Der Wahlabend des 17. Juni markiert einen Meilenstein in der modernen griechischen Geschichte. Zum ersten Mal haben es Parteien links der Sozialdemokratie geschafft, ein derart beeindruckendes Wahlergebnis einzufahren (SYRIZA, Demokratische Linke und KKE kommen gemeinsam auf 37.5% der Stimmen) und die Rolle der größten Opposition einzunehmen.
Das einzige Mal, dass sich in der politischen Geschichte Griechenlands etwas Ähnliches ereignet hat, war im Jahr 1956, als es die politische Allianz der EDA (Vereinigte Demokratische Linke) geschafft hat, 25% der Stimmen auf sich zu vereinen und somit den 2. Platz zu belegen. Dies geschah nur 7 Jahre nach dem Griechischen BürgerInnenkrieg und der Niederlage der Kommunisten und zeigt anschaulich, wie tief die Linke als soziale und politische Kraft in Griechenland trotz allem verwurzelt ist. Bei den darauffolgenden Wahlen 1961 hat die EDA aus zweierlei Gründen an Stimmen verloren: Der damalige Ministerpräsident und Onkel des späteren Premiers von 2004-2009, Konstantinos Karamanlis, hat gemeinsam mit Mitgliedern der Armee eine große Kampagne zur Einschüchterung der linken WählerInnenschaft gestartet, die besonders in den ruralen Gebieten erfolgreich war – einige dieser Armee-Vertreter sollten sechs Jahre später im Militärputsch eine zentrale Rolle spielen. Weiters kam es im Vorfeld der Wahlen 1961 zur Gründung einer neuen Partei, der Zentrumsunion, die George Papandreou damals in Zusammenarbeit mit Karamanlis und der US-Botschaft gegründet hatte. Ihr erklärtes Ziel war es, möglichst viele Stimme der Mitte auf sich zu vereinen und damit die radikaleren sozialen Kräfte zu schwächen. George Papandreou ist übrigens Vater des späteren Premierministers Andreas Papandreou (1981-1989, 1993-1996) und Großvater des gleichnamigen Ministerpräsidenten von 2009-2011.
Das Wahlergebnis: Neue Demokratie – Eine Siegerin ohne Macht
Bei den jetzigen Wahlen hat SYRIZA 27% der Stimmen (71 Sitze) erhalten, während sie im Mai lediglich 17% der Stimmen auf sich vereinen konnte – bei den Wahlen 2009 waren es überhaupt nur 4.6% (13 Sitze). Die Konservativen der Neuen Demokratie haben die Wahlen mit 29.66% der Stimmen gewonnen, also deutlich mehr als im Mai (18.85%), jedoch klar weniger als im Jahr 2009 (34%), als sie den Sieg deutlich verpasst haben. Es ist bezeichnend, dass es die Neue Demokratie (129 von 300 Sitzen) nicht geschafft hätte, die Parlamentsmehrheit zu erreichen, wenn es nicht jenes untragbare Wahlgesetz gäbe, das der stimmenstärksten Partei unabhängig von der Anzahl der WählerInnen einen Bonus von 50 Mandaten zusichert. Wie die LeserInnen des transform! Newsletters wissen, war die stärkste Waffe der ND, um diese Wahl zu gewinnen, die Angst der WählerInnenschaft, die sie bediente: Die Linke an der Regierung würde bedeuten, dass das Memorandum abgesagt würde, Griechenland die Währungsunion verlassen müsste und die Wirtschaft völlig zusammenbräche. Diese Drohungen waren die einzige Basis, auf der die ND – unterstützt von den anderen Parteien und allen großen Medien, die die politische Propaganda gegen SYRIZA koordiniert haben – im Vorfeld der Wahlen agiert hat. Damit ist die ND die erste Partei seit der Diktatur, die die Wahlen nicht aufgrund politischer Vorhaben und optimistischer Versprechungen gewonnen hat, sondern aufgrund von Drohgebärden und Angstmache. Sie ist auch die erste Partei, die gewonnen hat, obwohl ihre Ideen von der breiten Masse der Bevölkerung abgelehnt werden. Ein früherer Kommunikationsexperte fasst treffend zusammen: „Die meisten Leute, die die ND gewählt haben, taten dies nur unter widerwilligem Naserümpfen.“
Nach den Wahlen im Mai und dem Aufstieg von SYRIZA haben alle Parteien von der Notwendigkeit gesprochen, das Memorandum neu zu verhandeln und einen Schlachtplan mit der Troika auszuarbeiten. Darunter waren auch die ND und Ministerpräsident Antonis Samaras, der nun in seinen ersten Wortmeldungen das Thema Neuverhandlungen nicht einmal erwähnt hat. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass das Wahlergebnis der ND, das als Ergebnis massiver Anti-SYRIZA-Kampagnen zu werten ist, nicht nur durch die Stimmen rechter Parteien zustande gekommen ist, sondern auch dank UnterstützerInnen der PASOK, die einen Sieg von SYRIZA verhindern wollte.
