Unfähigkeit Widersprüche anzunehmen, ist immer das zuverlässigste Zeichen einer geistigen Krise. So war der rechte Flügel der Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts so sehr vom automatischen Aufstieg zum Sozialismus überzeugt, dass er vom Chauvinismus, der vor dem Ersten Weltkrieg die Massen erfasst hatte, überrannt wurde. So die kommunistische Weltbewegung, die sich in den 70er-Jahren auf der Siegerstraße wähnte und übersah, dass es gerade die von ihr konstatierten Krisen des Kapitalismus waren, die die Energien generierten, an denen der reale Sozialismus zugrunde ging.
Idealismus versus Realismus?
Ein ähnliches Bild heute in den linken Debatten zur Krise in Belarus. Die einen, die sich an den Tausenden berauschen, die gegen Wahlbetrug und Repression protestieren. Was nach dem Sturz des Despoten kommen soll, bleibt unbesprochen, wahrscheinlich, weil man – zurecht – annimmt, dass die Agenda dafür bereits bereitliegt, nicht in Minsk, aber in Brüssel, Berlin oder Washington. Die anderen, die nicht das aufbegehrende Volk, sondern nur „eine imperialistische Verschwörung“ sehen und auf die Gefahr einer weiteren militärischen Einkreisung Russlands aufmerksam machen.
Stehen sich also libertäre Idealisten und außenpolitische Realisten gegenüber?
Widerspruch in der Wirklichkeit
Statt ideologische Kämpfe zu führen, sollte man den Widerspruch zur Kenntnis nehmen, der offensichtlich zwischen dem demokratischen Begehren und den ungeschriebenen Gesetzen der weltpolitischen Stabilität besteht. Ein Widerspruch nicht nur in der Interpretation der Ereignisse, sondern vor allem in der Wirklichkeit – und der für die komplizierte Übergangszeit, in der wir leben, charakteristisch ist.
Bruttoinlandsprodukt und Lebensstandard in Belarus entsprechen dem von Polen, Litauen und Lettland, die Mitglieder der EU sind. Es kann also nicht ein Wohlstandsversprechen sein, das die Menschen auf die Straßen bringt. Offensichtlich aber befeuert ein bestimmter, wenn auch noch immer bescheidener Lebensstandard das Streben nach Demokratie und setzt die Vollendung der durch die Sowjetherrschaft abgebrochenen bürgerlichen Revolutionen auf die Tagesordnung.
Worin besteht die Möglichkeit der Emanzipation, fragte Marx 1844 in seinem berühmten Text „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Und er antwortet: Im Entstehen einer Klasse, die nicht nur im Gegensatz zu den bedrückenden politischen Formen, sondern auch zu ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen steht. Das heißt, in einer politischen Bewegung, die ihre eigene Agenda im Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit aufstellt, vor allem aber auf den Verlauf der Ereignisse Einfluss ausübt.
Die Lösung des Widerspruchs liegt in der Praxis. Sie kann nur in Belarus gefunden werden. Ratschläge von außen können nicht helfen. Trotzdem gibt es eine internationale Dimension und eine internationalistische Verantwortung.
„Die russische Welt“
Wie antwortet die kommunistische Linke, die vor allem in Russland noch eine politische Kraft darstellt? In einem Treffen der KP-Vorsitzenden aus Belarus, der Ukraine und der russischen Föderation warnte deren Vorsitzender, der Westen beabsichtige, die „russische Welt“ zu zerstören. Die „russische Welt“! Doch dieses Phantasma wärmt im Winter keine Wohnungen und ist auch kein Ersatz für demokratische Verhältnisse.
Richtig, das heutige Russland hat ein Recht auf sichere Grenzen, und die konfrontative Politik der NATO gegenüber Russland hat die Kriegsgefahr in Europa wieder ansteigen lassen. Doch so ehrlich muss man sein: Die repressiven Regimes im post-sowjetischen Raum, die ihren Völkern jene demokratischen Freiheiten verweigern, die anderswo von der sozialistischen Bewegung in schweren politischen Kämpfen vor und nach dem Ersten Weltkrieg erkämpft wurden, sind ebenfalls Faktoren der Instabilität. Eine internationale Ordnung, die auf innenpolitische Repression aufgebaut ist, ist auf Sand gebaut.
Unsere Aufgabe kann nichts Anderes sein, als sich gegen jede ausländische Einmischung in die politischen Prozesse dieser Länder zu wenden. Aber ich meine nicht, dass sich die sozialistische Linke gegenüber den nachholenden, bürgerlichen Revolutionen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion konservativ verhalten soll. Die Verteidigung von Despotien kann nicht die Politik der Linken sein.
Wir leben in bewegten Zeiten. Ein Schema, das für alle vergleichbaren Situationen gelten würde, gibt es nicht. Konkrete Einschätzung, eigenes, den Widersprüchen Rechnung tragendes Denken ist gefragt.
À propos, „Farbenrevolutionen“, Rot ist auch eine Farbe.