Am 1. Mai habt ihr 2017 die Sósíalistaflokkur Íslands, die Sozialistische Partei Islands, gegründet. Die Stadtratswahlen in Reykjavik waren die ersten Wahlen, an denen ihr euch beteiligt habt. Auf Anhieb habt ihr über sechs Prozent und damit ein Mandat erreicht. Kannst du mir über eure bisherigen Erfahrungen berichten?
Unser Wahlkampf basierte darauf, dass wir die Erfahrungen derjenigen erzählt haben, die in unserer Gesellschaft am schlimmsten dran sind. Unsere Liste bestand aus Leuten, die selbst Armut erfahren haben, aus Working Poor, Migrant_innen, Menschen mit Behinderungen, Pensionist_innen und Mieter_innen. Meine bisherige Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen zu inkludieren, die die Auswirkungen dessen, was auf der politischen Ebene beschlossen wird, auch tatsächlich erfahren.
Kannst du das an einem konkreten Beispiel erklären?
Im Stadtparlament treffen wir zum Beispiel Entscheidungen über den städtischen Wohnbau. Es reicht nicht, dass Menschen, die selbst die Erfahrung der Obdachlosigkeit gemacht haben, oder jene, die auf dem Markt nur schwer eine Wohnung finden können, in kleinem Rahmen ein bisschen mitreden dürfen. Nein, sie sollten diejenigen sein, die von Anfang an diese Politik bestimmen.
Wie hat dich deine eigene Lebenserfahrung geprägt?
Ich wurde von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, die sowohl einen Ganztags-, als auch einen Halbtagsjob hatte – einer davon war eine schlechtbezahlte Stelle in einem städtischen Kindergarten in Reykjavik. Manchmal denke ich, ich bin immer noch das kleine Mädchen, das mit seiner Mutter Münzen sucht, damit wir etwas Geld haben, um uns Essen zu kaufen. Vor ungefähr vier Jahren habe ich erstmals öffentlich über meine Erfahrung des Aufwachsens in Armut und die bis heute anhaltenden Auswirkungen davon gesprochen, und von da an traf ich immer mehr Leute, die an einer Veränderung der Gesellschaft arbeiten.
Als ich 2019 das letzte Mal Reykjavik besuchte, bemerkte ich sehr viele Baustellen. In Wien haben wir das Problem, dass ein großer Teil der Bautätigkeit von Investoren und deren Interessen geprägt wird. Leistbares und lebenswertes Wohnen für die breiten Massen hat keine Priorität. Habt ihr eine ähnliche Situation?
Ja, wir kennen dieses Problem hier auch. Die Prioritätensetzung zugunsten der Elite hat dazu geführt, dass wir jede Menge Wohnungseigentum haben, das sich niemand leisten kann. Wir haben Gebäude mit Luxuswohnungen, die nun schon lange Zeit leer stehen. Gleichzeitig haben wir eine Menge Leute auf Wartelisten für leistbaren Wohnraum. Wofür ich mich einsetze ist, dass niemand lange auf Wartelisten steht – aktuell beträgt die Wartezeit für eine Sozialwohnung in Reykjavik drei Jahre.
Die Stadtregierung in Reykjavík besteht aus Sozialdemokrat_innen, der Grün-Linken Partei, den Pirat_innen und den Liberalen. Für österreichische Verhältnisse wirkt das bereits wie eine ziemlich linke Stadtregierung. Ist links davon überhaupt noch Platz?
Schaut man sich aber die politische Entwicklung in Island näher an, erkennt man, dass die Vertreter_innen dieser Parteien sich leider immer weiter von ihren Wurzeln entfernt haben. Die politischen Parteien vertreten nicht mehr diejenigen, die sie zu vertreten hätten. Im nationalen Parlament regiert die Links-Grüne Partei gemeinsam mit der Unabhängigkeitspartei, und viele Menschen waren sehr enttäuscht, dass eine sogenannte linke Partei mit einer dem rechten Flügel zuzuordnenden Partei zusammenarbeiten kann.
Das finde ich interessant: Auch in Österreich haben wir eine Regierung, in der die Grünen als Koalitionspartner für eine konservative, rechte Partei herhalten. Wie äußert sich dieses Zusammenspiel dieser vermeintlich gegensätzlichen politischen Pole?
