Nach beinahe vier Monaten Krieg in der Ukraine, ist es, denke ich, an der Zeit: Wir müssen einen Schritt zurück treten und uns ansehen, welche:r der involvierten Akteur:innen einen Nutzen aus dem Konflikt zieht. Dann wird jedoch schnell klar, dass wirklich niemand etwas davon hat und dass wir Zeug:innen des Selbstmords der Vernunft sind.
Akteur 1: Putin. Er hatte zwei Ziele: Erstens, in das Forum der Weltspitzenpolitiker:innen (nach seinem Ausschluss aus den G8) zurückzukehren – jetzt wird er jedoch für alle Ewigkeit davon ausgeschlossen bleiben. Und zweitens, „das russische Volk zu vereinigen“, das nun über Generationen hinweg entzweit bleiben wird. Und auf die lange Frist drängte er Russland in Chinas Abhängigkeit. Bravo!
Akteur 2: Biden. Mit seinem Aufstieg zum großen Anführer des Westens hoffte er, seine Beliebtheitswerte zuhause zu verbessern. Das Ergebnis: Seine Zustimmungsrate stieg von 42% auf 43%. Biden ist eine Eintagsfliege, da er bereits im November zur Lame Duck werden wird, weil er die Mehrheit im US-Kongress verlieren wird. Seine Wiederwahl 2024 scheint äußerst unwahrscheinlich. Er hat also sein erstes Ziel verfehlt. Und langfristig gesehen hat er Russland in die Arme Chinas getrieben, den eigentlichen Gegenspieler der USA. Er nennt Putin einen Kriminellen, obwohl Washington – genau wie Moskau – nie das Übereinkommen über Streumunition unterzeichnet hat, und wirft Russland aber den Einsatz solcher Munition vor. Bravo!
Akteur 3: EU. Durch großangelegte Aufrüstungspläne machen wir Deutschland nicht nur wieder zu einer wirtschaftlichen Großmacht, sondern auch zu einer militärischen: Deutschland will in den kommenden fünf Jahren 100 Milliarden Euro in Aufrüstung investieren. Es scheint, als hätten wir die beiden Weltkriege vergessen; auch der französische und britische Nationalismus werden wieder verstärkt Zuspruch erfahren. Wir haben ein Ungleichgewicht in die Europäische Union gebracht und erleben nun ernste Probleme in der Nahrungsmittel-, Energie-, Rohstoffproduktion, leiden unter Inflation und BIP-Rückgängen. Die weniger wohlhabenden Teile der europäischen Bevölkerung werden die Folgen ausbaden müssen – die nächsten drei Jahre über oder auch länger. Und langfristig gesehen haben wir Russland aus Europa hinausgedrängt. Bravo!
Akteur 4 ist Selenskyj, den wir zu einem Helden stilisiert haben. Er ist nun Gefangener seiner Rolle und kann keinen Kompromiss eingehen. Er kann sogar einen Besuch des deutschen Präsidenten ausschlagen, weil Scholz – in Selenskyjs Augen – pro-russisch eingestellt ist. Wir haben also Selenskyj zum Richter der Welt auserkoren. Dies wird Tausende von Opfern fordern, aber wie Bertolt Brecht bereits sagte: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Bravo!
Und reden wir über die Menschheit, die keine Akteurin ist, sondern ein Opfer. Der Kampf gegen den Klimawandel wurde nun auf die lange Bank geschoben. Mit dem Geld, das in den Selbstmord der Vernunft gesteckt wird, hätten wir alle vom IPCC (Weltklimarat) genannten Probleme, die unsere Existenz auf der Erde bedrohen, aus der Welt schaffen können und das kleine Fenster, das wir haben, bevor sich das Weltklima um 1,5° erhöht, schließt sich immer mehr.
Es gibt 800 Mio. Menschen auf der Welt, die am Rande der Armut leben und die bereits unter der Pandemie gelitten haben. Für sie bedeutet ein Preisanstieg um 20% bei Weizen und um 25% bei Mais schlicht und einfach Hunger. UNICEF verlautbarte vor kurzem, dass sich die Anzahl der hungernden Kinder in Afrika auf nunmehr 28 Mio. belaufe; die Gelder der europäischen Entwicklungsfonds nun aber in die Ukraine fließen würden.
Kurz gesagt, ich sehe das alles als Wahnsinn, der von Schlafwandler:innen angerichtet wurde. Als solche bezeichnen Historiker:innen auch die Akteur:innen des Ersten Weltkriegs, die ohne Nachzudenken in den Konflikt eintraten. Dieser Wahnsinn führte zum Ende aller involvierten Reiche; des deutschen Reichs, des russischen Reichs, des österreichisch-ungarischen Reichs und des Osmanischen Reichs.
Das tatsächliche Problem ist, dass wir es mit einer testosterongesteuerten herrschenden Klasse zu tun haben, die es nicht schafft, langfristig zu denken oder langfristige Probleme anzugehen und deren Komplexität zu erkennen (die Welt ist eben nicht immer nur schwarz oder weiß). Stattdessen treten wir immer wieder in die Falle, uns entweder als Putin-Unterstützer:innen oder Putin-Gegner:innen hinstellen zu lassen, was zur verbreiteten Hysterie beiträgt, die die Medien nur zu gern für ihre Zwecke nutzen. Im Großen und Ganzen lassen die Medien auf spektakuläre Weise Professionalität vermissen. Nachrichten werden einfach als Serie von Ereignissen dargestellt und fast nie als eine Entwicklung.
Ich glaube, wir haben den Kompass verloren. Wann werden wir damit beginnen, Toleranz und Dialog als Hauptinstrumente einzusetzen, um Frieden zu schaffen? Es gibt ein altes Sprichwort: Wen die Götter vernichten wollen, den machen sie zuerst wahnsinnig.