I.
Joe Biden hat die Wahl zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika voraussichtlich gewonnen. Er liegt in den Umfragen in Michigan und Wisconsin weit vorn, hat noch eine (geringe) Chance, den Bundesstaat Georgia zu gewinnen und die Wahrscheinlichkeit, dass Nevada und Arizona an ihn gehen werden, ist hoch. Die wenigen Wahlzettel, die noch nicht ausgezählt worden sind, tendieren zu Biden, insofern es sich zumeist um Stimmen aus dem Frühwahl- oder Briefwahlverfahren handelt. Unwahrscheinlich, aber immer noch möglich ist sogar, dass Biden noch Trumps Vorsprung im Mittweststaat Pennsylvania aufholt.
II.
Donald Trump hat sich in der Wahlnacht, als noch längst nicht alle Stimmen ausgezählt waren und das Wahlergebnis noch nicht feststand, zum Wahlsieger erklärt. Er forderte eine Beendigung der Auszählung der abgegebenen Stimmen und begründete diese Missachtung des Willens von Millionen Wähler*innen mit der Behauptung, dass „eine traurige Gruppe von Menschen versucht, Millionen Amerikaner*innen“, die für ihn gestimmt hätten, „das Wahlrecht zu entziehen“. Trump tat dies im Wissen, dass ein Großteil der noch nicht ausgezählten Stimmen von Früh- und Briefwähler*innen stammten, die stark zu Biden und den Demokraten tendieren. Ihm war klar, dass diese Stimmen, die bis dahin bestehenden Rückstände von Biden in einzelnen Bundesstaaten verkürzen und teilweise sogar in Vorsprünge verwandeln könnten. Schon vor der Wahl war genau dieses Szenario vielfach prognostiziert und diskutiert worden, dass Trump das Wahlergebnis anfechten und eine Niederlage gegebenenfalls nicht anerkennen würde. In einem beispiellosen Statement hatte sich das Pentagon bemüßigt gefühlt zu erklären, dass man auf keinen Fall einen Militärputsch durchführen werde, um Trump im Amt zu halten. Trump wiederum, der über seinen Twitterkanal, der fast 85 Millionen Follower hat, direkt mit seinen Unterstützer*innen kommuniziert, hatte rechtsextreme Milizen wie die „Proud Boys“, dazu aufgefordert, sich „bereitzuhalten“ („stand by“). Einige dieser Milizen hatten ihre Entschlossenheit bereits unter Beweis gestellt, indem sie die Entführung von Gretchen Whitmer, der Gouverneurin von Michigan, und ihre Aussetzung in der Mitte des Michigan-Sees planten. Andere fühlten sich von Trump aufgefordert, das Parlament von Minneapolis mit Waffengewalt zu besetzen. Am Tag nach der US-Wahl versuchten Trump-Anhänger*innen in Detroit in Michigan, einer stark afroamerikanisch geprägten und demokratisch dominierten Stadt, ein Wahlzentrum zu stürmen, um die Fortsetzung der Stimmenauszählung gewaltsam zu verhindern. Da inzwischen in mehreren Staaten juristische Klagen gegen das Wahlergebnis anstehen und der Unterschied zwischen Biden und Trump in einigen Staaten unter einem Prozentpunkt liegt, was erneute Stimmennachzählungen nach sich ziehen dürfte, wird sich der Prozess der Wahl voraussichtlich noch über Tage und womöglich Wochen hinziehen. Das war im Jahr 2000 bei der Wahl von George W. Bush versus Al Gore schon einmal der Fall. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter diesen Bedingungen des Machtvakuums Konflikte zuspitzen werden, ist hoch. Im allerschlimmsten Fall ist die befürchtete Eskalation dieser Konflikte in eine bürgerkriegsähnliche Richtung nicht ganz auszuschließen. Sie könnten unter Umständen sogar mit sich bringen, dass Trump, als noch amtierender Präsident, versucht ist, den Notstand auszurufen und liberale Rechtsstaatsprinzipien auszusetzen.
III.
