht auf nationalstaatlicher Ebene gefunden werden, und das ist ein Problem. Die Syriza in Griechenland sagte schon immer, dass eine europäische Antwort nötig sei. Sie ging nie davon aus, dass das Ausscheiden aus der Eurozone eine tatsächliche Alternative darstelle. Eine Rückkehr zu den nationalstaatlichen Grenzen kann keine Lösung darstellen, die von der Linken unterstützt wird. Denn dann besteht das Risiko, dass die Menschen beschließen, lieber das „Original“ zu wählen – nämlich diejenigen, die diese Option als erste vorgeschlagen haben: die extreme Rechte. Die Stärke der Linken liegt in ihrer Fähigkeit, auf transnationaler Ebene als europäische und globale Linke zusammenzuarbeiten. Sie funktioniert nicht einfach auf internationaler Ebene, sondern legt eine authentische, grenzübergreifende Arbeitsweise mit neuartigen Formen der Zusammenarbeit an den Tag. Diese Stärke wird uns schließlich dabei helfen, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Linke gute Antworten geben kann. Derzeit haben sie Angst, die Grundlage für ein gutes Leben und ihre Zukunft zu verlieren. Wir müssen uns auf diese Realität beziehen. Die Linke muss Möglichkeiten zur Herstellung neuer Beziehungen finden, um eine andere Politik umsetzen zu können. Rosa Luxemburg sagte einmal, dass die Linke die Menschen dann unterstützen soll, wenn diese Hilfe brauchen, und nicht darauf warten soll, bis sich die Lage soweit nachhaltig verschlechtert hat, dass es eine Revolution gibt. Denn wer weiß schon, ob es eine linke Revolution sein würde? Es könnte ebenso gut eine rechte Revolution sein!

Die Fraktion der GUE/NGL ist nun deutlich größer, jünger, weiblicher und in sich vielfältiger. Wie beschreiben Sie diese Veränderungen? Welche Auswirkungen wird dies auf die Arbeitsweise der GUE/NGL haben?

Die GUE/NGL erlebt durch die Mitgliedschaft neuer Parteien einen historischen Moment. Die Fraktion ist deutlich gewachsen und hat nun 52 Mitglieder. Nicht alle dieser Abgeordneten stammen aus Parteien, die bereits in der letzten Legislaturperiode in der GUE/NGL zusammengearbeitet haben. Diese neuen Mitglieder bringen ihre eigene politische Kultur in die Fraktion mit. Podemos ist eine solche neue Partei, die sich von den traditionellen Linksparteien unterscheidet. Sie versucht, die Menschen stärker in die Politikgestaltung einzubinden und eine breite Basis gegen neoliberale Politik aufzubauen. Dieser Zugang zur Politik ist ein grundlegend anderer und könnte sich sehr positiv auf uns auswirken. Natürlich muss sich Podemos wiederum mit der Funktionsweise des Europaparlaments vertraut machen und die richtige Balance zwischen den hier geltenden Regeln und ihrem Wunsch nach einer Politikerneuerung finden. Die älteren Parteien müssen klarerweise von den neueren lernen, wie z.B. von Podemos oder der italienischen Tsipras-Liste. Sie sollten sich von der Beziehung, die die neueren Parteien zu den Bürger_innen haben, und der Art und Weise, wie sie Bürger_innen die Arbeit der EP-Abgeordneten erklären, inspirieren lassen. Wir müssen uns auf den individuellen Hintergrund aller unserer Mitglieder einstellen. Nach der Europawahl hatten wir tief greifende interne Diskussionen über die Arbeitsweise, die die Fraktion in den nächsten fünf Jahren annehmen soll. Solche Diskussionen sind sehr wichtig. Die GUE/NGL ist ein bedeutendes politisches Projekt für die europäische Linke. Ihre Mitglieder arbeiten eng zusammen. Eine unserer Stärken liegt in unserer gelebten Diversität. Wir müssen sicher gehen, dass wir sie nutzen, um noch positivere Ergebnisse für die Menschen herausholen zu können. Wir haben kürzlich beschlossen, dass eine einzelne Delegation kein Vetorecht haben soll und somit Lösungen, die für eine große Mehrheit von uns gut sind, von einer Minderheit nicht ausgehebelt werden können. Jedoch soll diese Minderheit nicht im Nachhinein zur Einhaltung von Regeln gezwungen werden, denen sie schon von Vornherein nicht zugestimmt hat. Wir haben uns auch auf ein Mindestmaß an Regeln geeinigt, um eine transparente und demokratische Arbeitsweise zu garantieren. Unsere Fraktion wird kollektiv geführt;  wir haben nun drei stellvertretende Vorsitzende mit konkreten Zuständigkeiten. In den vergangenen Legislaturperioden war es die Aufgabe der stellvertretenden Vorsitzenden, die oder den Präsidentin/en nur in deren oder dessen Abwesenheit zu vertreten. Diese internen Veränderungen werden uns dabei helfen, effizienter zu werden.

Sie haben den Wunsch nach erweiterten Kapazitäten der Fraktion und gesteigerter politischer Effizienz ausgedrückt. Sind Sie als wiedergewählte Präsidentin optimistisch, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen?

