Walter Baier kommentiert im Namen von transform! europe das Abschlussdokument des 6. Europäischen Forums, das im Oktober in Athen stattfand.
In letzter Zeit haben Wissenschafter:innen verstärkt darauf gedrängt, in Bezug auf die Klimakrise vom Worst-Case-Szenario auszugehen, also eine Erderwärmung von 2,1 bis 3,9 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts anzunehmen.
Ist es nicht paradox, wie zögerlich die Industrieländer bei der COP 26 eine jährliche Zahlung von 100 Milliarden USD an die Entwicklungsländer zusagten, während sie 2.000 Milliarden USD und damit das 20-Fache in Rüstung investieren – Geld, das für die grüne Transformation nötig ist, aber für die Zerstörung von Mensch und Natur ausgegeben wird.
Wie Greta Thunberg zu Recht sagt: Wie können sie es wagen!
Die Aggression der Russischen Föderation ist ein krimineller Akt, ein Verstoß gegen das Völkerrecht und die UN-Charta, der von der UN-Vollversammlung klar verurteilt wurde. Sie ist eine Tragödie, in erster Linie für die ukrainische Bevölkerung, aber auch für die Menschen in Russland, die für das kriminelle Wagnis ihrer politischen Führung einen hohen Preis zahlen. Wir verurteilen den Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine und die Annexion von ukrainischem Territorium!
An der Front fallen täglich 300 bis 500 ukrainische Soldat:innen. Jeden Tag sterben fünf Kinder im Raketen- und Granatenhagel, 14 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Tausende junger russischer Männer, die versuchten, sich der Dienstpflicht in einem ungerechten Krieg zu entziehen, wurden an den Grenzen aufgegriffen.
Wie lange soll dieses Gemetzel noch andauern? Für uns als Sozialist:innen, Kommunist:innen, Grüne und Linke kann es nur eine Position geben: Wir müssen an der Seite der leidenden ukrainischen Frauen, Männer und Kinder stehen, an der Seite der mutigen jungen Russ:innen, die sich dem Krieg widersetzen, und an der Seite der Geflüchteten und Deserteur:innen auf beiden Seiten. Es gibt nichts Wichtigeres, als die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten als ersten Schritt zur Aufnahme von Friedensverhandlungen und den Abzug der russischen Truppen zu fordern.
Eine Überlegung zum globalen Kontext
Im vergangenen Jahr waren weltweit 828 Millionen Menschen von Hunger betroffen. Jedes dritte Land der Welt ist von Wasserknappheit bedroht. Mehr als vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu irgendeiner Art von sozialem Schutz. Verdienen diese Menschen denn kein menschenwürdiges Leben? Ist es nicht das, worum es bei Sicherheit geht?
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, hat darauf hingewiesen, dass die durch den Krieg verursachten Schäden in Dutzenden von Entwicklungsländern zu spüren sind, Millionen Menschen in extreme Armut und Hunger treiben und jahrelange Entwicklungsfortschritte zunichtemachen.
Wir verurteilen die Aggression der Russischen Föderation, weil sie das Völkerrechts verhöhnt, das nicht nur eine der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften ist, sondern auch die unabdingbare Voraussetzung für die Veränderung unserer unerträglichen Situation. An dieser Stelle kann es kein „Aber“ geben. Unsere Haltung in dieser Hinsicht ist klar und eindeutig.
Leider verkannte Frau von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union im September die akute Gefahr, in der wir uns befinden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen warnte in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats: „Die Aussicht auf einen nuklearen Konflikt, einst undenkbar, ist jetzt wieder im Bereich des Möglichen.“ In der Tat droht Russland mit dem Einsatz von Kernwaffen, während auf der anderen Seite die NATO den Atomkrieg gerade auf europäischem Boden probt – in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Italien.
Das ruft uns etwas in Erinnerung, das wir im letzten Jahrhundert hätten lernen sollen: Das größte Risiko für die globale Sicherheit geht von den Atomwaffenarsenalen aus, die derzeit umfassend modernisiert werden.