Bidens Wahlkampfstrategie bestand darin, die „blaue Wand wiederaufzubauen“, d.h. die bevölkerungsreichen und darum wahlentscheidenden Staaten rund um die Großen Seen im Mittwesten zurückzugewinnen. Sie wurden 2016 von Trump gewonnen, sind aber vor dem Hintergrund von alter Industriestruktur und weiterhin relativ hoher Gewerkschaftsdichte über Jahrzehnte demokratisches Territorium gewesen. Vor dem Hintergrund von Strukturwandel, Arbeitsplatzabbau, sozialer Krise und Binnenemigration gelang es Trump mit seiner Kritik an der angeblich „unfairen“ ausländischen – vor allem chinesischen und deutschen – Konkurrenz und seiner rhetorischen Gegnerschaft zum Freihandel diese Staaten zu gewinnen. Die Strategie von Biden dürfte am Ende aufgegangen sein: Er wird voraussichtlich keinen Bundesstaat an Trump verloren haben, der 2016 von Clinton gewonnen wurde. Trumps Hoffnungen, er könnte vielleicht Minnesota kippen, hat sich zerschlagen. Mit Michigan und Wisconsin hat Biden aber wohl zwei wichtige Mittweststaaten mit knappem Vorsprung gewinnen können. Gleichwohl gingen neben dem tendenziell republikanischen Indiana zum zweiten Mal auch Ohio an Trump.
IV.
Die US-Wahlen 2020 fanden unter besonderen Bedingungen statt. Die Pandemie hatte eine neue große Rezession nicht hervorgerufen, aber dramatisch beschleunigt. 2016 hatte Donald Trump seinen Wahlkampf im Namen der US-Arbeiterklasse geführt. Nach dem Wahlsieg gegen Hillary Clinton senkte er jedoch vor allem die Steuern für Konzerne und Reiche radikal. Die Unternehmenssteuer sank von 35 auf 21 Prozent, der Spitzensteuersatz von 39,6 auf 37 Prozent. Dennoch exekutierte Trump diese Maßnahmen im Namen der US-Arbeiterklasse, auch wenn der Anteil der Lohnsteuern gleichhoch blieb und Trump zugleich massiv sozialstaatliche Bundesprogramme, auf die die US-Arbeiterklasse angewiesen ist, kürzte oder ganz einstellte. Trump argumentierte, die Steuersenkungen würden ein historisches Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und eine entsprechende Konkurrenz des Kapitals um Arbeitskräfte herbeiführen, die – ganz ohne Gewerkschaften und Arbeitskonflikte – die Löhne in schwindelnde Höhe führen würde. Sein Gesetz nannte er darum auch den 2017 Tax Cuts and Jobs Act. Schon vor der Pandemie galt: Nichts davon ist eingetreten, keines seiner Versprechen konnte Trump halten. Die offizielle Arbeitslosenquote lag laut Bureau of Labor Statistics im Januar 2017, als Trump sein Amt antrat, bei 4,7 Prozent und sank, weitgehend konjunkturbedingt, bis Januar 2020 auf 3,6 Prozent. Die US-Reallöhne stagnierten und stagnieren trotz (moderater) Produktivitätszuwächse. Nach offiziellen Angaben der US-Zentralbank Federal Reserve leben 40 Prozent der US-Amerikaner*innen von „paycheck to paycheck“. Mit anderen Worten: Sie haben keinerlei Ersparnisse und sind grundsätzlich nur eine schwere Erkrankung oder einen Jobverlust von der Wohnungslosigkeit oder Privatinsolvenz entfernt. Die Coronahilfen waren für die Lohnabhängigen ein Tropfen auf den heißen Stein. Zugleich sind die Vermögensungleichheit und der Anteil der obersten 1 Prozent und 0,1 Prozent am gesamten Volksvermögen, die schon unter Obama den höchsten Stand seit 1929 erreicht hatten, unter Trump weiter gestiegen. Selbst mitten in der Coronakrise sind die Vermögen der Multimilliardäre nochmal rapide angewachsen: Nach Berechnungen von „Business Insider“ vergrößerten sie ihr Eigentum sie in den USA während der Pandemie nochmal um durchschnittlich 42 Milliarden pro Woche. Trump hatte zugleich prognostiziert, dass sich die Steuersenkungen für die Reichen selber finanzieren würden. Die US-Staatsschulden sind unter Trump aber explodiert. Als Obama das Amt verließ, lag die US-Staatsschuldenquote nach offiziellen Angaben des Congressional Budget Office bei 76 Prozent, in vier Jahren stieg sie bis auf 98 Prozent. Als Obama regierte, hatten die Republikaner zweimal einen Regierungs-Shutdown erzwungen, weil in Folge der globalen Finanzkrise die Staatsverschuldung angestiegen war. Unter Trump hat sich das Haushaltsdefizit indes von 585 Milliarden US-Dollar kontinuierlich auf 1,1 Billionen US-Dollar fast verdoppelt.
