Nina Léger, eine Aktivistin der Kommunistischen Partei Frankreichs, berichtet über die Bewegung #NuitDebout, die in Frankreich ihren Ausgang fand.
Während der Proteste gegen das El Khomri-Gesetz (das neue französische Arbeitsrecht) am 31. März verteilten Demonstrant_innen Flugblätter. Diese trugen den Titel Nuit Debout („die Nacht über wach sein“) und zitierten La Boéties Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft (1547): „Die Tyrannen sind nur groß, weil wir vor ihnen knien“. Interessierte wurden dazu eingeladen, sich am selben Abend am Place de la République einzufinden, wo François Ruffins Film Merci Patron! gezeigt und diskutiert werden würde. Das Motto des Abends lautete „Heute Nacht geht niemand nach Hause“. Während der gesamten Proteste regnete es stark und alle Teilnehmenden waren völlig durchnässt. Nichtsdestotrotz strömten einige tausend Menschen zum Place de la République und blieben auch.
Tausende Menschen entdecken ihr Bewusstsein als aktive Bürger_innen
Eine solche Veranstaltung, bei der die Teilnehmenden Redefreiheit in Aktion und die Dynamik einer großen Menschenmasse erleben, löst zuallererst Euphorie aus. Alle Aktivist_innen (im weitesten Sinne) empfinden dieses Hochgefühl, wenn sie zum ersten Mal das Gefühl haben, Teil einer großen Menge zu sein, die etwas bewirken kann. Es sind keine Kommiliton_innen oder Kolleg_innen, die sich hier zusammengetan haben, um aktiv zu werden, sondern Menschen, die einander nicht kennen und trotzdem zusammenkommen, Ideen austauschen, Entscheidungen treffen und gemeinsam handeln. Ein Internetnutzer schätzte die Anzahl der Menschen, die täglich zum Place de la République kamen, auf 10.000. Obwohl diese Schätzung mit Vorsicht zu genießen ist, besteht kein Zweifel, dass jeden Tag mehrere tausend Menschen bei der Nuit Debout ihr Bewusstsein als aktive Bürger_innen wiederentdecken.
Seit dieser ersten Nacht ist der Platz beinahe dauerhaft besetzt. Nach zahlreichen Demonstrationen wurde der Platz zu einem Ausgangspunkt für eine gänzlich neue und rasch wachsende Bewegung, innerhalb derer Parteiaktivist_innen, die einen Wandel herbeiführen möchten, auf frustrierte Bürger_innen, Nichtwähler_innen, Verfechter_innen der ungültigen Stimme u.v.m. treffen. Viele unter ihnen erleben erstmals die Vielfalt und die Reichhaltigkeit sowie auch das Chaos, das Basisbewegungen charakterisiert.
Hier ist alles anders
Für andere wiederum stellt dies einen Moment der Neuentdeckung dar. Viele bereits organisierte Aktivist_innen sind anwesend – unabhängige, solche der Front de Gauche oder der Neuen Antikapitalistische Partei (NPA), von den Gewerkschaften und anderen Organisationen. Die ersten ausgetauschten Blicke wirken distanziert und fast belustigt. Diese Aktivist_innen fühlen sich – manchmal zu Recht – erfahrener. Ihre Selbstwahrnehmung als politisch und organisationstechnisch reifere Personen lässt sie dieses Frühstadium der Versammlung komisch und naiv finden. Viele von denen, die sich zum Bleiben entscheiden, sich zu den anderen setzen und mitdiskutieren, verändern jedoch ihren Ton schnell. An diesem Punkt bemerken wir, dass uns unsere fortgeschrittenen organisatorischen Fähigkeiten zu einem gewissen Grad davon abhalten, die verschiedenen Formen zu diskutieren, die eine solche Organisation annehmen kann. Wir sind daran gewöhnt, bestimmten Diskussionsabläufen zu folgen, deren Regeln nicht geändert werden können und die daher selten hinterfragt werden. Hier aber ist alles anders. Jede_r spricht über alles und wiederholt bereits Gesagtes; viele Menschen trauen sich plötzlich und werden aktiv. Alle, die zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen haben, können aufstehen, den Namen eines Komitees auf ein Blatt Papier schreiben, sich auf den Platz setzen und dort das Thema mit anderen diskutieren – und schon ist ein neues Komitee geboren. Es gibt ein Poesie-Komitee, ein Manifest-Komitee, ein wirtschaftspolitisches Komitee u.v.m. Es entstehen ständig neue – unabhängig davon, ob sie von Dauer sind oder tatsächlich Ergebnisse hervorbringen. Und genau weil in diesem Stadium nichts von diesen Komitees erwartet wird, können sie so schnell entstehen und wachsen.
