Strategien der Linken in einer prekären Welt

Die schwedische Mitgliedsorganisation des transform! Netzwerkes, das Zentrum für marxistische Gesellschaftsstudien (CMS), hat am 16. Februar 2013 ein Seminar zu linken Strategien in einer prekären Welt organisiert. Es wurde im Kafe Marx abgehalten, der Parteizentrale der schwedischen Linkspartei, wo auch das CMS-Büro einquartiert ist. Referent_innen aus ganz Europa gaben Inputs aus verschiedenen Perspektiven.

Definition und Hintergrund von „Prekarisierung“

Mikko Jakonen, ein finnischer Akademiker und Aktivist, erläuterte den Begriff Prekarisierung und präsentierte einen theoretischen Rahmen. Prekarisierung als zunehmende Verunsicherung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen und der Abwesenheit von Arbeitsschutz und –rechten ist kein „neues“ Phänomen, sondern vielmehr ein altbekanntes. Der konkrete Hintergrund heutiger Prekarisierung ist der Wandel von einer fordistischen zu einer postfordistischen Gesellschaft, der Umbau von Wohlfahrts- zu möglichst schlanken Sozialstaaten, die Neoliberalisierung von Arbeit und Leben.
Ein Hintergrund sind auch der Aufstieg von Wissensarbeit und der Fall von Industriearbeit in den westlichen Gesellschaften bei zunehmender „Proletarisierung“ der Mittelschicht; ganze Generationen bilden nun das neue prekäre Proletariat.
Neue Produktionsformen werden entwickelt und neue Produkte,  IT oder Kreativindustrie zeigen eine Öffnung der Produktionsprozesse und eine „Flucht aus der Fabrik“, welche ein attraktives Moment darstellt und Möglichkeiten birgt. Gleichzeitig bringt dies aber auch eine neue Zeitorganisation, häufig vermischen sich Arbeits- und Freizeit und der ganze Tag ist Produktionszeit.
All das wird begleitet von einer Krise linker Politik und Gewerkschaften („wie die Klasse organisieren“) wie auch von einem Generationenunterschied (die ältere, politisch organisierte Generation und die junge, prekarisierte, unorganisiserte Generation).
Die moderne “Prekarisiertenbewegung” nahm ihren Ursprung 2003 in Italien, initiiert von den “Kettenarbeiter*innen” wurde der “EuroMayDay” ins Leben gerufen. Die prekären Paraden am ersten Mai verbreiteten sich recht schnell über Europa und hatten wenig zu tun mit den traditionellen Arbeiter*innen-Maiaufmärschen, sie waren ausgelassen, queer und unkonventionell. In diesen Mobilisierungen begann sich eine neue Arbeiter*innensubjektivität zu manifestieren – ein Slogan war “Das Prekariat ist das neue Proletariat”. Die Frage kam auf, ob ein Kampf geführt werde solle um die alten Rechte, und ob traditionelle Jobs für alle zu erkämpfen seien oder doch lieber komplett neue Rechte.
Für junge Leute ist prekäre Arbeit mittlerweile zur natürlichen Form von Arbeit geworden. Die Ideologie des Neoliberalismus, dass allen alle Möglichkeiten offen stünden, trifft auf manche tatsächlich in einem gewissen Grad zu.  In einer Hierarchisierung des Prekariats gibt es auch Gewinner*innen und Verlierer*innen. Die neue Mittelschicht ist jung, flexibel und atypisch beschäftigt. Die neue Arbeiter*innenklasse hat jedoch gar keine Rechte mehr. Solidarität, Organisierung und kollektive Arbeitskämpfe werden schwierig oder nahezu unmöglich: Am prekären Arbeitsmarkt kämpft jede*r gegen jede*n.
Um die Individualisierung und Isolation zu verhindern und Zeit für Selbstermächtigung und Organisierung zu haben, ist eine der zentralen Forderungen der Prekarisiertenbewegung das bedingungslose Grundeinkommen gewesen.