Wahl-Fronten: Pro und Kontra Memorandum
Die PASOK (SozialdemokratInnen) hat seit den Wahlen im Mai fast ein Prozent ihrer Stimmen verloren und stürzte damit von 44% im Jahr 2009 auf 12.28% (33 Sitze) ab. Dies verdankt sie den enormen Schäden, die sie in ihrer Regierungszeit verursacht hat, sowie der Unterzeichnung des Memorandums, wodurch sie viele WählerInnen an SYRIZA verlor. Kurz vor den Wahlen hat der Vorsitzende der PASOK, Evangelos Venizelos, angekündigt, dass seine Partei einen Prozess der „Neuerfindung“ anstoßen würde, im Zuge dessen sämtliche FunktionärInnen der Partei – außer ihm selbst – ersetzt würden. Aufgrund des Abdriftens der PASOK in die politische Bedeutungslosigkeit wurde diese Ankündigung von den verbliebenen Partei-Mitgliedern reaktionslos hingenommen.
Die Unabhängigen Griechen (Antimnimoniako, eine aufstrebende rechte Partei, die durch eine Abspaltung aus der ND hervorgegangen ist und Hardliner-Positionen bezüglich Außenpolitik und Migration vertritt und außerdem den sofortigen Ausstieg aus dem Memorandum unterstützt) haben aufgrund der ND zwar an Stimmen verloren, ihr Ergebnis bleibt jedoch beachtlich: 7.5% der Stimmen (20 Sitze).
Die Demokratische Linke, die 2010 aus einer Spaltung von Synaspimsmos hervorgegangen ist, konnte ihr Wahlergebnis von 17 Mandaten (6.26%) halten. Im Vorfeld der Wahlen hatte sie mit Slogans wie „Um jeden Preis in der Eurozone bleiben“ und „Neuverhandlung des Memorandums“ (im Gegensatz zu seiner Aufhebung, wie von SYRIZA gefordert) und „schrittweiser Ausstieg bis 2014“ geworben, obwohl das Memorandum voraussichtlich ohnehin noch in diesem Jahr ausläuft. Darüber hinaus hat die Demokratische Linke versucht, sich als „verantwortungsvolle“ linke Kraft zu positionieren, die – anders als die „unverantwortliche“ SYRIZA, die sich nach den Wahlen im Mai geweigert hat, einer Regierung anzugehören – bereit wäre, nach den Wahlen Regierungsverantwortung zu übernehmen. Studien belegen, dass die DL dadurch rund ein Viertel ihrer WählerInnen vom Mai an SYRIZA verloren hat.
Die Kommunistische Partei (KKE) musste eine schwere Niederlage hinnehmen und hat zwischen Mai und Juni rund die Hälfte ihrer WählerInnenstimmen verloren (von 8.5% auf 4.5%, 12 Sitze). Wie bei vielen anderen kleinen außerparlamentarischen Linksbündnissen dürften sich auch hier viele traditionelle Links-WählerInnen von der Dynamik von SYRIZA und einer möglichen linken Regierung angezogen gefühlt haben. Die KKE hat kategorisch Kooperationen mit anderen Linken abgelehnt und muss nun die Konsequenzen ihrer sektiererischen Politik tragen, die in einem Statement ihres Sekretärs auf den Punkt gebracht wurde: „Wir sind keine Linken, wir sind Kommunisten!“ In diesem Sinne verweigerten sie eine Zusammenarbeit mit SYRIZA, der sie vorwarfen, sie würde nicht für einen Ausstieg aus der Währungsunion stehen (eine Forderung, die klar den Wünschen der Bevölkerungsmehrheit widerspricht) und darüber hinaus systemkonform agieren und lediglich eine neue Sozialdemokratie aufbauen wollen. Bezeichnend ist daher auch die Interpretation des Wahlergebnisses seitens der KKE: „Wir haben den Menschen die Wahrheit gesagt und dafür bezahlt!“
Abschließend widmen wir uns dem Wahlergebnis der Goldenen Morgenröte, das unverändert hoch geblieben ist (7%, 18 Sitze). LeserInnen des transform! Newsletters hatten in den letzten Ausgaben die Möglichkeit, eine genauere Analyse dieses Phänomens nachzulesen. Ein Artikel hat aufgezeigt, dass die Bedeutung der Goldenen Morgenröte auf ganz konkrete Entwicklungen innerhalb der griechischen Gesellschaft zurückzuführen ist, die nach der Attacke eines GM-Mitglieds auf Kandidatinnen der Linken sogar noch gestärkt wurden. Das Wahlergebnis hat SympathisantInnen der Goldenen Morgenröte zu einer Serie von Aktionen – etwa Messerattacken gegen MigrantInnen und Zerstörung von SYRIZA-Ständen – motiviert, die einmal mehr von der unmenschlichen Ideologie dieser Partei zeugen.