Wo sind die Grenzen dieser Bewegung?
Dies führt zu einer Frage, die mit Entwicklungen auf dem Platz zu tun hat: Was sind die Grenzen dieser Bewegung? Und ist die Tatsache, dass sie bislang weder eine Struktur noch ein definiertes Ziel hat, ein Hindernis, wie uns so oft weißgemacht wird? Der Unterschied zwischen einer Neugestaltung der Verfassung und Protesten gegen das Arbeitsrecht ist sehr groß, und in dieser Bewegung scheint nichts klar getrennt zu sein. Die Angst davor, an ein klassisches Parteien- oder Vereinssystem zu erinnern, wird von dem Wunsch ausbalanciert, sich mit anderen Aktivist_innen zusammenzuschließen. Die Menschen sind von der Politik frustriert. Diese Ablehnung ist allerdings keinesfalls allgegenwärtig und scheint oft schlicht das Ergebnis einer Form von Angst vor allem Politischen zu sein – wir wollen kein Teil von dem sein, von dem wir so oft ausgeschlossen werden. Alles, was gesagt oder getan wird, ist jedoch letztendlich politisch, angefangen beim Zurückerobern des öffentlichen Raums. Und trotzdem hören wir Menschen sagen, dass wir eine neue Verfassung schreiben müssen, ohne in die Politik abzudriften.
Der Wunsch nach Horizontalität
Auf dem Platz scheint das Bedürfnis nach Struktur manchmal zu einem Selbstzweck zu werden, dessen Stellenwert noch über der Definition des Ziels der Bewegung zu stehen scheint. Tatsächlich können es viele derer, die seit den Anfängen Teil der Bewegung sind, nicht mehr ertragen, täglich die ewig gleichen Dinge von immer wieder anderen Personen zu hören. Dadurch, dass die Diskussionen dennoch um die Strukturfrage kreisen, werden die Debatten manchmal angespannt und laufen auf den uralten Zwist zwischen den Befürworter_innen völliger Horizontalität und den Anhänger_innen organisierter Strukturen hinaus. Obwohl dieser Streit teilweise ergebnislos ist (wenn beispielsweise eine Diskussion nicht geführt werden kann, weil keine Regeln definiert wurden), handelt es sich dabei dennoch um eine zentrale Frage, von der nicht nur die Zukunft der Bewegung abhängen wird, sondern auch die Entstehung einer neuen Form der Demokratie, die von tausenden Forscher_innen in diesem riesigen Labor neu erfunden wird.
Eine Organisationskultur, die mehr als ein Jahrhundert alt ist (was Parteien und Gewerkschaften, die aus der Arbeiter_innenbewegung hervorgingen, angeht), muss noch viel von einer zehn Tage alten Bewegung lernen, und umgekehrt. Die Demonstrant_innen der Nuit Debout sind sich dessen bewusst und verwenden gerade deshalb das Pronomen „wir“ und versuchen, gemeinsam voran zu kommen. Wer kennt schließlich die Stärken und Schwächen unserer Strukturen besser als organisierte Aktivist_innen? Alles, was wir bereits von unseren Organisationen kennen – Aspekte, die manchmal großen Aufwand bedeuten, die einschüchtern, die schwer anzugehen oder kompliziert sind, oder die es Aktivist_innen unmöglich machen, sich zur Gänze einzubringen –, all das muss durchdacht werden und im Lichte dessen hinterfragt werden, was gerade auf dem Place de la République geschieht. Wir müssen über diesen Wunsch nach Horizontalität nachdenken (auf dem Platz wahrscheinlich einer der meistgehörten Begriffe) und über die Möglichkeit, politische Redefreiheit zurückzuerobern, weil Menschen der Ansicht sind, dass ihnen dieses Recht hier zusteht. Erlauben es uns bestehende organisatorische Mechanismen, diese Hoffnungen zu befriedigen? Passen unsere Methoden zu der wachsenden Anzahl an Kommunikations- und Entscheidungsfindungsinstrumenten unserer Zeit?
