Pragmatismus mit Prinzipien

Das Interview wurde von Robert Stark für neues deutschland (nd) geführt.

Ihre Partei, das Linksbündnis Vasemmistoliitto, ist im vergangenen Jahr als zweitkleinster Teil einer Fünf-Parteien-Koalition in die Regierung eingetreten. Wie viel Gestaltungsmacht gibt Ihnen das? 

Wir haben uns vor dem Eintritt in die Regierung eine Liste mit Punkten gemacht, die wir in jedem Fall durchsetzen müssen. Wenn ich mir die bisherige Agenda der Regierung ansehe, kann ich sagen, dass wir davon bereits eine Menge verwirklichen können. Viel Handlungsbedarf gibt es noch in Bezug auf Gesetzesvorhaben, die den Arbeitsmarkt betreffen. Wir wollen die Position von Prekarisierten und Arbeitsmigranten verbessern. Doch wir haben noch Zeit, daran zu arbeiten. 

Viele linke Parteien stehen einem Mitregieren skeptisch gegenüber. Die Mitglieder Ihrer votierten mit 97 Prozent für einen Eintritt in die Koalition. Ist die finnische Linke stark realpolitisch veranlagt? 

In gewisser Weise stimmt das. Aber wir waren in der Vergangenheit schon häufiger Teil von Regierungen, das ist nichts Neues. Wären wir frontal oppositionell aufgestellt, würde das bei unserer Wählerschaft nicht gut ankommen. Es gibt in Finnland einen gewissen Hang zum Pragmatismus. Aber noch wichtiger war der politische Kontext. Die rechte Koalition, die bis dahin regierte, hatte eine furchtbare Politik betrieben. Sie schadete dem Bildungswesen, den Arbeitslosen und den Asylbewerberinnen und Asylbewerbern. Die politische Atmosphäre im Land war deshalb sehr auf einen Regierungswechsel ausgerichtet. 

Welche Projekte außerhalb des von Ihnen verantworteten Bildungsressorts konnte das Linksbündnis bisher in dieser Regierung durchsetzen?

Wir haben eine wichtige Reform veranlasst, die bereits in unserer Wahlkampagne eine enorm große Rolle spielte. Dabei geht es um die Anzahl der Pflegekräfte in den Altenheimen. Außerdem sind wir dabei, endlich die schon zweimal verschobene Reform der öffentlichen Gesundheitsvorsorge durchzuführen. Wir haben die Grundrente erhöht, und wir haben die schlimmsten Reformen zurückgenommen, die unsere Vorgänger in Bezug auf die Arbeitslosen durchgesetzt hatten. Durchsetzen konnten wir auch Änderungen in Bezug auf die Elternzeit und die Einstellung von mehr Lehrkräften in der Berufsausbildung. 

Sie sind Finnlands Bildungsministerin. Ist das der Traumjob, nach dem er klingt?

Es ist tatsächlich ein Traumjob in dem Sinn, dass ich es mit Politik zu tun habe, die sich konkret auf die Zukunft bezieht. Verglichen mit den übergeordneten Themen, mit denen sich unsere Regierung beschäftigt, ist es für mich immer schön, mich mit den Projekten hier im Ministerium zu beschäftigen. Ich denke, die größte Herausforderung, die sich uns im finnischen Bildungssektor gerade stellt, ist der wachsende Trend zur Polarisierung innerhalb des Primarbereichs. Also der wachsende Unterschied zwischen den Schülerinnen und Schülern abhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Klassenzugehörigkeit wird ein größerer Faktor im finnischen Bildungswesen, obwohl unser Bildungssystem gerade in Bezug darauf, soziale Mobilität zu ermöglichen, einmal das Beste der Welt war. Für mich als Linke gehört es zu den wichtigsten Aufgaben, dieses Auseinanderdriften zu stoppen.

Da wir gerade über Chancengerechtigkeit sprechen: Wie hat sich das finnische Bildungssystem diesbezüglich während des Lockdowns bewährt, und wie lief es mit dem digitalen Unterricht? 