Die Gefahr einer gegenseitigen Zerstörung besteht für die gesamte Weltbevölkerung. Aus diesem Grund haben die Nicht-Atomwaffenstaaten im Rahmen der Vereinten Nationen dem Atomwaffenverbotsvertrag zugestimmt, der die Entwicklung, die Produktion und den Einsatz von Kernwaffen sowie die Drohung damit verbietet und inzwischen geltendes Völkerrecht geworden ist.
Ein europäisches Sicherheitssystem ohne die NATO
Jetzt bietet sich eine einmalige Gelegenheit, die nukleare Gefahr zu beseitigen, und wir müssen von der EU und den Staatsregierungen fordern, dass sie den Vertrag unterzeichnen und ratifizieren und so den Weg für einen atomwaffenfreien europäischen Kontinent ebnen.
Wir brauchen ein europäisches Sicherheitssystem, das die NATO nicht ist und niemals sein kann. Nicht aus doktrinären Gründen, wie manche behaupten, sondern weil Sicherheit immer auch die Sicherheit der anderen ist, also Sicherheit nur durch ein System gewährleistet werden kann, das alle relevanten Akteur:innen einschließt und ihre Interessen berücksichtigt. So gesehen ist die NATO weder Teil der Lösung noch Teil des Problems: Sie ist das Problem. Sie ist ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einem solchen europäischen Sicherheitssystem.
Es war Papst Franziskus – der erste Papst aus dem Globalen Süden –, der erklärte, der Krieg sei eine Kapitulation der Politik. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu reagieren, indem wir die Politik des Friedens neu beleben. Das bedeutet, für einzelne konkrete Schritte zur Entspannung zu kämpfen, wie es in der pragmatischen Ostpolitik der 1970er-Jahre der Fall war.
Wir müssen von unseren Regierungen fordern, dass sie mehr tun, als Waffen an die Ukraine zu liefern. Wir müssen praktische Initiativen zur Beendigung des Krieges fordern, um einen Waffenstillstand zu erreichen, der zum Abzug der russischen Truppen führt. Auch nach Kriegsende wird die ukrainische Bevölkerung weiter darauf bestehen, als freier Nationalstaat mit Würde anerkannt zu werden, und sie hat jedes Recht dazu, genau wie die palästinensische, die kurdische, die irische und die zypriotische Bevölkerung. Russland wird eine atomar bewaffnete europäische Macht bleiben und muss, ob es uns gefällt oder nicht, ebenfalls Teil einer Sicherheitsarchitektur sein.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine persönliche Bemerkung zu den Wirtschaftssanktionen, die die EU, die NATO und die G7 als Vergeltung für den russischen Angriff verhängt haben und auf die Russland reagiert hat, indem es eine kalkulierte Energieknappheit erzeugte. Wir sollten uns nicht darüber zerstreiten, ob die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind, die Richtigen treffen und ob sie unseren Ländern mehr schaden als Russland oder nicht. Die einfache Wahrheit ist: Um sie zu beenden, müssen die Waffen zum Schweigen gebracht werden.
Wir gelangen immer wieder zum selben Schluss
Wir verurteilen die Aggression der Russischen Föderation und die Annexion von ukrainischem Land. Angesichts all der menschlichen Verluste, der verheerenden globalen Folgen und der Gefahr einer weiteren Eskalation unter Einsatz von Kernwaffen sind die Politik, die Diplomatie und der Dialog gefragt. Das ist es, was wir von der Europäischen Union und unseren Regierungen erwarten.
Während des Europäischen Forums in Athen haben wir eine umfangreiche politische Agenda aufgestellt, die in der Abschlusserklärung nachgelesen werden kann. Wir werden unser Engagement für den Frieden am 8. März, am 1. Mai und am 8. Mai 2023 demonstrieren – dem Tag, an dem wir der Befreiung Europas vom Faschismus gedenken. Zudem sollten wir den wunderbaren Vorschlag unserer Freund:innen in der Friedensbewegung aufgreifen und für Weihnachten – oder noch besser für die beiden Weihnachtsfeste der katholischen und der orthodoxen Kirche – einen Waffenstillstand fordern.
Der langen Rede kurzer Sinn: Alles, was wir sagen, ist: Give peace a chance – gebt dem Frieden eine Chance!
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