Zum 22. Juni 1941, an dem Hitlerdeutschland und seine Satelliten die Sowjetunion überfielen – Polen und eine Reihe anderer Staaten waren bereits besiegt worden –, hatten die Deutschen alles an Truppen zusammengezogen, was sie nicht für Besatzungszwecke in anderen Teilen Europas brauchten. Zum Überfall waren 5,5 Millionen Mann, über 47.000 Geschütze und Granatwerfer, 4.300 Panzer und Sturmgeschütze und etwa 5.000 Kampfflugzeuge bereitgestellt worden. 153 Divisionen des „Deutschen Reichs“ wurden von Verbänden Italiens, Rumäniens, Finnlands, Ungarns und der Slowakei unterstützt. Das war die größte Aggressionsarmee, die bis dahin in der Weltgeschichte aufgeboten wurde. Um die deutsche Bevölkerung anderweitig zu beschäftigen, wurde just am 22. Juni im Berliner Olympiastadion das Finale der deutschen Fußballmeisterschaft ausgetragen: Rapid Wien siegte gegen Schalke 04 mit 4:3.
Den Ersten Weltkrieg hatten die Deutschen verloren. In einem Ermattungskrieg, weil sie den raschen Bewegungskrieg, den sie geplant hatten, nicht führen konnten. Nach der Niederlage 1918 bereitete der Generalstab den Revanchekrieg militärisch vor, die „Dolchstoßlegende“ schob die Verantwortung für die Niederlage der ArbeiterInnenbewegung und den demokratischen Parteien zu, Rassismus und Antisemitismus ordneten die Niederlage in eine Weltverschwörung gegen Deutschland ein. Die NSDAP unter Hitlers Führung und der NS-Staat schufen die Bedingungen für den Krieg. Die Sowjetunion trug die Hauptlast des Sieges und hatte am Ende bis zu 27 Millionen Ermordete und gefallene Soldaten zu beklagen. Der Historiker John Lukács erinnerte an einen Ausspruch Bismarcks: „Russland ist nie so stark oder so schwach, wie es scheint.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt am 8. Mai 2020 eine Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Von der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1985 wird heute noch gesprochen, als einem Meilenstein deutscher Geschichte. Besonders bemerkenswert – für einen BRD-Politiker – war, dass er diesen Tag als „Tag der Befreiung“ auch für das deutsche Volk bezeichnete und insbesondere die Rolle der Sowjetunion hervorhob. Er betonte: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen“, dem Tag der Machtübernahme Hitlers und der NSDAP. „Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme“ prägte die Nachkriegsentwicklung, doch von Weizsäcker unterstrich: „Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen“.
Steinmeier dagegen hielt 2020 eine geschäftsmäßige Rede zur aktuellen Politik. Den Hintergrund des „Tages der Befreiung“ hat er gegenüber von Weizsäcker uminterpretiert. Gewiss, er hat das Wort „Befreiung“ neunmal benutzt. Am Anfang steht: „Der 8. Mai war das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das Ende von Bombennächten und Todesmärschen, das Ende beispielloser deutscher Verbrechen und des Zivilisationsbruches der Schoah.“ Damit hatte er scheinbar alles aufgezählt, was zum derzeitigen Katechismus offizieller deutscher Geschichtsanrufung gehört. Aber er stellt die Naziherrschaft und ihre Ergebnisse gleichrangig nebeneinander. Zur Entstehung der Naziherrschaft sagt er nichts. Weizsäcker hatte ausdrücklich betont: „Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte“.
Bei Steinmeier wird nur von „nationalsozialistischer Gewaltherrschaft“ geredet, ohne sie als Ursache des Krieges klar zu benennen. Und dann steht sie auf einer Ebene mit den „Bombennächten“, unter denen die deutsche Zivilbevölkerung litt, und den „Todesmärschen“, zu denen die verbliebenen KZ-Häftlinge Ende 1944/1945 auf Befehl deutscher Militärs und Polizisten befohlen wurden. Ursachen und Folgen, Opfer und TäterInnen sind vermischt. Das verstärkt Steinmeier nochmals, wenn er den Deutschen ihre Opferrolle zuweist: „Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung“ – nun gänzlich losgelöst von den Ursachen und den oben genannten „beispiellosen deutschen Verbrechen“. Reduziert sich der Zivilisationsbruch auf die Schoah, oder gilt er ebenso für die Ermordung von Millionen Russen, Polen, Weißrussen und anderen? Was ist mit den 1,4 Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen, die die Deutschen bereits 1941/42 absichtsvoll verhungern ließen?
„Die Befreiung war 1945 von außen gekommen“, sagt Steinmeier. Dann vollzieht er eine Wende: von der Befreiung, die über uns kam, zur „inneren Befreiung“, zu der „Aufarbeitung und Aufklärung“ gehörten. Jetzt haben wir unsere Geschichte „aufgearbeitet“ und unsere „innere Befreiung“ vollbracht. So kam es „zu jenem glücklichsten Moment der Befreiung: der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung“. Damit war die deutsche Vereinigung 1990 die vollständige Befreiung, die 1945 nur ein Vorspiel.
Dass Steinmeier Russland am 8. Mai 2020 mit keinem Wort erwähnte, ist kein Zufall. Es ist Begleitmusik zur heutigen Neuordnung Europas. Dank an die Russen brauchen wir Deutsche nicht mehr, da wir doch uns selber für die „innere Befreiung“ danken. Dazu passt, dass die Mehrheit des Deutschen Bundestages sich weigert, am 22. Juni 2021 des Überfalls auf die Sowjetunion zu gedenken.
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– Die Vergangenheit Europas korrekt erinnern. Offener Brief, 9 Nov. 2019
– Luciana Castellina, EP: Mehrheit versucht Erinnerung auszulöschen, 26 Sept. 2019