Das gesamte System der politischen Repräsentation wird in Frage gestellt
Auf dem Platz sind viele Menschen begeistert davon, Themen zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. Das ist natürlich nichts Neues, jedoch wird hier deutlich, dass sich die Menschen tatsächlich engagieren möchten. Und ist dies wirklich eine Überraschung, wenn sich Bürger_innen im besten Fall von ihren Politiker_innen nicht vertreten und im schlimmsten Fall von ihnen verraten fühlen? Wie kann dies überraschend sein, wenn solche Gefühle auf Tatsachen beruhen, besonders auf jener, dass die Französ_innen vor vier Jahren ja eigentlich die Linke in die Regierung gewählt haben? Die Ungerechtigkeit eines Klassensystems, das es Menschen wie Patrick Balkany (ein französischer Politiker, dem Steuerhinterziehung und Geldwäsche angelastet werden) ermöglicht, dem Gefängnis zu entgehen, während es eine Mutter, die stiehlt, um ihre Kinder zu ernähren, hinter Gitter bringt, ist himmelschreiend. Dies gilt auch für die Straflosigkeit aller Wirtschaftskriminellen, Politiker_innen oder Banker_innen und die geheimen Absprachen zwischen letzteren, sowie die Tatsache, dass Politiker_innen stets aus demselben homogenen Gesellschaftssegment stammen. All das ist nicht das Werk einiger weniger. Das ist systemimmanent. Und dieses System marginalisiert eine schockierend hohe Anzahl von Menschen. Daher ist es nur logisch, dass das gesamte System der politischen Repräsentation (und nicht nur das Arbeitsrecht) in Frage gestellt wird. Der Wunsch nach größtmöglicher Horizontalität wird von der Mehrheit geteilt und dominiert die Debatten.
Es ist wichtig, zu unterstreichen, dass diese Angelegenheiten im Sinne der Durchführbarkeit noch nie einfach waren. Menschen mit entsprechendem Fachwissen versuchen nun digitale Hilfsmittel zu entwickeln, um die Debatten auch auf das Internet auszuweiten. Einige davon gingen bereits online, wie https://chat.nuitdebout.fr/home und https://wiki.nuitdebout.fr/wiki/Accueil. Auf dem Platz sprechen Menschen davon, diese Diskussionsräume zusammenzuführen.
Wie können wir einen demokratischen Raum schaffen, der so viele wie möglich einbezieht?
Auf diese Frage müssen wir eine Antwort finden. Das Unvermögen, strukturelle Fragen zu lösen, kann zugegebenermaßen als Hindernis erscheinen. Abseits der Tatsache, dass diese Frage für eine gerade einmal zwei Wochen dauernde Mobilisierung nicht ungewöhnlich ist, kann sie eigentlich vorbereitend für all jene sein, die noch folgen: Der Diskussionsinhalt wird von der Wichtigkeit abhängen, die man jeder_m einzelnen von uns zumisst. Das Schaffen eines gemeinsamen Rahmens stellt den einzigen Weg dar, die größtmögliche Einbindung vieler Menschen zu erreichen. Es lohnt sich, an den Versammlungen von tausenden Menschen teilzunehmen, gemeinsam nachzudenken, auf diese neue, horizontale Weise zu diskutieren, Aktionen durchzuführen und daraus zu lernen. Warum? Weil dies der Ort ist, wo wir hingehören; weil diese Ziele unsere Gründe dafür darstellen, politisch aktiv zu werden und weil wir ja gerade darum kämpfen, den Menschen ihre Stimme und ihre Macht zurückzugeben – nicht zu vergessen, dass wir auch selbst unter diesen Menschen sind. Darum sagen wir „wir“, wenn wir von den Menschen auf dem Platz sprechen. Und ohne dieses „wir“, das eine große Anzahl von unterschiedlichen und kreativen Einzelpersonen umfasst, werden wir die Welt nicht neu erfinden können.