Die GUE/NGL ist nicht in der Lage, die gesamte EU vom Parlament aus zu verändern. Unsere Arbeit im Parlament ist jedoch Teil des strategischen Kampfes zur Veränderung der EU – obwohl wir uns dort nicht im Zentrum dieses Kampfes befinden. Zuallererst sollte unsere Fraktion denjenigen eine Stimme verleihen, die sonst nicht gehört werden, und Anliegen von Vertreter_innen der Zivilgesellschaft ins Europaparlament einbringen. Dies kann anhand von Diskussionsforen erzielt werden, an denen Menschen teilnehmen können, die nicht in den Institutionen tätig sind. Zweitens muss die GUE/NGL im Europaparlament zu einem Zufluchtsort für soziale Bewegungen, Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensbewegungen sowie für transnationale Bewegungen werden – also für all jene, die für den gesellschaftlichen Wandel Kooperationspartner_innen suchen. Unsere Rolle als parlamentarische Fraktion und als Abgeordnete darf nicht auf das Management von finanziellen Ressourcen reduziert oder als ein Weg verstanden werden, im Zuge dessen es politisches Prestige für eine anschließende nationale Karriere zu gewinnen gibt. Unsere Priorität muss die Änderung der Machtverhältnisse darstellen. Drittens müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns die Arbeit im Parlament gibt, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wenn sich die einmalige Gelegenheit zur Umsetzung von positiven und konkreten Änderungen ergibt, müssen wir sie nutzen. Aus diesem Grund müssen wir die Initiativen der parlamentarischen Ausschüsse genau beobachten, um mehr Initiativberichte einbringen zu können, die Druck auf die Kommission ausüben, und so viel Präsenz wie möglich zeigen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In der letzten Legislaturperiode stellte der Start unserer parlamentarischen Initiative für das Recht aller Frauen und Männer in der EU auf ein Bankkonto einen Höhepunkt dar. Dies zeigte uns, wie wichtig kleine Schritte sein können und welche konkreten Maßnahmen auf europäischer Ebene umgesetzt werden können. Wir müssen all jene Initiativen unterstützen, die den Interessen der Menschen und der Mitgliedsstaaten nützen, indem wir in so vielen Ausschüssen wie möglich aktiv sind. Das soll den Zugang zu unserer Arbeit im Parlament charakterisieren – wie auch die Stärkung der progressiven Bewegungen. Wir haben noch viel zu tun.

Welche sind die größten Herausforderungen, denen sich die GUE/NGL stellen muss? Welche politischen Kämpfe stellen für die Fraktion eine Priorität dar?

Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um das sofortige Ende der Austeritätspolitik einzuleiten,  denn diese Sparmaßnahmen stellen keinen Ausweg aus der Krise dar. Wir müssen Alternativen ausarbeiten, um Lösungen für die Schuldenkrise finden zu können. Was können wir tun, um Mitgliedsstaaten wie Griechenland oder andere stark betroffene Länder bei der Krisenbewältigung zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern? Wir müssen Zukunftsperspektiven schaffen, die den Menschen soziale Sicherheit garantieren. Wir müssen auch Initiativen ausarbeiten, um Handelsabkommen zwischen der EU und den anderen Weltregionen zu unterbinden. TTIP kommt hier Priorität zu, jedoch ist dies nicht das einzige internationale Handelsabkommen, das aktuell zur Diskussion steht. Wir müssen die grundlegenden Prinzipien bekämpfen, auf denen solche Handelsabkommen basieren. Wir werden Initiativen unterstützen, die sich für Gleichstellung und Fairness in solchen Vereinbarungen einsetzen (mit hohen sozialen und ökologischen Standards), und gegen das Verfahren zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Investoren und dem Staat eintreten. Wir müssen auch den aktuellen Ereignissen in der Ukraine Beachtung schenken und verstärkt daran arbeiten, neue Brücken zwischen der EU und Russland aufzubauen. Unserer Ansicht nach sollte die EU ihre Beziehungen zu Russland nicht aussetzen. Es muss einen anderen Weg geben, unsere Unterschiede zu überbrücken und ein neues Gleichgewicht in Europa herzustellen. Russland ist Teil Europas und darf daher nicht ausgeschlossen werden. Das gilt auch für Weißrussland und Moldawien. Die Situation in Syrien und im Irak ist für uns ebenso besorgniserregend. Die GUE/NGL wird nicht-militärische Lösungen für diesen Konflikt befürworten. Es müssen politische Lösungen gefunden werden, damit eine nachhaltige Entwicklung in der Region sichergestellt werden kann.
Da die rechtsextremen politischen Kräfte im Europaparlament an Boden gewinnen und es einige von ihnen sogar geschafft haben, sich in zwei Fraktionen zu formieren, denke ich, wir sollten eine breitere Kooperation mit anderen Fraktionen zu konkreten Themen entwickeln, etwa um die Achtung der Menschenrechte zu garantieren, Diskiminierungen von ethnischen Minderheiten und Migrant_innen vorzubeugen oder einen Widerstand gegen TTIP aufzubauen.

Das Interview wurde am 24. Juni 2014 von Maxime Benatouil (transform!europe) gehalten.

Übersetzung aus dem Englischen: Veronika Peterseil

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