Walter Baier legt eine Darstellung des Marxismus vor: Ausgehend von der kommunistischen Idee des Gemeineigentums, die in die Antike zurückreicht, über die klassische deutsche Philosophie und die englische politische Ökonomie werden zentrale Begriffe des Denkens von Karl Marx vorgestellt. Lesen Sie hier eine Rezension von Michael Graber.
»Hatte Marx doch recht?«, titelte der Spiegel in der ersten Ausgabe dieses Jahres. Die Titelstory hatte dann zwar wenig mit Marx zu tun, vielmehr ging es darum, angesichts der ökologischen Krise kapitalismusverträgliche Reformen zu diskutieren. Es ist auch nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass ein bürgerliches Leitmedium auf Marx verweist, um Kritik am derzeitigen Zustand der kapitalistischen Weltgesellschaft zu akzentuieren, ohne jedoch wirklich auf marxistische Analysen einzugehen. Da das Studium der Marx’schen Originaltexte stets auf einen begrenzten Kreis von Interessent:innen begrenzt blieb, entstanden schon vor Jahrzehnten, nicht zuletzt im Zuge der Marx-Renaissance in Verbindung mit der 68er-Bewegung, populäre Einführungstexte in das Theoriegebäude des Marxismus. Ein Beispiel dafür sind die von den damaligen KPÖ-Intellektuellen Ernst Fischer und Franz Marek verfassten Bücher »Was Marx wirklich sagte« (1968) und »Was Lenin wirklich sagte« (1969). Seither erschienen auch zahlreiche Einführungen in »Das Kapital«, die die »Kapital«-Lesekreise der folgenden Jahrzehnte begleiteten.
In gewisser Weise setzt Walter Baier – ehemaliger Vorsitzender der KPÖ, ehemaliger Koordinator des europäischen Netzwerks transform! europe und seit Dezember Präsident der Europäischen Linkspartei – mit seinem Ende 2022 erschienenen Buch »Marxismus. Geschichte und Themen einer praktischen Theorie« diese Tradition fort. Auf 300 Seiten stellt er philosophische Grundthesen, ökonomische Analysen und politische Theorien von Marx und Engels vor und diskutiert diese. Weiterführende Kapitel behandeln die Themen Imperialismus, Staatstheorie, Stalinismus und die Entwicklung der kommunistischen Bewegung, Faschismustheorien sowie Grundfragen der heutigen Entwicklung der Gesellschaft, einschließlich Exkurse über Religion sowie Ökosozialismus. Baier lässt dabei auch Autor:innen aus nichtkommunistischen Traditionslinien zu Wort kommen, neben Austromarxisten etwa auch Papst Franziskus, der sich über die Krise des Kapitalismus und deren Zusammenhänge zu ökologischen Fragen äußerte. So besteht das Buch zu einem großen Teil aus über 500 Zitaten, die aber – so Baier im Vorwort – »nicht die Auseinandersetzung mit den Quellen ersetzen, sondern auf sie Lust machen sollen«.
Es lässt sich trotz aller Bemühungen um eine verständliche Sprache, die für ein einführendes Buch angemessen ist, nicht leugnen, dass auch bei Baier die ökonomischen Teile am schwierigsten zu verarbeiten sind, wird doch der Marsch durch die drei Bände des »Kapital« auf 80 Seiten komprimiert. Das liegt jedoch weniger am Autor, sondern am zu vermittelnden Inhalt. Baier räumt selbst ein, dass der Feminismus, über den ein eigener Abschnitt geplant war, in seinem Buch zu kurz kommt und verspricht diesen im Falle einer Neuauflage nachzuholen.
Da es heute keine institutionelle politische Autorität gibt, die dem Marxismus politische Verbindlichkeit verleihen kann, wie dies im 20. Jahrhundert in der Arbeiterbewegung der Fall war, stehe, so Baier, die praktische Anwendbarkeit marxistischer Methoden bei der Untersuchung der Wirklichkeit auf dem Prüfstand. »Könnte der Marxismus den sozialen Bewegungen die Lingua franca (die Verkehrssprache) bereitstellen?«, fragt Baier, wie dies etwa früher für marxistische Begriffe wie Imperialismus, Ausbeutung, Entfremdung, Hegemonie etc. der Fall war, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind.
Baiers Buch ist sowohl jenen zu empfehlen, die sich erstmals mit Grundlagen und Geschichte marxistischen Denkens und Diskurse befassen, aber auch all jenen, die Anregungen für weiterführende und aktuelle Fragestellungen suchen; nicht zuletzt aber auch linken und kommunistischen Pragmatiker:innen, die sich ihres historischen und weltanschaulichen Erbes und dessen Herausforderungen vergewissern wollen und sollen.
Walter Baier: Marxismus. Geschichte und Themen einer praktischen Theorie.
Wien: Mandelbaum Verlag 2022, 312 S.,
ISBN: 978385476-912-5,
Preis: 22 Euro
Zu bestellen auf der Website des Mandelbaumverlags und im Onlineshop des ÖGB Verlags.
Ursprünglich veröffentlicht in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift “Volkstimme”.