Der durchschnittliche Universitätsprofessor schreibt in seinem Leben wohl um die drei bis vier Bücher und dazu viele Aufsätze, weil er es muss. Der durchschnittliche Peer-reviewed-Aufsatz wird indes nach Schätzungen von weniger als zehn Personen gelesen. Von den jährlich 1,5 Millionen dieser Aufsätze werden 82 Prozent aller geistes- und 32 Prozent aller sozialwissenschaftlichen nicht ein einziges Mal irgendwo zitiert.
Ein durchschnittlicher Universitätsprofessor ist der heute vor 85 Jahren in Esslingen geborene (West-)Berliner Philosophieprofessor Wolfgang Fritz Haug nie gewesen. Von 1967 bis heute hat er rund 30 Bücher geschrieben. Seit 1959 gibt er Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften heraus. 335 Hefte sind bis heute erschienen, in den meisten von ihnen hat Haug selbst oft bahnbrechende Aufsätze geschrieben. Die gesammelten Werke des italienischen Marxisten Antonio Gramsci hat Haug editiert. Und seit 1994 gibt Haug das «Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus» (HKWM) heraus, ein gigantisches, beinahe megalomanisches Projekt, das, ohne große Ressourcen, dafür aber mit viel Idealismus und kollektiver Geistesmacht realisiert, weltweit seinesgleichen sucht, was auch der Grund ist, warum es in Gänze ins Chinesische übersetzt wird.
Haug ist von Haus aus Philosoph. Marx selbst vollzog den Schritt von der Philosophie zur politischen Ökonomie. Aber Haug ist auch Marxist. Wie geht das? Haug hat darüber ein Buch geschrieben – «Einführung in marxistisches Philosophieren» – und die Antwort auf die Frage «Ist es einfach, im Marxismus Philosoph zu sein?» selbst gegeben. Es geht. Mit der Erkenntnis, dass politökonomisches Denken philosophisch sein muss, dialektisch.
In grauer Vorzeit waren Theologie und Philosophie die Königswissenschaften. Irgendwann lösten sich hiervon die Sozial- und Geisteswissenschaften ab. Sie frönen seither disziplinärer Borniertheit: Der Soziologe kennt vielleicht die Gesellschaft, aber nicht Wirtschaft und Staat. Der Politikwissenschaftler den Staat, aber nicht Gesellschaft und Wirtschaft. Der Volkswirtschaftler kennt abstrakte Modelle, die so gut wie nichts mit der Wirklichkeit der Gesellschaft zu tun haben, und ignoriert dazu oft die konstitutive Rolle des Staates in der Wirtschaft. Haug dagegen betont im Argument noch die Einheit von Philosophie und Sozialwissenschaften. Auch in den eigenen Analysen vereint er holistisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wenn es heute noch Universalgelehrte geben kann, dann kommt Haug diesem Status wenigstens nahe. Er ist ein Typ Intellektueller, der eigentlich unmöglich ist und in jedem Fall ausstirbt. Ein letzter seiner Art war womöglich sein marxistischer Rivale Hans Heinz Holz.
Haugs Marxismus ist ein lebendiger, beweglicher. Er selbst nennt ihn «plural». Manchen, die sich nie festlegen wollen, eklektisch denken und erratisch handeln, mochte Haug als strikt erscheinen. Sie verwechselten strikt mit stringent. «SED-Haug» nennt Rudi Dutschke ihn in seinen Tagebüchern, bloß weil Haug kein politischer Heißsporn war. Andere wiederum witterten manchmal Verrat. Als im Argument die «Krise des Marxismus» diskutiert wurde, fragten sie: «Krise des Marxismus oder Krise des ‹Arguments›?» Haug ging unbeirrt seinen Weg. Manche, die seinen Marxismus von links kritisierten, zogen irgendwann rechts an ihm vorbei. Manche, die ihn von rechts kritisierten, waren oft intellektuell uninteressant. Er selbst balancierte im Argument zwischen Bewahrung und Weiterentwicklung des marxistischen Denk-Erbes. Neues nahm er auf, sah aber auch die Grenzen: etwa beim redaktionsinternen Streit um den Philosophen Jean-Luc Nancy. Auch hier lag er richtig.