Die Charakteristika der SYRIZA-WählerInnen
Es ist sehr spannend, einen genaueren Blick auf die typischen SYRIZA-WählerInnen zu werfen. Laut einer Studie wird das Bündnis besonders häufig von Privatangestellten (19%), BeamtInnen (22%), Selbstständigen (18%), Arbeitslosen (22%) und Studierenden (20%) gewählt. Sie ist die viertstärkste Kraft bei der Bauernschaft (9%) und drittstärkste bei Hausfrauen (15%) und PensionistInnen (11%). PensionistInnen ändern ihr Wahlverhalten traditionell kaum – einerseits wegen ihres Alters, andererseits aus Angst, dass ein Ausstieg aus der Eurozone ihre ohnehin niedrigen Pensionen noch weiter verringern könnte. Dass sie trotzdem für SYRIZA gestimmt haben zeigt, dass sie sich wohl mit dem Gedanken, in Armut zu leben und nur die notwendigsten Ressourcen zur Verfügung zu haben, abgefunden haben. Darüber hinaus ist SYRIZA stärkste Kraft bei AbsolventInnen von höheren Schulen und Universitäten sowie in den Altersgruppen der 18-34-Jährigen (33%) und 35-54-Jährigen (34%). In der Gruppe 55+ ist SYRIZA zweitstärkste Kraft (20%), mit der Hälfte des Stimmanteils der ND. Besonders in urbanen Gegenden und in vielen ländlichen Regionen ist SYRIZA die stärkste Kraft, unter anderem auf der Insel Kreta, wo die politischen Kräfte der Mitte (PASOK und ihre VorgängerInnen) seit dem frühen 20. Jahrhundert traditionell ihre höchsten Stimmanteile generieren konnten.
Besonders auffallend bei den Wahlen ist die Polarisierung hinsichtlich der „Klassenzugehörigkeit“, hier insbesondere in der Gegend um Attika mit 5 Millionen EinwohnerInnen. SYRIZA gewann in all jenen Gebieten, wo Menschen der proletarischen Unterschicht mit niedrigem Einkommen leben (bis zu 40%, im Gegensatz zur ND mit 15%), und sie wurde nur zweit-bzw. drittstärkste Kraft, wo die Mittel- und Oberschicht zuhause ist.
Man kann daher abschließend festhalten, dass die dynamischsten Teile der griechischen Gesellschaft – nämlich jene, deren Lebens- und Zukunftsperspektiven besonders stark vom Memorandum betroffen sind – durchwegs SYRIZA unterstützt haben. Dies verdeutlicht einerseits den großen Erfolg und das große Potential von SYRIZA sowie ihre Fähigkeit, die richtigen Themen anzusprechen, und illustriert andererseits die riesigen Klassenunterschiede, die es in der griechischen Gesellschaft heutzutage gibt.
Der Tag danach
Nach den Wahlen hat SYRIZA deutlich gemacht, dass sie die Wahlergebnisse respektiert und aufgrund der enormen inhaltlichen Kluft zwischen sich und der ND nicht am Regierungsbildungsprozess teilnehmen wird. Eine Regierung von ND und PASOK, deren Führungspersonen bereits zugesagt haben, dass sie das Memorandum unterzeichnen und seine Forderungen durchsetzen wollen, ist mit einer Beteiligung von SYRIZA, die für das sofortige Ende des Memorandums steht, unvorstellbar und würde das Ende ihrer politischen Integrität bedeuten. SYRIZA hat verkündet, dass sie ihre Stärke nutzen wird, um zum ersten Mal eine richtige Opposition in Griechenland zu stellen – bislang war es eher so, dass ND und PASOK dieselben Positionen vertreten haben und nur vorgaben, unterschiedlicher Meinung zu sein. Solange diese Regierung im Amt ist, wird die Opposition von SYRIZA entschlossen und radikal sein. Die Partei wird auf der Seite jener Menschen stehen, die die Politik des Memorandums, die von der neuen Regierung fortgesetzt wird, bekämpfen. Darüber hinaus wird sie – wiewohl vermutlich erfolglos – an die Regierung appellieren, die Stärke der Opposition als zusätzliches Druckmittel gegenüber der Troika zu nutzen.
Die Aufgaben von SYRIZA sind so schwierig, wie sie wichtig sind. Abgesehen davon, dass sie weiterhin unentwegt das wahre Gesicht dieser neuen Regierung entlarven und am Organisieren großer politischer Ereignisse und Proteste teilnehmen muss, steht die linke Opposition im Grunde vor 3 Herausforderungen:
1. Zunächst muss sie zu einer politischen Bewusstseinsbildung ihrer WählerInnen beitragen. Wie zuvor illustriert, hatte eine Stimme für SYRIZA ökonomische Hintergründe: Während viele NiedrigverdienerInnen eben SYRIZA ihre Stimme gegeben haben, wählten BesserverdienerInnen eher die ND. Es gibt bei den WählerInnen jedoch kein Klassenbewusstsein hinsichtlich der Fragen, wie die Arbeit sozial verteilt ist, welche Rolle sie selbst innerhalb dieser Verteilung einnehmen und wie wichtig eine gemeinschaftliche Organisation ist.
2. SYRIZA muss es außerdem schaffen, WählerInnen mit Interesse an politischer Partizipation stärker an sich zu binden. Sie hat ein demokratischeres Regierungsmodell mit mehr Mitbestimmung versprochen, „um den Menschen die Macht zurückzugeben“, wie es Alexis Tsipras formuliert hat. Dies muss zunächst in den internen Strukturen von SYRIZA verwirklicht werden und sollte zur Transformation des Links-Bündnisses in eine große, geeinte und moderne Linkspartei führen. Eine Partei, in der sich alle Interessierten, die an den offenen Treffen von SYRIZA teilnahmen und mit den FunktionärInnen der Partei sowie Tsipras selbst das Programm der linken Allianz diskutiert haben, aktiv ins Geschehen einbringen können. Dies ist der einzig gangbare Weg für SYRIZA, wenn sie noch effektiver, noch näher an den Menschen und den derzeit stattfindenden sozialen Prozessen sein will. Nur so kann sie weitere politische und soziale Visionen formulieren und ihr Programm stärker, überzeugender und ansprechender machen.
3. Die dritte Aufgabe von SYRIZA findet sich – ebenso wie die beiden anderen – in den Aussagen von Alexis Tsipras während seiner Rede am Wahlabend im Hauptzelt der Partei in Athen (http://www.left.gr/article.php?id=2812), wo Hunderte Mitglieder und FreundInnen von SYRIZA mit ihren Fahnen und Liedern eine neue Ära einleiteten:
„Lasst uns alle ein Versprechen geben! Wir werden weiterhin all unsere Kraft und Lebendigkeit in die Arbeit für unsere bedürftigen Landsleute stecken. SYRIZA muss eine Kraft sein, die Netzwerke sozialer Solidarität unterstützt. Wir werden die Armen und Arbeitslosen nicht ohne Elektrizität und Gesundheitsversorgung lassen. Neben unseren Bemühungen, den Weg für eine Demokratisierung des politischen Lebens freizumachen, wollen wir versprechen, unser Bündnis in eine großartige, volksnahe Linkspartei zu verwandeln. Ohne jegliche Dünkel und Arroganz, sondern mit der Bescheidenheit, die jenen zu eigen ist, die für die Rechte der einfachen Menschen kämpfen. Unsere Linkspartei soll alle GriechInnen in jenem großen Kampf vereinen, in dem wir die Souveränität unseres Landes, seine Unabhängigkeit und die soziale Gerechtigkeit zurückerobern und die Demokratie wieder zurück in ihre Heimat und nach ganz Europa bringen werden. Die Zukunft gehört uns, und sie hat gerade erst begonnen. Wie sind entschlossen zu siegen!“
Im Anschluss an die Rede wurden Kampfparolen skandiert und die Fahnen leidenschaftlich geschwenkt. Der glühende Stolz in den Augen der SYRIZA-AktivistInnen darüber, Teil dieses großen Kampfes für den Sieg des Volkes zu sein, schien das Versprechen, niemals aufzugeben und den Kampf bis zum Ende weiterzuführen, einmal mehr zu besiegeln.