Alles in allem haben es die Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sehr gut gemacht. Das hat vor allem damit zu tun, dass wir schon in den letzten Jahren viel in die Lehrerausbildung investiert haben, auch in die Ausbildung für digitale Lernformate. Das hat sich in diesem Frühjahr ausgezahlt. Die Forschung stellt aber schon jetzt fest, dass dieser Lockdown einen polarisierenden Effekt haben wird. Wenn man sich die Lernergebnisse oder das Wohlergehen der Schüler anschaut, stellt man fest, dass diejenigen, die bereits vorher stärker auf Hilfe angewiesen waren, ihre Lernziele häufiger nicht erreicht haben. 

Ist die Lehrerausbildung auch dafür ausschlaggebend, dass das finnische Bildungssystem im internationalen Vergleich so gut abschneidet? 

Es hat sehr viel mit der Ausbildung zu tun, aber auch damit, wie dieser Beruf geschätzt wird. Alle Lehrkräfte benötigen einen Masterabschluss und ihr Beruf ist gesellschaftlich sehr anerkannt. Sie wirken in einem wirklich attraktiven Arbeitsumfeld, das zum Lernen motiviert. Man bekommt gute Lehrer, die wissen, was sie tun. Ein weiterer Faktor ist, dass unser Bildungssystem gut für alle ist. Man sieht bei uns nicht, wie beispielsweise in Schweden, dasselbe Maß an Schulshopping, dass Familien also dazu tendieren, sich Schulen herauszupicken. Im Gegenteil: Wenn man sich die letzten Pisa-Ergebnisse ansieht, dann hatten wir die niedrigsten Qualitätsunterschiede zwischen den Schulen. Die Probleme und Klassenunterschiede treten also offenbar innerhalb der Schulklassen zutage, nicht zwischen den Schulen. Und das ist sehr wichtig, weil es bedeutet, dass alle darauf vertrauen können: Die nächstgelegene Schule ist eine der besten Schulen der Welt. 

Sie streben an, die Schulpflicht bis zum Alter von 18 Jahren auszuweiten. Es gibt mehr Geld für die Universitäten und Fachhochschulen. Was können Sie noch für sich ihn Ihrem ersten Jahr als Bildungsministerin verbuchen? 

Eine wichtige Sache war, dass wir für arbeitslose Eltern von Kleinkindern das Recht auf Vollzeitbetreuung wieder installiert haben. Das war auch symbolisch sehr wichtig und korrigierte einen der furchtbarsten Fehler, den die vorherige rechte Regierung gemacht hat. Dann haben wir die Gruppengrößen in der Kleinkindbetreuung verringert, um dort die Qualität zu erhöhen. Mit all dem haben wir die Früherziehung verbessert. 

Sie haben viele Schulen besucht und sich mit vielen Schülerinnen und Schülern getroffen. Was war die beste Frage, die ein Kind Ihnen dabei gestellt hat? 

Also, die Kinder haben so viele gute Fragen, da fällt es schwer, eine hervorzuheben. Aber ich kann Ihnen die witzigste sagen. Im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Schulen im Mai für drei Wochen vor den Sommerferien bekam ich eine Menge Briefe von Zweitklässlern. Sie können sich das vorstellen: sehr große Buchstaben, bunte Farben. Es macht mich zur glücklichsten Ministerin der Welt, zu lesen, wie aufgeregt sie waren, weil sie wieder in die Schule und ihre Freunde treffen dürfen. Jedenfalls war es ein solcher Brief, der mit dem P.S. endete: »Und liebe Ministerin, könnten Sie mir bitte eine Dinosaurier-Spielfigur zusenden. Danke.« Ich mochte das wirklich, dieses forsche Ausprobieren. Ich meine, zu fragen kostet ja nichts. 

Hat der Junge seinen Dino bekommen? 

Nein, denn hätte ich ihm etwas geschickt, dann hätte ich der ganzen Klasse etwas schicken müssen. Ich wollte lieber fair bleiben. 

