Für alle, die sich mit der Rückwärtsinduktion in der Spieltheorie beschäftigt haben, könnte der „Fall Europa” keine bessere Gelegenheit bieten, sie anzuwenden. Spieler_innen sind vorhanden, Ungewissheit ist vorhanden, Wahrscheinlichkeiten sind vorhanden und vielerlei mögliche Spielausgänge sind ebenfalls vorhanden. Nur dass das Spiel real ist und dass die Art seines Ausgangs nicht nur bestimmen wird, ob Europa in der vor uns liegenden Periode mehr in Richtung Integration oder Zerfall geht, ob es eine gemeinsame Währung haben wird oder nicht und ob seine Linie in der Wirtschaftspolitik sich weiterhin am Neoliberalismus ausrichten wird. Der Ausgang des Spiels wird auch über das Alltagsleben der Europäer_innen entscheiden und die Art, wie sich neue politische, ideologische und kulturelle Identitäten herauszubilden beginnen werden.
Trotz der Komplexität des Problems beinhaltet die Situation bestimmte wichtige Katalysatoren. Die Frage des Euro ist einer von ihnen. Während der letzten paar Jahre ist diese Debatte – die so alt ist wie die Eurozone selbst – in Griechenland (und nicht weniger in Europa) auf zahlreichen Ebenen immer wieder entflammt und ist jetzt, in der Woche vor der Neuwahl am 17. Juni, zu einem zentralen Streitpunkt dieser Vorwahlperiode geworden.
Der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) wird vorgeworfen, den unilateralen Ausstieg des Landes aus der gemeinsamen Währung zu wollen, entweder mit voller Absicht oder als unvermeidbare Folge der Ablehnung der Austeritätspolitik (wie sie im Memorandum zum Ausdruck kommt). Die Antwort auf den ersten Vorwurf ist einfach: die offizielle Haltung von SYRIZA – eine Position, die sich im Laufe einer sehr ausführlichen Debatte innerhalb der griechischen Linken im letzten Jahr herausgebildet hat – ist, dass die Partei gegen einen unilateralen Ausstieg ist. Allerdings ist in linken Zusammenhängen die „Frage des Euro“ sicherlich nicht bloß eine Debatte über den Euro. Sie steht nicht nur in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Überlegungen (sogar der Hinweis darauf übersteigt den Umfang dieses Textes), sondern mit der Einschätzung der Partei im Hinblick auf die Möglichkeiten für ein anderes Europa zu kämpfen, mit der Wichtigkeit, das europäische Feld des sozialen Kampfes nicht zu räumen und sich auf nationale Wachstumsdebatten zu beschränken, aber auch mit der Notwendigkeit, gegen nationalistische Stimmungen zu kämpfen, die in solchen Situationen immer hinter jeder Debatte lauern.
Es ist jedoch die Antwort auf den zweiten Punkt, die sogar noch wichtiger ist; nicht nur für Griechenland und Europa, sondern – so wie es aussieht – auch für die Weltwirtschaft (wobei die amerikanische Haltung während des jüngsten G8-Treffens charakteristisch ist). Ist die Ablehnung der Sparpolitik in Griechenland gleichbedeutend mit der Ablehnung des Euro? Gefährdet Griechenland die Eurozone? Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Sogar vor dem Wahlergebnis des 6. Mai wurde die Tatsache immer offensichtlicher, dass die Sparpolitik die europäische Wirtschaft immer weiter in die Sackgasse und die europäischen Gesellschaften immer weiter in die Verzweiflung treibt. Und sogar wenn frau nie wissen kann, was am Ende einer Straße liegt, in die sie gar nicht eingebogen ist, war es auch offensichtlich, dass die Beibehaltung von Neoliberalismus und der Strategie der inneren Abwertung als Mittel des oberflächlichen Managements einer tiefen Systemkrise in eine Katastrophe münden würden.
Widerstand gegen die Sparpolitik und eine Bekämpfung der wirklichen Ursachen der Schuldenkrise in Europa, die untrennbar zusammenhängen mit den Gründen für die Weltwirtschaftskrise, sind die einzig realistische Möglichkeit, den Zusammenhalt Europas auf gänzlich anderer Grundlage zu wahren. Nach den jüngsten Entwicklungen in Spanien (und demnächst auch in Portugal, Zypern und anderswo) ist Handeln in diese Richtung, in die Richtung von Arbeit, Entwicklung und Wiederherstellung von Demokratie in allen europäischen Ländern, dringlicher als je zuvor. Das kann nicht ohne ernsthafte Auseinandersetzungen abgehen, aber es muss Entscheidungen in diese Richtung geben. Denn das ist keine Debatte über den Euro. Es ist ein Kampf für die Durchsetzung von Gleichheit, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und menschliche Emanzipation in Griechenland, in Europa, in der Welt.