Die Wiedereinführung des Kapitalismus in Staaten wie Rumänien konnte ihre Versprechen nicht halten: Das Land kämpft heute mit Wirtschaftsmigration, großer Einkommensungleichheit, der Aushöhlung der öffentlichen Dienstleistungen, prekären Arbeitsverhältnissen, niedrigen Löhnen und Korruption.
Dies führte wiederum zu einer in der Bevölkerung weithin spürbaren Frustration mit dem politischen Establishment, was sich auch in der mageren Wahlbeteiligung von nur 39% in den Parlamentswahlen vor zwei Jahren niederschlug. Die Niederlage des „Familienreferendums“ im Oktober stellt den neuesten Ausdruck dieser Enttäuschung dar.
Im Herbst 2015 legte eine Gruppe aus ultra-konservativen Religionsgruppen und NGOs namens „Koalition für die Familie“[1] eine Petition mit dem Ziel einer Verfassungsänderung vor. Sie wollten damit erreichen, dass die Ehe in der Verfassung nicht nur als ein Bund zwischen zwei Ehepartnern definiert wird, sondern explizit als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau. Ihrer Meinung nach würde eine mögliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in der Zukunft die „traditionelle Familie“ unterwandern und das Wohlergehen der rumänischen Kinder gefährden. Mit sehr fragwürdigen Methoden[2] konnte die Koalition drei Millionen Unterschriften für ihr Anliegen sammeln, worauf sich das Parlament zur Abhaltung eines Referendums entschloss.
Mit Ausnahme der Mitte-rechts-Partei „Union Rettet Rumänien“ (USR) und einiger progressiver, unabhängiger Parlamentarier_innen, unterstützten alle Abgeordneten das Ja-Lager, das sich für eine Verfassungsänderung aussprach. Wenn dies auch tatsächlicher Ausdruck der reaktionären Ausrichtung der politischen Klasse ist, waren die Parteien hauptsächlich durch politischen Opportunismus zu dieser Haltung motiviert. Während ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung unter materieller Verarmung[3] leidet, nahezu die Hälfte der Bevölkerung zum Mindestlohn[4] arbeitet, in der Industrie die Streitigkeiten zunehmend eskalieren und Massenproteste gegen Korruption die Regierung ins Wanken bringen, wurde dieser Angriff auf die Rechte der LGBTQ+-Community dazu verwendet, um von anderen wichtigen gesellschaftlichen Problemen abzulenken und Ressentiments gegen eine historisch benachteiligte Minderheit zu bündeln (Homosexualität wurde in Rumänien erst 2001 straflos gestellt).
Eine solche Instrumentalisierung des Referendums passte der regierenden Sozialdemokratischen Partei (PSD) gut ins Konzept, die damit ihre Eigenschaft als Rechtspartei weiter konsolidiert. Trotz ihres Namens und ihrer formellen Zugehörigkeit zur europäischen sozialdemokratischen S&D-Fraktion, gleicht die PSD in ihren Grundzügen der ungarischen Fidesz und der polnischen PiS, einer rechtspopulistischen Partei, die die Interessen der heimischen Oligarchen und deren Netzwerke vertritt. Der Grund dafür, warum die PSD noch immer an der Macht ist, liegt in ihren minimalen sozialen Zugeständnissen. So hob sie wiederholt (wenn auch nicht zu einem ausreichenden Maße) das Mindestlohnniveau an, was in der neoliberalen Agenda der Oppositionsparteien keinen Platz hat.
Trotz der Millionen Euro, die in die Ja-Kampagne flossen, trotz der Ausweitung der Stimmabgabenfrist von einem auf zwei Tage, trotz der Senkung des erforderlichen Beteiligungsquorums von 50% auf 30% misslang das Referendum, da am Ende nur 20% der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Dieser Misserfolg spiegelt die realen, materiellen Probleme der Wahlberechtigten und ihrer Kinder wider; in einem Land, das die höchste Kindersterblichkeitsrate[5] der EU verzeichnet und aufgrund der hohen Wirtschaftsmigration fast 100.000 Kinder nicht bei ihren Eltern leben[6]. Die geringe Beteiligung am Referendum ist daher ein untrügliches Zeichen der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen Establishment, das für ihre sozialen Probleme verantwortlich ist.
Eine wichtige Rolle im Misslingen dieser reaktionären Initiative übernahmen LGBTQ+-Aktivist_innen[7], die von der bereits genannten USR und neuen linken Gruppierungen unterstützt wurden, zu denen die sozialdemokratische Demos[8] und die radikale, antikapitalistische Mâna de Lucru[9] (die CWI-Gruppe in Rumänien) gehört, die sich für den Boykott des Referendums einsetzten. Ihr Einsatz war nicht nur von Erfolg gekrönt, sondern ermöglichte es auch der Linken, die Frage der LGBTQ+-Rechte mit sozioökonomischen Themen zu verbinden und zu einem gemeinsamen Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus und die von ihm ausgehende Unterdrückung aufzurufen. Es ist diese neue, aufstrebende Linke, die eine Alternative zum diskreditierten politischen Establishment und ihrem Mix aus neoliberaler und reaktionärer Politik vorstellen muss.
Quellen
[1] http://coalitiapentrufamilie.ro/english/
[2] https://newsweek.ro/actualitate/minori-si-persoane-decedate-au-semnat-pentru-sustinerea-initiativei-coalitiei-pentru-familie
[3] Forschungsbericht von Eurofound 2017: Erwerbstätigenarmut in der EU https://www.eurofound.europa.eu/sites/default/files/ef_publication/field_ef_document/ef1725en.pdf
[4] https://www.romania-insider.com/half-employees-romania-minimum-wage/
[5] https://www.indexmundi.com/map/?t=0&v=29&r=eu&l=en
[6] http://www.balkaninsight.com/en/article/romanian-migrant-workers-leave-96-000-children-behind-statistics-03-13-2018
[7] https://www.vice.com/en_uk/article/pa9xjb/romania-referendum-2018-boycott-marriage-equality
[8] http://platforma-demos.ro/index.php/2018/09/12/drepturile-nu-se-supun-la-vot/