In Anlehnung an dasselbe hat die österreichische KP ein Energiegrundsicherungskonzept erstellt. Barbara Steiner von transform!at hat diese Strategie zur Bekämpfung der wachsenden Energiearmut, also Probleme, die grundlegenden Bedürfnisse an Energie zu decken, kombiniert mit ökologischen Fragen.
Ein wachsendes Problem ist die Privatisierung von öffentlichem Wohnbau. Edvin S. Frid präsentiert seine Studie zur Wohnungssituation in Stockholm. Die herrschende Politik, nicht neue Wohnungen zu bauen, sondern die alten Gemeindebauten an Private zu verkaufen, zur Miete oder – häufiger – zum Umbau in Eigentumswohnungen, führt zu steigenden Preisen und Mieten, zu Wohnungsnot und ethnischer und sozialer Segregation.
Dass die Organisierung von prekär Beschäftigten schwierig ist, wurde oben erwähnt. Ein erfolgreiches Beispiel präsentierte Erik Helgeson: die Arbeitskampfstrategien der Gelegenheitsarbeiter*innen im Hafen von Götborg. Die Gelegenheitshafenarbeiter*innen stellen eine einzigartige Form von temporärer Beschäftigung in Schweden dar, sie können als Einzige auf dieser temporären Grundlage dauerhaft angestellt werden. Die Dockarbeiter*innen haben ein System zur Verteilung der Arbeit entwickelt, das ihnen Unabhängigkeit von den Arbeitgeber*innen gewährleisten soll. Die Arbeit wird anhand einer Liste aufgeteilt, die Arbeiter*innen kommen im Rad und abhängig mit Alterspriorität (in Häfen gibt es keine Lohnsteigerung bei langjähriger Betriebszugehörigkeit) an die Reihe.
Cornelia Hildebrandt von der Rosa Luxemburg-Stiftung präsentierte die deutsche Situation nach zehn Jahren neoliberalen Gesetzen und in der Krisenzeit. In Deutschland herrscht der Diskurs „wir sind die Gewinner*innen der Krise“. Die Deutschen sind weniger von einer aktuellen Krise getroffen, sondern vielmehr schon seit Jahren in einer permanenten Krise und Belastungsphase. Der neoliberale Umbau durch die Sozialdemokratie brachte die Löhne zum Stagnieren, destabilisierte die soziale Sicherheit; die meisten der neu geschaffenen Stellen sind temporäre Jobs, in der Exportindustrie (der Basis des “deutschen Wunders”) ist es mit 15% der höchste Anteil.
Stavros Panagiotidis vom Nikos Poulantzas-Institut gab einen umfassenden Überblick über die rasante Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung und Abschaffung der wichtigsten Arbeitsrechte in Griechenland seit Beginn der Krise und durch die Austeritätmaßnahmen der Troika. Die zahlreich gegründeten Solidaritätsnetzwerke, die sich nicht als Wohlfahrt, sondern kollektiv widerständige Selbsthilfeorganisationen verstehen, seien Laboratorien einer selbstermächtigten neuen Politikform.
Christina Andrade von cul:tra präsentierte einen kurzen Überblick über die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung in Portugal um ging dann näher auf die jüngeren Organisierungen des Prekariats und der Proteste gegen die autoritären Krisenbewältigungspolitiken ein. In Portugal begannen schon 2003 die Aktionen und die Bewegung der Prekarisierten. All die Tendenzen der Prekarisierung nahmen noch weiter zu in der Krise und im Rahmen der Austeritätsprogramme der Troika. Aber auch die Mobilisierung und die Proteste erreichen ungekannte Ausmaße, 2012 wurden zwei Generalstreiks abgehalten, was vielleicht im Vergleich zu Griechenland nicht viel erscheint, aber immerhin im Vergleich zu der Periode in Portugal zwischen dem Ende der Diktatur und 2012 viel ist, in der auch lediglich 2 Generalstreiks abgehalten wurden.  

Finden Sie rechts einige Seminarbeiträge (Dokumentation).

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