V.
Die Pandemie hat die wirtschaftliche Lage in den USA noch einmal dramatisch verschärft. Schon vor der Coronakrise war Krankheit die Hauptursache für Privatinsolvenzen in den USA. Mit der Krise hat sich die Lage der US-Arbeiterklasse massiv verschlechtert. Im April stieg die offizielle Massenarbeitslosigkeit sprunghaft auf 14,7 Prozent, blieb über den Sommer bei über 10 Prozent und ist im September 2020 mit 7,9 Prozent immer noch hoch. Die reale Arbeitslosenquote liegt höher, weil viele Beschäftigte die maximale Laufzeit der Arbeitslosenfürsorge überschritten haben oder sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Die Regierung Trump spielte die Pandemie herunter, an die Stelle von planmäßigem Handeln zur Eindämmung der Pandemie sprach der Präsident vom „China-Virus“, schickten sich republikanische Gouverneure an, China „zu verklagen“ und setzte die Regierung auf eine verheerende Laissez-faire-Politik. Die USA gehören mit 9,8 Millionen Corona-Infizierten und etwa 234.000 Toten neben Indien und Brasilien zu den am stärksten betroffenen Ländern der Welt. Die Zahl der wöchentlich Neuinfizierten erreichte in den letzten Wochen vor dem Wahltag wieder die 100.000-Marke. Trumps Zustimmungswerte waren historisch schnell, schon bis Mai 2017, unter die bedeutsame 40-Prozent-Marke gefallen, und erholten sich hiervon eigentlich nie. Der Höchststand lag im April 2020 unter den Sonderbedingungen der allgemeinen Regierungspopularität zu Beginn der Coronakrise bei 45,8 Prozent. Ende Juli 2020, als der Wahlkampf in seine heißeste Phase eintrat, lag der Wert wieder auf der kritischen 40-Prozent-Marke. 56 Prozent der US-Amerikaner*innen lehnten den Präsidenten und seine Politik ab.
VI.
Unabhängig davon, ob der frühere Vizepräsident Joe Biden tatsächlich neuer Präsident der Vereinigten Staaten wird und Trump seit George Bush sr. 1992 der erste Präsident sein wird, der nach nur einer Amtszeit abgewählt wird, ist das Ergebnis von Joe Biden ein Schlag ins Gesicht der demokratischen Parteielite. Sie hatte in einer konzertierten Aktion alle ihre Machtmittel eingesetzt, um in den demokratischen Vorwahlen den Aufstieg des parteiübergreifend populären US-Senators Bernie Sanders zu beenden: In einer Nacht- und Nebelaktion wurden mit viel Druck andere zentristische Kandidaten dazu bewegt, aus dem Rennen auszusteigen, um so in einer „Alles-gegen-Bernie“-Mobilisierung den demokratischen Sozialisten zu verhindern und den uncharismatischen Biden als Präsidentschaftskandidaten der Partei zu installieren. Und das, obwohl die Umfragen vorhersagten, dass Sanders wohl der aussichtsreichere Gegenkandidat zu Trump sein würde. Die demokratische Parteielite setzte alles darauf, den Fehler von 2016 zu wiederholen, nämlich in einer Konstellation der dramatischen Unzufriedenheit mit dem Status Quo einen Kandidaten des „Weiter so“ – damals Hillary Clinton, diesmal Joe Biden – ins Rennen zu schicken, obgleich das „Weiter so“ genau das Problem ist und die Ursache, dass Trump 2016 überhaupt Präsident werden konnte. 2016 hatte Trump nicht die Wahl gewonnen – er erhielt seinerzeit kaum mehr absolute Stimmen als die zuvor gegen Obama unterlegenen republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain und Mitt Romney. 2016 hatten Clinton und die demokratische Parteielite die Wahl verloren. 2020 sieht es danach aus, dass Biden Präsident der Vereinigten Staaten wird, die Wahl gewonnen hat er allerdings nicht. Eine genaue politsoziologische Analyse der Wahl – wer wen aus welchen Gründen wählte – ist angesichts der schwierigen Datenlage zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu leisten. Trotzdem: Angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation der USA in der Corona-Pandemie und angesichts der Tatsache, dass Trump alle seine sozialen wie auch außenpolitischen Versprechen, wie die unpopuläre Kriegspolitik der USA zu beenden, für die er 2016 gewählt worden ist, nicht eingelöst hat, ist dieser knappe Vorsprung ein Armutszeugnis. Die Demokratische Parteielite glaubt, 2020 zu den „guten Obama-Jahren“ zurückkehren zu können und weigert sich schlicht anzuerkennen, dass es auch Obamas technokratisch-neoliberale Politik war, die den Aufstieg des rechtsautoritären Nationalismus von Donald Trump überhaupt erst ermöglichte. Diese Unfähigkeit zur Selbstkritik verkörpert am besten Hillary Clinton, die in ihrem Buch „What Happened“ über die Ursachen ihre Wahlniederlage gegen Trump nur hilflos Sanders, der Trump die Argumente geliefert habe, und Putin, der die US-Wahlen beeinflusst habe, verantwortlich machen konnte.
VII.
Eine Biden-Präsidentschaft wird von Anfang an unter einem schlechten Stern stehen. Das hat zum Teil mit dem knappen Ergebnis zu tun und mit Trumps Agieren, das Bidens Legitimität in Teilen der Bevölkerung von Anfang an beschädigt. Trump hatte 2008/2009 die Birthers angeführt, die versuchten, Obamas Legitimität zu untergraben, indem sie behaupteten, er sei eigentlich in Kenia geboren und könnte darum kein Präsident sein. Obama, der nach acht Bush-Jahren einen Erdrutschsieg der Demokraten angeführt hatte, geriet schon im Februar 2009, also einen Monat nach seinem Amtsantritt, durch die marktradikal-rechte Tea-Party-Bewegung unter Druck. Er verfolgte eine zentristische und technokratische Politik, die darauf ausgelegt war, „across the aisle“ mit den delegitimierten Republikanern zusammenzuarbeiten und den ganzen Schwung hinter seiner Wahl demobilisierte. Auf dem Rücken der Tea Party kehrten die Republikaner schon bei den Zwischenwahlen 2010 an die (Kongress-)Macht zurück. Seitdem war Obama Getriebener der – mit zahlreichen Tea-Party-Gouverneuren und Kongressabgeordneten – hart nach rechts verschobenen Republikanischen Partei. Obama war 2016 bereits ein gescheiterter Präsident. Sein Vize Joe Biden wird von Tag eins an ein Getriebener sein und vielleicht schon von Tag eins an gescheitert. Während Obama nicht nur eine hohe Legitimität und Wechselstimmung ins Amt brachte, sondern er über eine große Machtfülle im Kongress verfügte, startet Biden mit einer demokratischen Niederlage. Die Demokraten müssen ihre Hoffnungen, die Anti-Trump-Stimmung für eine Mehrheit im Senat zu nutzen, begraben. Schon vor der Wahl schien sicher, dass die Republikaner eine Sperrminorität von mehr als 40 Senator*innen behalten würden; nun ist es so, dass Biden insgesamt gegen eine republikanische Mehrheit im Senat wird regieren müssen. Auch im Repräsentantenhaus haben die Demokraten keine Verschiebung der Kräfteverhältnisse erwirkt, selbst wenn sie ihre Mehrheit in diesem Unterhaus voraussichtlich werden verteidigen können. Bemerkenswert ist: Die linken Abgeordneten, die sich als Sanders Democrats und demokratische Sozialist*innen begreifen, darunter die populäre Alexandria Ocasio-Cortez, haben ihre Mandate auch gegen mit viel Kapitaleinsatz operierende republikanische Gegenkandidaten fast sämtlich klar und deutlich verteidigt, während eine Reihe prominenter zentristischer Demokrat*innen ihre Wahlen, teilweise überraschend, verloren. „In Gefahr und größter Not“, sagt Alexander Kluge, „bringt der Mittelweg den Tod.“ Der Oberste Gerichtshof wiederum wurde unter Trump massiv nach rechts verschoben, weil er in seinen vier Jahren ganze drei Richter auf Lebenszeit ernennen konnte, die hart rechts sind: Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Diese institutionelle Rechtsverschiebung in diesem politisch gewichtigen Gremium wird die USA über Jahre, ja Jahrzehnte prägen. Als Präsident kann Biden, selbst wenn er es wollte, die gesellschaftlichen Ursachen des Trumpismus nicht beheben. Aber er will es gar nicht. Biden hat sich im Wahlkampf hart gegen die linkssozialdemokratischen Forderungen der Sanders-Demokraten wie ein öffentliches Gesundheitssystem für alle („Medicare for All“) und einen sozialökologischen Green New Deal gestellt. Bidens Wahlkampf zielte auf ein traditionell konservatives Bürgertum, das sich aber von Trumps Radau-Rhetorik, seinem Corona-Management und seiner allgemein scheinbar erratischen Politik abgestoßen fühlt. Seine Botschaft adressierte damit jedoch eine letztlich sehr kleine, aber mächtige gesellschaftliche Elite, die nicht mehr will, als ein Zurück zu einem vernünftigen Management des Status Quo. Dieser ist jedoch unhaltbar. Biden 2020 wird die Grundlagen für den Trumpismus 2024 legen, egal, wie der Kandidat des rechtsautoritären Nationalismus dann heißen wird. Denn dies zeigen die Wahlen von 2020 auch: Vier Jahre Trump haben für diese Art von Politik durchaus eine Massenbasis konsolidiert. Obwohl Trump über eine desaströse Pandemie präsidiert und seine zentralen Wahlversprechen gebrochen hat, ist es ihm gelungen, mindestens fünf Millionen mehr Menschen dazu zu bringen, ihm die Stimme zu verleihen. Zum jetzigen Zeitpunkt wählten ihn 68,088 Millionen US-Amerikaner*innen, 2016 waren es lediglich 62,984 Millionen.
Systematische Wahlanalysen werden dadurch erschwert, dass die üblichen Instrumente der Nachwahlbefragungen aufgrund der großen Zahl an Früh- und Briefwähler*innen in diesen Wahlen Schwierigkeiten haben und mit Vorsicht zu genießen sind. Überhaupt ist die Demoskopie eine weitere Verliererin dieser Wahl. 2016 hatten die Umfrageinstitute teilweise mit an absoluter Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Sieg von Hillary Clinton vorhergesagt. Michael Moore stand allein auf weiter Flur mit seiner These, dass Trump die Wahl gewinnen würde. Danach kam seitens der Institute das große Mea Culpa. Man beteuerte, dass man die Umfragemethodologie umfassend überarbeitet habe. 2020 wiederholt 2016, auch wenn die Buchmacher diesmal nur mit 64,7 zu 34,5 auf einen Wahlsieg von Biden tippten.
In den nächsten Tagen und Wochen wird man sehr behutsam klären müssen, wie es zu diesem Wahlausgang kommen konnte und welche gesellschaftlichen Gruppen aus welchen Gründen Trump weiterhin oder neu unterstützt haben. Zum jetzigen Zeitpunkt kann nur wenig mit Bestimmtheit gesagt werden. Dass vermutlich bei weißen Männern stark abgeschnitten hat und außerdem Zuwächse bei schwarzen und Latino-Männern verzeichnet, darf produktiv beunruhigen. Vor vorschnellen Thesen „Der Rassismus war’s“ oder „Der Rassismus war’s nicht“ usw. sollte man insbesondere hierzulande auf der Hut sein. Es handelt sich sonst nur um die schematische Anwendung von theoretischen Deutungsmustern auf andere und unverstandene Gesellschaften, die letzten Endes auch durch hiesige Richtungskämpfe motiviert sind. Denn die empirischen Daten, die eine systematische Analyse ermöglichen, existieren teilweise noch überhaupt nicht und werden in verlässlicher Qualität unter Umständen niemals vorliegen. Das bedeutet, dass wir angesichts der Tatsache, dass diese Wahlen unter besonderen Coronabedingungen stattgefunden haben, niemals endgültig und bis ins letzte Detail erfahren werden, was letzten Endes zu diesem Wahlausgang geführt haben wird.
Erstveröffentlicht in der Zeitschrift „Luxemburg“.