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Mehr als 450 Präsentationen und an die 1000 Besucher. Mit diesen Zahlen ging am Sonntag die „Historical Materialism“-Konferenz zu Ende. Ursprünglich als Zeitschrift 1995 an der London School of Economics and Political Science gegründet, wurde 2004 der Schritt zur Tagung gewagt. Seitdem treffen sich jedes Jahr linke WissenschaftlerInnen und AktivistInnen aus der ganzen Welt, um ihre Forschung und ihren Aktivismus vorzustellen. Inzwischen ein Großunternehmen. In Athen: bis zu elf Panels und Plenary Sessions gleichzeitig. Von der „politischen Ökonomie der Kämpfe Lateinamerikas“ über „Frauen, Familie und Reproduktion im modernen Griechenland“ bis hin zu „Erfahrungen von Geflüchteten und ihrer politischen Kämpfe“. Das konnte schon fast überfordern. Was soll man sich anhören? Und wo bleibt die Zeit, Netzwerke mit anderen kritischen ForscherInnen aufzubauen? Vor diese Frage waren vermutlich viele gestellt, sodass manche Sitzungen trotz der hohen Gesamtteilnehmerzahl nur gering besucht waren. Oder lockte einfach die Akropolis zu sehr?
Dies betraf auch kommunikationswissenschaftlich ausgerichteten Panels, von denen nur eine Handvoll im Programm zu finden waren: fünf von 119 Veranstaltungen zu Journalismus und Medien. Ein kleines Schlaglicht auf den Stand kritischer Medienforschung.
Das Panel „Radikaler Journalismus und radikale Politik in dunklen Zeiten: Erforschung radikaler linker und faschistischer Medien“ beschäftigte sich unter anderem mit rechten Zeitungen im griechischen Mediensystem und ihrer angeblichen „Radikalität“. Ausgehend von einer Kritik an der Extremismus-Hufeisentheorie (vgl. Forum für kritische Rechtsextremismusforschung 2011), wiesen Eugenia Siapera und Lambrini Papadopoulou in einer Inhaltsanalyse nach, dass faschistische Zeitungen in Griechenland keinerlei eigene Berichterstattung betreiben, sondern nur Meldungen aus den großen Medien übernehmen und, ihrem eigenen Narrativ entsprechend, umschreiben. Diese könne man auch nicht als radikal, also das Übel an der Wurzel packend, bezeichnen, da diese Presse vor allem Minderheiten wie Geflüchtete und Juden oder die politische Linke ins Visier nehme. Machtstrukturen würden so nicht wirklich angegriffen werden. Im Gegenteil: Mit positiver Berichterstattung über Militär und Polizei werden diese sogar aufrechterhalten.
Yiannis Mylonas (2019) zeigte in einer kritischen Diskursanalyse griechischer, dänischer und deutscher Mainstreammedien auf, wie rassistische, neoliberale Stereotype die mediale Konstruktion der sogenannten Griechenland-Krise prägten. Stichwort: „Der faule Grieche“. Eine sensationalistische und entpolitisierte Form der Berichterstattung sollte von den eigentlichen Strukturen politischer und ökonomischer Macht hinter der Wirtschaftskrise Europas ablenken. In der Berichterstattung fanden sich vor allem Aussagen (von „Experten“), die die Sichtweise der Eliten wiedergaben und zum Beispiel historische Perspektiven vernachlässigten. Mylonas interpretierte die Ergebnisse so weit, dass er in der Berichterstattung über den „griechischen Schmarotzer“ eine Warnung an die arbeitenden Menschen in Deutschland und Dänemark sah, öffentliche Zustimmung für weitere neoliberale Reformen zu zeigen, da es ihnen ansonsten wie den Griechen ergehen könnte.
In vielen Beiträgen wurde deutlich, dass die Debatte um „Neutralität“ und „Parteilosigkeit“ in der Wissenschaft hier schon einen Schritt weiter gekommen ist. Nicht mehr „ob“, sondern das „wie“ stand im Raum. Viele der Vortragenden waren Teil der Bewegungen, über die sie sprachen. So zum Beispiel Olga Lafazani, die in der großen Plenary Session „Migration – Marxism – Movements“ am Samstagabend vor mehreren hundert ZuhörerInnen über das Geflüchtetenprojekt City Plaza sprach und zugleich eine der wichtigsten Koordinatorinnen ist. Zuvor hatte bereits Professor Sandro Mezzadra (Bologna) gesprochen, der unter anderem zu Flucht und Grenzregimen forscht. Letztes Jahr organisierte er mit einigen Bekannten (zum Beispiel Professor Michael Hardt) ein eigenes Schiff, die Mare Jonio, das Geflüchtete im Mittelmeer rettete. Im März war es von italienischen Behörden beschlagnahmt worden. Die Organisierung des Schiffes war für Mezzadra weniger humanitäre Hilfe, denn politischer Akt gegen die Kriminalisierung der Rettung von Menschen in Not. Mit Professor Ranabir Samaddar, der Teil der Calcutta Research Group in den Westbengalen (Indien) ist, und der marxistischen Feministin Shahrzad Mojab, die ursprünglich aus dem Iran stammt und nun an der University of Toronto lehrt, waren nur Personen auf der Bühne, die aus dem globalen Süden kommen. Eine positive Seltenheit auf Konferenzen dieser Größe.
Auch die Entwicklungen in der Türkei und Kurdistan spielten eine Rolle. In der Session „Das Neue aufbauen: Radikale Demokratie, Frauenbefreiung, Medien und Ökologie in Rojava und darüber hinaus“ wurde über die „Revolution in Rojava“ diskutiert. Die Politikwissenschaftlerin Rosa Burç stellte das Konzept des „Demokratischen Konföderalismus“ im Rahmen des Nahen und Mittleren Ostens vor und verdeutlichte das dialektische Verhältnis zwischen den Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung und Staatlichkeit. Hüseyin Rasit ging auf die autonomen Strukturen der kurdischen Frauenbewegung ein und stellte sie als Beispiel für das Konzept einer dezentralen Avantgarde-Bewegung vor, also dem komplexen Verhältnis von Rätedemokratie und Kader-AktivistInnen. Der Autor dieser Zeilen stellte erste Ergebnisse seiner Dissertationsforschung zum „staatenlosen“ kurdischen Mediensystem mit besonderem Fokus auf Nordsyrien vor. Das Selbstverständnis kurdischer Medienarbeiter ist dabei von einem aktivistischen Journalismus geprägt, der sich als Teil der gesellschaftlichen Umgestaltung versteht. Prägend ist dabei die Philosophie der „Freien Presse“, die vor allem in Medien der kurdischen Freiheitsbewegung vorherrschend ist und auf Bildung des Publikums setzt.
Auf der Konferenz waren mit Muzaffer Kaya, Latife Akyüz, Ümit Akcay, Gülay Kilicaslan und Deniz Yonucu zudem eine Reihe von AkademikerInnen anwesend, die im Januar 2016 einen Friedensappell an die türkische Regierung unterzeichnet hatten und daraufhin das Land verlassen mussten. Im Exil setzen sie nun ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Türkei fort. So sprach Kilicaslan über Zwangsmigration und Vertreibung in den 1990er Jahren von Nordkurdistan in den Westen der Türkei, Kaya über den Kampf gegen den Autoritarismus und Akcay über die wirtschaftliche Krise seines Heimatlandes.
Der Großteil der Vortragenden kam aus Griechenland selbst. Ihnen wurde so die Möglichkeit gegeben, über ihre eigene Forschung zu sprechen. Auf die Frage in einem Medien-Panel, ob die Ergebnisse auch auf der kommenden IAMCR-Tagung in Madrid vorgestellt werden, lautete die Antwort nur: „Zu teuer, das können wir uns nicht leisten“. Schon deshalb war die Entscheidung nach Athen, in den Süden Europas, zu gehen, richtig. Wem das trotzdem zu weit war, kann vom 7. bis zum 10. November 2019 auf die nächste „Historical Materialism“ kommen, diesmal wieder in der englischen Hauptstadt.
Literaturangaben
Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.): Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Heidelberg: Springer 2011.
Yiannis Mylonas: The „Greek Crisis” in Europe. Leiden: Brill 2019.