Sie haben sich früher für den Sechs-Stunden-Arbeitstag und die Vier-Tage-Woche eingesetzt. Ich nehme an, dass das in diesem Frühjahr für Sie kein Thema war. 

(Lacht.) Ja, zumindest in Bezug auf meine eigene Arbeitszeit. Ich unterstütze dieses Vorhaben noch immer. Wir haben ja in der Geschichte gesehen, dass die steigende Produktivität oft mit Forderungen nach kürzerer Arbeitszeit einherging. Diese Entwicklung ist vor einigen Jahrzehnten jedoch stehengeblieben. 

Könnten Sie Ihren Job denn in 30 Stunden in der Woche erledigen? 

Nein. (Lacht) Es wäre eigentlich ein interessantes Experiment zu sehen, was passieren würde, wenn hier alle Minister nur 30 Stunden arbeiten würden. Auf der anderen Seite ist das kein Job, sondern ein Mandat. Und dieses Mandat habe ich 24/7.

Die Coronakrise hat auch für Finnlands Ökonomie Konsequenzen. Mit welchen Folgen des Lockdowns rechnen Sie, und was sind in diesem Zusammenhang die Forderungen des Linksbündnisses?

Also, die Folgen werden natürlich davon abhängen, was für eine zweite Welle wir bekommen. Wir hoffen natürlich, dass es keinen weiteren Lockdown geben wird, sondern, dass wir uns mit regionalen Regulierungen behelfen können – aber das hängt von den Infektionszahlen ab. Aber bereits jetzt ist zu sehen, dass Europa und auch Finnland verstehen, dass Kürzungen kein Weg sind, eine Krise zu überstehen. Wir werden dieses Jahr ein Haushaltsdefizit von 20 Milliarden Euro haben. Aber das ist eben der Preis für die Finanzspritzen an Unternehmen, Kommunen und Schulen. Jetzt Kürzungen zu versuchen, wäre nicht besonders klug, denn in diesen Zeiten braucht es Stimuli für die Wirtschaft. 

Wie das neutrale Schweden kooperiert auch Finnland – unter anderem im Rahmen der Balticops-Übungen – eng mit der Nato. Was ist Ihre Position in der Debatte über einen finnischen Nato-Beitritt?

Meine Partei und auch ich selbst sind gegen einen Beitritt zur Nato. Angesichts von Finnlands geopolitischer Lage würde ein solcher unsere sicherheitspolitische Situation verschlechtern. Außerdem haben wir als sehr kleines Land als einzelne Stimme international eine viel bessere Sprecherposition, als sie ein kleines Land innerhalb eines so großen Verbundes wie der Nato hat. Wenn wir unsere Arbeit ordentlich machen, finden wir auf diese Weise mehr Gehör. 

Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? 

Keine Ahnung. Ich hoffe, ich habe dann immer noch ein gutes Gefühl dabei, und möchte weiter Politik machen. Ich habe mir immer gesagt, ich mache das so lange, wie ich mir sicher bin, dass ich es aus den richtigen Gründen tue. 

Wovon machen Sie das abhängig? 

Aus einer linken Perspektive ist es klar, dass der Punkt nicht sein kann, ob man an einer Regierung beteiligt, noch in diesen Räumen ist. (Zeigt im Büro umher.) Wenn eine politische Bewegung sich nur noch dadurch definiert, dass sie Macht ausübt, dann hat sie ihre Existenzberechtigung bereits verloren. 

Nach letzten Umfragen steht das Linksbündnis in der Wählergunst bei etwa 8 bis 9 Prozent der Stimmen. Wie ausbaufähig ist dieses Potenzial noch?

Es gibt ja Untersuchungen darüber, welcher Teil der finnischen Gesellschaft uns überhaupt theoretisch für wählbar hält. Uns ist klar, dass das längst nicht alle Finninnen und Finnen tun. Aber es sind weitaus mehr als der Teil, der uns momentan bereits wählt. Also muss es unser Ziel sein, das ganze Potenzial auszuschöpfen. Aber egal, was wir sagen, wie wir uns darstellen oder was wir fordern – alle werden wir nicht überzeugen können. 

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