Ein solches Werk hervorzubringen, braucht es freilich viele Mitstreiter. Manche, auch dies gehört zur Geschichte, schieden aus dem Argument-Kosmos im Streit über Mitbestimmungsrechte aus oder im Ärger, weil sie im nachhinein bedauerten, dass die ehrenamtliche Mitarbeit im Argument ihre Wissenschaftskarriere verzögert, vielleicht sogar verhindert habe. Zugleich dürften auch sie nicht abstreiten, wieviel sie durch die Mitarbeit an der Zeitschrift und am HKWM gelernt haben. Tatsache ist: Wenn es überhaupt eine sinnvolle Verwendung des Begriffspaars «fordern und fördern» gibt, dann in Bezug auf Wolfgang Fritz Haug und seine Frau, die Soziologin Frigga Haug. Generationen von sozialistischen Intellektuellen wurden durch sie geprägt. Ihr weltweites Netzwerk von marxistischen Hochschullehrern, die am HKWM mitarbeiten, umfasst auch Dutzende, die selbst durch die Argument-Schule gingen. Hinzu kommen Tausende, die über die Jahrzehnte hinweg Haugs «Kapital»-Schulungen teamten oder durchliefen, Tausende, die die «Volks-Unis» besuchten, die Haug ab 1980 organisierte, und eine sicherlich dreistellige Zahl an Menschen, die in «Argument» und HKWM marxistische Theorie und das Redaktionshandwerk lernte. Kein Wunder, dass es etwa im strategischen Apparat der Partei Die Linke und in der Rosa-Luxemburg-Stiftung heute viele gibt, die, wie Verfasser selbst, eine Argument-Vergangenheit haben – teilweise durchaus zu Haugs Leidwesen, weil ihm so, wie er sagt, immer wieder begabte und erfahrene Mitstreiter verlorengingen.
Haugs Intellektuellenbiographie ist geknüpft an die besondere Nachkriegsepisode, in der es möglich war, dass Marxisten, die den Kapitalismus analysieren, um ihn leichter praktisch überwinden zu können, an den Hochschulen des kapitalistischen Staates Professuren bekleideten. Das Verschwinden des Marxismus aus den deutschsprachigen Universitäten um die Mitte der 2000er Jahre – freilich und zum Glück niemals ganz und gar – hat bei manchen jüngeren Linken, die ihren Marxismus unter großen Anstrengungen außerhalb der Uni lernen mussten, mitunter eine Haltung der revolutionären Ungeduld und Theoriefeindlichkeit hervorgebracht. Die Dramatik der Krisen des Kapitalismus drängt viele zur unmittelbaren politischen Praxis, die schwierigeren Bedingungen des finanziellen Überlebens zum unmittelbaren Output. Argument und HKWM mögen ihnen als überflüssig aufwendige Geistesanstrengungen erscheinen, wo es doch darum geht, ganz praktisch eine sozialistische Bewegung aufzubauen.
So verständlich und sympathisch diese Haltung auch ist, sie unterschätzt wohl die Bedeutung der Theorie für revolutionäre Politpraxis. In der revolutionären Arbeiterbewegung waren die Parteiführer in der Regel nicht nur gute Praktiker, sondern auch Theoretiker, bzw. sie waren gute Praktiker, weil oder wenn sie auch gute Theoretiker waren. Denn wie verändert man eine Welt, wenn man nicht weiß, was sie im Innersten zusammenhält? Dabei rühren noch die identitären linken «talking points» aus analytischen Erkenntnissen, wie sie in Zeitschriften wie dem «Argument» ständig erneuert hervorgebracht werden. Also: «Wie sollen wir ohne Theorie vorgehen (…), ohne das kalte strahlende Licht der Theorie, die uns den Weg weist?» fragt in Tony Kushners Drama «Slawen!» die Figur des «ältesten lebenden Bolschewiken». Die Antwort lautet: gar nicht. Aber zum Glück gibt es sie ja, die lebendige Theorie. Auch dank Wolfgang Fritz Haug.
Ursprünglich auf der Website Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht