Neuformierung der europäischen Solidarität. Wendepunkt?

Hintergrund sind drei Transformationsprozesse:

1. Seit fünf Jahren prägt die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise das ökonomische, soziale und politische Leben in Europa. Statt die Schrumpfung des gesellschaftlichen Reichtums nach dem Krisentief des Sommer 2009 wieder auszugleichen, steckt die Europäische Währungsunion seit dem 2. Quartal 2012 erneut in der Krise. Die Mehrheit der Bevölkerung zahlt dafür mit der baren Münze ihrer sozialen Existenz. Die Arbeitslosigkeit erreicht mit über 25% in Griechenland und Spanien und über 15% in Irland und Portugal historische Höchststände. Aber selbst Arbeitslosenquoten zwischen 35% und 55% unter der nachwachsenden Generation sind nur die Spitze jenes sozio-ökonomischen Eisbergs, an dem Zukunftsperspektiven zerbersten;  Aussicht auf eine gesicherte Erwerbsbiographie jenseits von prekären, temporären, nicht existenzsichernden Jobs hat in den so genannten Krisenstaaten Europas nur noch eine Minderheit meist aus den traditionellen Eliten.

2. Gleichzeitig weist das Fieberthermometer der herrschenden Krisenumdeutung, die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung, steil nach oben. In Spanien und Portugal ist der Schuldenstand seit 2008 um rund 50 Punkte auf 90,7% bzw. 119% gestiegen, in Irland und Griechenland um rund 60 Punkte auf 118 bzw. 171%. Und dies unter einem Regime härtester Austerität, das selbst Margaret Thatcher und Ronald Reagan unter demokratischen Verhältnissen – jenseits des historischen Laboratoriums der Chicago Boys in Chile – für unvorstellbar gehalten hätten.

3. Das Euro-Krisenregime entzieht sich demokratischer Einflussnahme. Mit Six-Pact, Europäischem Semester und Fiskalpakt sind Verfahren entstanden, die in den kommenden Jahren institutionell – als Euro-Finanzminister und Euro-Wirtschaftsregierung – festgeschrieben und über einen „Konvent“ legitimiert werden sollen. Das kurze Intermezzo „technischer Kabinette“ in Griechenland und Italien wäre die Experimentalphase eines gesamteuropäischen Austeritätsregimes, das in einen autoritären Kapitalismus steuert.

Dieses Regime basiert auf sozialer und politischer Spaltung, die man medial gerne zwischen einer mediterranen „Peripherie“ und einem „Kerneuropa“ um Deutschland zieht. Entscheidend sind daneben jedoch Frankreich, dessen sozialdemokratischer Präsident sich mit einer Agenda der Indifferenz im demoskopischen Absturz befindet, und Italien, wo im Frühjahr 2013 Neuwahlen anstehen.

In diesem Szenario könnte der Aktions- und Solidaritätstag des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) einen Wendepunkt markieren. Denn bestenfalls eine Solidarität per Presseerklärung prägte bis dato das europäische Gewerkschaftsleben. Selbst dort, wo die Amputation des Europäischen Sozialmodells – Stichwort Rente mit 67 – von vornherein unter EU-Ägide organisiert worden waren. Eine Europäische Gewerkschaftspolitik gab es in den zurückliegenden fünf Jahren europäischer Krise und verschärfter Austeritätspolitik nicht. Mit einer klugen Politik der Gewerkschaften könnte dies anders werden.

Grundlagen sind am 14. November geschaffen worden

 In Spanien und Portugal legte ein 24-stündiger Generalstreik das öffentliche Leben weitgehend lahm; nicht nur im Verkehrsbereich, bei der Post, im Bildungsbereich und Krankenhäusern, sondern auch in den industriellen Zentren, wie VW-Seat, Opel und Nissan in Spanien; in Portugal war es der dritte, in Spanien der zweite Generalstreik in diesem Jahr. Allein in Madrid und Barcelona sollen 2 Millionen auf den Straßen gewesen sein

 In Griechenland wurde nach einem zweitätigen Generalstreik in der ersten Novemberwoche erneut für drei Stunden die Arbeit niedergelegt. In Belgien wurde der Bahnverkehr lahmgelegt und in Italien rief die CGIL zu vierstündigen Arbeitsniederlegungen auf; in Frankreich fanden Proteste unter der Losung „Für Beschäftigung und Solidarität – gegen Sparmaßnahmen“ statt. Und in Deutschland gab es Solidaritätsaktionen u.a. in Stuttgart, Berlin, Frankfurt, Kassel und München. In Großbritannien hatten am 10. Oktober über 100.000 gegen die Politik der ToryLibs demonstriert; einen „Generalstreik“ hat der TUC angekündigt.

Das war bei weitem noch nicht die Aufhebung der Spaltung in der europäischen Gewerkschaftsbewegung, die nicht nur zwischen den Gewinnern wettbewerbskorporatistischer Regime und Schuldnerstaaten verläuft, sondern  auch innerhalb der nationalen Gewerkschaftsverbände. Aber es kann der Beginn einer neuen Erzählung der europäischen Gewerkschaftsbewegung sein. Die Koordinaten haben sich verändert: Wer gegen das autoritäre Vergesellschaftungsmodell á la Fiskalpakt ist, sollte sich für ein wirtschaftsdemokratisch neu gegründetes Europa erwärmen.

Dazu ist nicht zuletzt konzeptionelle Arbeit zur Neugründung eines demokratischen Europas gefordert. Wenige Tage vor dem 14. November hatten sich in Florenz 4.000 Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen ausgetauscht und sich unter anderen auf einen „Alter Summit“ im Juni 2013 in Athen verständigt, in den die alternativen Agenden gegen die Fiskaldiktatur des EU-Krisenregimes einfließen sollen.

Der Zeithorizont für alternative Agenden für ein demokratisches Europa ist allerdings knapp bemessen. In zwei Jahren wollen Merkel/Schäuble ihr „Neues Europa“ implantiert sehen.

Der 14. November sollte der Beginn der Agenda eines Solidarischen Europa von Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Bewegungen sein. Die Aufgabe ist nicht leicht zu schultern: neben der Anti-Agenda geht es zentral um die Verständigung darüber, wie Beschäftigung von Nord nach Süd, West und Ost neu organisiert werden kann – kurz, wie eine neue solidarische Wirtschaftsordnung beschaffen sein muss, die einen historischen Fortschritt gegenüber der längst gescheiterten Lissabonner Wettbewerbsstrategie markiert. Eine Wirtschaftsordnung, die der arbeitslosen Jugend Zukunftsperspektiven eröffnet, indem sie darüber entscheidet, „was“, „wie“ und „wofür“ produziert wird.

Dieser Text wurde am 16.11.2012 veröffentlicht auf: www.sozialismus.de

 

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