Viele Menschen fühlen sich von der links-grünen Partei betrogen. Die konservative Unabhängigkeitspartei hat die sozialstaatlichen Errungenschaften immer bekämpft. Wir können momentan dabei zusehen, wie eine einstmals linke Partei aufgegeben hat, wofür sie einst stand. Wir sehen, dass diejenigen, die man wirtschaftlich und sozial im Stich gelassen hat, noch immer im Stich lässt. Ich setzte einmal große Hoffnungen darauf, dass eine linke Partei in der Regierung bedeuten würde, dass wir eine humanere Gesetzgebung gegenüber jenen haben würden, die Asyl und internationalen Schutz suchen. Stattdessen sind wir Zeug_innen geworden, wie Menschen mitten in der Nacht von der Polizei verschleppt und außer Landes gebracht wurden, darunter auch schwangere Frauen.
Anstatt die Bosse und Unternehmen anzugreifen, die die Arbeitenden ausbeuten, funktioniert die Regierung so, dass sie jene Menschen, die Hilfe suchen und wirklich schwierigen Situationen entflohen sind, ins Visier nehmen. Während der linke Part unserer amtierenden Regierung sich verbal gegen Rassismus und Xenophobie stark macht, unterstützt er gleichzeitig Maßnahmen, die ungerecht sind. Man kann sagen, dass bei ihnen Worte und Taten auseinanderklaffen.
Schon seit einigen Jahren führt Island Rankings wie den Weltfriedensindex oder den Global Gender Gap Report an. Lass mich eine provokante Frage stellen: Braucht es in Island noch eine sozialistische Partei?
Das ist eine interessante Frage, die ich gerne sehr persönlich beantworte. Ich wurde, wie bereits erwähnt, von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, die einen Vollzeitjob in einem Kindergarten hatte, außerdem hatte sie einen Teilzeitjob als Putzfrau. Obwohl wir das Geld, das sie verdiente, nur für unsere Grundbedürfnisse ausgaben, hatten wir nie genug für den ganzen Monat.
Island wird oft als eine Art Gleichberechtigungsparadies gesehen, in dem es Frauen besonders gut hätten. Aber das entspricht überhaupt nicht den Tatsachen. Wie ich es sehe, haben wir uns die ganze Zeit über auf den Mittelklassefeminismus konzentriert, das heißt darauf, dass wir mehr Frauen in gut bezahlte Spitzenpositionen bringen und dort ihre Sichtbarkeit erhöhen. Mit der Zeit bemerkte ich, dass der Mainstream-Feminismus in Island nicht die Befreiung aller Frauen und marginalisierten Menschen aus Unterdrückungsverhältnissen zum Ziel hat. Ich sah, dass er hauptsächlich die Bedürfnisse weißer Frauen der Mittelklasse, die in Island geboren und aufgewachsen waren, bediente. Also von Frauen, die einen ziemlich guten finanziellen Status genießen und die es nicht nötig haben, über Dinge nachzudenken, wie man die Kinder satt bekommt oder wie man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum zweiten Job kommt. Das sagt eine, deren Mutter heute nach einem Burn-out eine Berufsunfähigkeitspension bezieht.
Beschäftigt dich diese Ungleichheit auch bei deiner Tätigkeit als Stadträtin?
Ja, natürlich. Während wir in unserer Arbeit in der Stadtverwaltung mit anderen Stadträt_innen diskutierten, war ich sehr erstaunt darüber, dass diese nicht zu sehen scheinen, dass sie Frauen ein Gehalt zahlen, das nicht einmal zur Deckung der Grundbedürfnisse ausreicht. Jüngst konnten die Gewerkschafter_innen der Gruppe Efling einen Sieg erringen. Nach einem Streik wurden die niedrigsten Löhne in einigen Bereichen der Stadtverwaltung, etwa bei den Kindergärten, erhöht. Es zeigt uns die Bedeutung von Einheit und Solidarität.
Danke für das Gespräch und viel Erfolg für die Parlamentswahlen im nächsten Jahr.
Ursprünglich auf der Website Volksstimme veröffentlicht